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3. Pacht-Vertrag.
ОглавлениеZwischen dem Verpächter Landmann Philipp Wolter, wohnhaft zu Hohenfelde, und Herrn Arthur Reschke, Berlin, Novalisstraße 25, Hof 2, Quergebäude IV. Stock, ist unter Heutigem folgender Vertrag geschlossen worden:
»Wolter verpachtet von seinem am Pechpfuhl, seitlich der Chaussee Hohenfelde-Briefewerder gelegenem Ackerland, vom 1. Juli 1911 bis 30. Juni 1912 Herrn Arthur Reschke fünfundzwanzig Quadratruten, pro Rute neunzig Pfennig, für den Gesamtbetrag von zweiundzwanzig Mark fünfzig Pfennige jährlich. Der Pachtbetrag ist im voraus zu zahlen.«
Er war bezahlt! Mine Reschke starrte auf das unterzeichnete Formular in ihrer Hand. Das hatte Arthur eben vor sie hingelegt. Aber sie buchstabierte nichts heraus, vor ihren Augen verschwamm alles. Also nun war’s wirklich wahr, daß sie draußen ein Land hatte, auf dem sie säen und pflanzen konnten, und ernten, ganz wie sie wollten?! Sie stieß einen Ton aus, wie ihn ihre vier Wände noch nie von ihr gehört hatten – Jubel.
Arthur lachte. »Na, du tust ja, als hättste ’s große Los gewonnen. Was denkste dir denn? Man bloß ’n kleines Stückchen!«
Was tat das?! Und wäre es drei Schuh breit und drei Schuh lang, nur eine Handvoll Erde, es war ihr Land, ihr eigenes Land! Darauf konnte sie schaffen wie sie wollte, darüber hatte kein Mensch, nur Gott im Himmel ein Wort zu sprechen!
»Na ja, na ja«, sagte Arthur. »Haste denn aber auch gelesen, was da noch steht?« Er tippte auf den Vertrag: »Pacht-Vertrag. Und ›bei Handlungen gegen die Bestimmungen des Vertrages ist derselbe aufgehoben und hat Pächter das Land innerhalb acht Tagen zu räumen‹.«
Sie war unruhig geworden, beängstigt sah sie ihn an.
Er klopfte sie. »Na, na, so schlimm ist es ja nich. So lange wir die paar Groschen Pacht zahlen – die spielen ja gar keine Rolle – ist es so gut wie unser. Es ist unser!«
»Mutter«, sagte Frida, und sah von der Nähmaschine, die sie sich dicht ans Fenster gerückt hatte, zu ihnen hin, »nimm doch mein Geld. Ich brauch es ja nicht. Wenn du das noch zu hast, denn kannste ja gleich fest kaufen!«
Die Mutter wies das Anerbieten ab. »Das, was mein Kind sich erspart hat, wer’ ich ihm doch nich verbrauchen!«
Arthur war anderer Meinung. »Haben wir uns denn nich für Frida’n genug quälen müssen? Es is ganz in der Ordnung, wenn sie nu für ihre Eltern was tut. Haben wir nicht für sie gearbeitet Tag und Nacht?«
Es war eine etwas erstaunte Frage in dem Blick, mit dem Frida Reschke ihren Vater maß: der für sie gearbeitet Tag und Nacht? Aber dann fiel ihr Blick auf die Mutter, und es schimmerte feucht unter ihren blonden Wimpern. Sie stand auf, ging nach der ernüchtert dastehenden Frau hin und legte ihr den Arm um die Schultern: »Mutter, ja darin hat Vater recht: du hast dich für mich gequält, gearbeitet Tag und Nacht. Nimm doch mein Geld, ich bitte dich, was soll ich denn damit?!«
»Sie borgt’s uns ja nur«, sagte Arthur.
»Nein.« Mine blieb fest. »Dein Geld gebrauchste mal for deine Ausstattung, Fridchen. Wenn wer nich kaufen können, pachten wer eben. Un ’s tut auch ganz gutt so sein. Aber ich dank der scheene, du bist mein guttes Mädel!« Sie strich der Tochter mit der rauhen Hand ganz zart übers Haar.
Arthur räusperte sich. Das wußte er ja, die zwei hielten immer zusammen, gerade darum hätte Mine das Geld ruhig nehmen können. Zu dumm! Lächerlich! Na, wenn sie denn nicht wollte! Er fing an zu pfeifen. Heute war Sonntag, das Wetter wunderschön. »Denn zieht euch man fix an. Denn woll’n wir gleich nach ’m Essen mal rausfahren nach Hohenfelde. Denn sollt ihr aber mal sehn!«
Arthur hatte die Sache in die Hand genommen gehabt. Er allein hatte bisher sich draußen umgesehen und auch den Platz ausgesucht. Ein Bekannter von ihm, ein gewisser Bernhard, der öfters im Café Amor saß, hatte ihn darauf aufmerksam gemacht. Der hatte gesprochen: »Was, Ihre Frau möchte draußen was haben? Nu, recht hat se. Kommt ja sonst gar nicht raus, nich ’ne Viertelstunde!« Und er war mit Arthur losgefahren vom Stettiner Bahnhof. In Hohenfelde hatten sie erst einmal im Restaurant an der Bahnhaltestelle verschiedene Weißen und verschiedene Schnäpse getrunken, und dann hatte Bernhard den Reschke überall herumgeführt.
»Schöne Gegend, aufstrebende Gegend, idyllische Lage, großartige Verbindung!« In der Stadt arbeiten, auf dem Lande wohnen, das war das einzig Wahre. Und wenn’s zum Kaufen denn noch nicht langte, dann wenigstens vorderhand sich was pachten. Aber schnell, die Preise stiegen mit jedem Tag. Wochentags in der Stadt arbeiten, sonntags sich draußen erholen, das war das Wahre, das einzig Richtige!
Bernhard hatte zuletzt den bereits Todmüden, der gar keine Lust hatte, noch weiter in Sand und Staub herumzustapfen, zwischen Chaussee und Bahndamm hingeführt, wo ein Bekannter von ihm Land zu verpachten hatte. Es ging alles so schnell; schon morgen sollte ihm der Kontrakt zugeschickt werden.
Im Dämmern waren sie dann nach der Stadt zurückgefahren; Reschke wie im Traum. Nur das war ihm klar: Mine würde sich freuen, seine gute Alte!
Es war ziemlich weit. Sie gingen nun schon eine halbe Stunde, seitdem sie ausgestiegen waren. Arthur mußte sich verlaufen haben. Es kam ihm selber so vor, er war doch damals mit Bernhard viel näher gegangen. »Aber wenn du den Weg erst ’n paarmal gemacht hast, denn kommt er dir wie gar nischt mehr vor«, sagte er zu seiner Frau. »Und übrigens, ’ne Haltestelle von der Bahn kommt, diesen Sommer noch, dichte bei uns hin. ›Alles bereits vorgesehen‹, sagt Bernhard.«
Mine eilte, sie war Mann und Tochter immer voraus, sie war zu neugierig. Von Häusern war rings nichts mehr zu erblicken, kein Schornstein, kein Dach; auch kein Wald, den sah man nur von ferne. Eine lichte Reihe Birken stand im Sand, darunter wartete sie.
Frida blieb ab und zu stehen, zog ihre Schuhe aus und schüttelte den Sand heraus; ihre Augen blickten unsicher: wo führte der Vater sie nur hin?
Arthur machte sich selber Mut: nur ein paar Schritte noch! Da, links hinein, und dann durch die Kusseln!
Durch das niedrige Gestrüpp verkommener Kiefern stapften sie, durch die gelben Katzenpfötchen und die blauen Sandnelken. Dürre Blumen, wie sie wachsen an dürrem Strand. Frida fing an, einen Strauß zu pflücken – es waren doch Blumen! – aber es war ihr etwas bänglich dabei ums Herz, und müde war sie auch. Der Sand, der Sand, wenn nur der leidige Sand nicht wäre!
»Siehste«, sagte Arthur aufatmend, »endlich! Nu sind wir da!« Er legte seiner Frau die Hände hinter die Schultern und schob die Stehengebliebene so vor sich her: »So, da haste nu, was du dir immer gewünscht hast, Alte!«
Sie standen auf einer Halde, auf Land, das nicht ganz Heide mehr war, aber auch noch nicht Feld. Es stieg ein wenig an und stieg dann wieder hinunter zum Pechpfuhl. Unweit lagen zwei Bretterbuden: bei jeder ein Stück Land, das Garten sein sollte. Es war heiß, die Sonne brannte ungehindert. Ein vollständig nackter Junge paddelte am Pfuhl in einem halbversunkenen Nachen, und ein ebenso nacktes Mädchen stand dabei und sah ihm zu.
Mine stolperte über die Wurzeln eines halbausgerodeten Heidekrautstrunkes, dann sank sie in ein tiefes Sandloch.
»Man muß aufpassen, wo man geht«, sagte Arthur. Das war ihm Sonntag vor acht Tagen, als er das erste Mal hier war, gar nicht so aufgefallen. Aber freilich, die Weibsleute mit ihren langen Röcken! Eine verfluchte Wärme heute und so stocktrocken! Er blieb stehen und wischte sich den Schweiß ab.
»Mutter, fall nicht«, sagte Frida. Aber Mine hatte sich von der nach ihr fassenden Hand der Tochter losgemacht und trabte über die Halde als wäre sie auf einer Spur.
Da hatte ja der Laubenbesitzer rechts sich Kartoffeln gelegt! Mine hatte ein kleines Feldchen von Grün mit dem eigentümlich nahrhaften Geruch des Kartoffelkrautes entdeckt. Und auch Blüten waren daran, blaßlila-rötliche Blüten.
»Se blühn!« Mine war voller Bewunderung. So lange, so lange hatte sie nicht Kartoffeln mehr wachsen und blühen sehen! Sie lehnte an der Einzäunung. Und lohnten sie auch gut? Sie reckte den Hals über den Zaun.
Da kam der Kolonist aus seiner Laube heraus – er hatte nur Hemd und Hose an – gähnte noch müde vom Mittagsschlaf und musterte mißtrauisch die Fremden: Was wollten die hier?
Arthur faßte an den Hut: »Mahlzeit. Wir wollen uns hier auch häuslich niederlassen.« Und er zeigte auf die kleine Bodenanschwellung vor dem Pfuhl, wo der Sand weiß schimmerte zwischen trockenem Heidekraut, und ein paar niedere Kiefernbüsche kümmerten.
»Ach so, Sie sind der Reschke aus die Novalisstraße! Ich habe schonst von jehört. Na, da hätten Se sich ooch besser wo anders wat ausjesucht. Hier is nischt los!«
Das war nicht sehr ermutigend. Arthur hatte das Gefühl, diesen ersten Eindruck abschwächen zu müssen. »Es kost’t ja auch so gut wie nischt«, sagte er.
»Oho, da sind Se aber falsch jewickelt!« Der Ansiedler lachte grob. »Det kost’t ’ne janze Menge. Die Pacht is det wenigste. Bauen Se sich man erst de Laube uff. Un denn schleppen Se sich allens raus, was zujehört. Un denn fangen Se an zu buddeln, und denn setzen Se sich Kohl, und denn stecken Se Rüben – pflanzen Se, wat Se wollen: Salat, Suppenjrünes – die verfluchten Karnikkels kommen un fressen Ihnen allens ratzefahl.«
»Aber Sie haben doch so schöne Kartoffeln!«
»Wissen Sie denn, ob ooch Knollen dran sind?« Der Mann riß eine Staude heraus und schmiß sie dann im Bogen weit von sich. »Ick habe det satt hier. ’ne Haltestelle ha’m se ooch versprochen – jloob ick nich – for wen denn? Ersten Oktober jeh ick raus hier. Nich mehr in de Hand!«
Arthur sah sich nach Mine um, auch Frida drehte erschrocken den Kopf: wenn die Mutter das hörte! Aber Mine hörte von alledem nichts. Sie stand ganz still und sah mit Augen, die wie in weite Fernen blickten. Es war nicht schön hier – nein, hier war nicht das helle Feld, von dem sie geträumt hatte, mit dem Häuschen darauf und dem fruchtbaren Garten. Aber von fern her kam der Wind und brachte einen Geruch – es roch doch nach Land! Und weit war es hier, weit und frei, keine Dächer, keine Hinterhausmauern. Sie atmete tief und reckte sich: und wenn es auch jetzt noch öde war, es konnte doch anders werden! Nachdenklich betrachtete sie ihre breiten schwieligen Hände: die konnten ja arbeiten.
Mit einer zuversichtlichen Miene ging sie auf ihren Mann los. »Du, Arthur, for’sch Erschte roden wer. Ich grabe um – raus mit das Gestrüpp! – du kannst es denne abbrennen. Un denne kommt de Asche wieder runter; das is fermoost. So gutt wie Mist. Und denne bestell’n wer unser Land!« Sie streifte ihre Ärmel von dem Handgelenk zurück und schürzte an ihrem Kleid; am liebsten hätte sie sogleich angefangen, in dieser Stunde noch.
Arthurs etwas umdüstertes Gesicht erhellte sich: seine Mine war doch eine famose Frau, nicht totzukriegen! »Na, Alte?!« Mit einer ungewohnten Zärtlichkeit faßte er sie unters Kinn.
Der Kolonist lachte. »Na, wenigstens for Schäferstunden is hier die Jegend. Keener, der zukuckt!«
Mine wurde rot wie ein junges Mädchen. Die beiden Männer lachten schallend.
»Komm, Fridchen«, sagte die Mutter, kucken wer mal!« Und sie lief voran, herunter zum Pfuhl, wo die beiden Kinder sich jagten. Daß der Vater die so herumlaufen ließ – splitterfasernakkend – sie waren ja schon so groß! Sie nahm das schwarze, fast undurchsichtige Wasser prüfend in Augenschein: damit konnte man gießen. Moorwasser, das war fett. Das würde dem dürren Sand zu gute kommen. Sie beugte sich über und schöpfte mit der Hand, winzige Fischchen und kleine geschwärzte Kaulquappen rannen ihr durch die Finger.
»Richtije Fische sind ooch drin«, sagte der nackte Junge, der hereingekommen war, und stellte sich breitbeinig neben sie auf.
»Un noch wat andret«, sagte das Mädchen. Beide Kinder lachten verschmitzt.
»Was denne?« fragte Mine zerstreut.
Da legte das Mädchen den Finger an die Lippen. »Pst«, und den Kopf suchend umwendend, winkte sie mit den Augen nach einer Gestalt hin, die in einiger Entfernung plötzlich hinter einer Bodenwelle aufgetaucht war.
Trotz ihres gebückten Rückens, groß stand sie da, hagerragend. War es ein Mann, eine Frau? Weißes Haar flatterte in kurzen Strähnen. Es war eine Frau. Sie trug einen langen schwarzen Rock, den schleppte sie hinter sich her; und einen Sack hatte sie auf dem Rücken.
»Da hat se se drinne«, flüsterte scheu das Kind. »Se trägt se her nach ’n Pfuhl, da schmeißt se se rin. Mutter sagt, wenn nachts hier in ’n Pfuhl so ’n Radau is, wenn det so klingt, als weinte wat, det sind de Frösche un de Unken nich, o nee. Det sind die kleenen –«
»Quatsch!« Der große Junge hielt der Schwester den Mund zu. Aber dann hob er die Faust und schimpfte nach der wankenden Gestalt hinüber: »Brös’sche, olle Hexe!«
Die schwarze Gestalt drohte mit dem Stock, auf den sie sich gestützt hatte. Mit beiden Armen fuchtelte sie wild in der Luft herum.
Die Kinder johlten auf: »Huh, Brös’sche, olle Hexe, huh«, und jagten dann davon.
Frida drängte sich unwillkürlich näher an die Mutter: wie unheimlich!
Aber Mine war ganz benommen: hier, hier, war ihr Stück! Der Verpächter hatte es abgesteckt. Ach, bloß so ein kleines?! Fünfundzwanzig Ruten, das ist nicht viel. Aber doch Land, Erde, eine Scholle, die ihr gehörte – wenigstens heut! Mit einem Gefühl, das ihr fast den Atem benahm, kniete Mine nieder: sie durchwühlte mit beiden Händen den mageren Grund, der trocken und leicht ihr durch die Finger lief. Aber naß und lehmig ist oft viel schwerer zu bearbeiten!
»Fridchen«, sagte sie und hob den Kopf mit einem Lachen, das ihr Gesicht verschönte, »das hab ich mer nie nich mehr träumen lassen, daß ich ooch mal wieder würde ’s Land bebauen. Gefällt der’sch hier?«
Frida antwortete nicht. Die schwarze Gestalt war ihnen näher gekommen, wie von Neugierde gespannt, starrte das Mädchen sie an. Und ein Grausen war dabei: wie sah die Alte aus?
Das viel zu weite, wohl auf dem Trödel gekaufte schwarze Kleid mit vielen Falbeln schlamperte um sie. Sie hob es nicht auf, mit seiner Schleppe fegte es Sand und Wurzelfasern unter sich zusammen. Die Haare, nie gekämmt, nie gebürstet, hingen struppig um ein Gesicht, das seit Wochen von keinem Wasser mochte berührt worden sein. Es hatte eine förmliche Schmutzkruste, so dick, daß die Züge darunter wie erstarrt waren. Aber aus dieser starren Erdfarbe stachen zwei lebendige Augen, fuhren funkelnd umher und musterten die beiden Frauen mit scharfem Blick.
Mine grüßte. Die Alte suchte wohl Kräuter oder Pilze? Mit ihrem Stock stöckelte sie in dem Sand, wühlte hier und da ein Pflänzchen heraus und steckte es in ihren Sack. »Suchen Se Löwenzahn? Der’sch gutt for Salat.«
Die Alte verzog das Gesicht zu einem Lachen – Frida kam es vor, als grinse sie boshaft – und schüttelte den Kopf. Dann sagte sie, als hätte sie das Recht, jeden abzufragen: »Was woll’n Se hier?«
»Wer haben ’n Stückel gepacht’t – hier das!«
Das Grinsen der Alten wurde stärker. »Schöne Gegend hier! Da wohn ich!« Sie steckte den dürren Arm aus nach der Chaussee, die, nur durch ein paar Bäumchen gekennzeichnet, ihre gerade Linie durch die Öde zog. Man sah kein Haus.
Die Alte betrachtete Frida, die im hellen Sonntagskleid, mit geröteten Wangen, sich gut ausnahm. »Sie werden mich ooch mal besuchen, Fräulein! Die olle Bröse is immer zu haben. Vergessen Sie’s nich!« Und dann winkte sie mit der Hand und wankte weiter mit ihrem schleppenden Rock.
Sie ging nur langsam, doch kam sie rasch voran, schon sahen die beiden Frauen sie in der Entfernung. Ein Meckern wurde laut, Frida schreckte zusammen.
»Peter!« Die Alte rief. Hinter einem Busch kam plötzlich ein mächtiger Ziegenbock vor. Die Hörner zu Boden gesenkt, jagte er der sich entfernenden Gestalt nach. Jetzt blieb das Weib stehen und breitete die Arme aus, der Bock stürzte sich förmlich hinein; wie ein Hund schmiegte er sich an die Herrin, der Liebkosung froh. Er leckte das zu ihm geneigte Gesicht.
»Was für ’ne gräßliche alte Hexe!« Frida schauderte. »Das war die, die, von der die Kinder erzählt haben! Komm, Mutter«, sie zog Mine fort, »mir ist es ganz unheimlich geworden!«
Arthur hatte sich unterdessen mit dem Kolonisten angefreundet; der war jetzt nicht mehr so grob. Als die zwei Frauen zurückkamen, saßen beide Männer drinnen in der Laube. Sie war ganz geräumig und nett eingerichtet. Mine wunderte sich, was da alles Platz hatte: ein eisernes Bettgestell, ein kleiner Kochherd, eine große Kiste, eine hölzerne Bank, Küchengeschirr, eine Lampe und an der Rückwand ein Kleiderrechen, behängt mit dem Sonntagsrock des Ansiedlers, mit Vorhemdchen und Manschetten und mit den Kleidern der Kinder. Darunter standen ein paar derbe Wasserstiefel; sie erfüllten den Raum mit starkem Trangeruch.
»Die zieh ick an, wenn ich da in ’n Pfuhl jehe un Plötzen raushole!«
Was holte er da heraus? Plötzen? – Fische? Da heraus! Ein Ekel kam Frida an.
»Na?« Der Mann streckte die Hand nach ihr aus. »Na, Fräulein, was steh’n Se? Man immer rein, meine Olle hab ick zu Hause jelassen!«
Frida raffte ihr Kleid zusammen; nun mußte sie wohl der Einladung folgen, aber, huh, war das schmutzig hier!
Die Kinder kamen gesprungen. »Die olle Hexe war wieder da, die Brös’sche!«
Der Vater hielt es für angemessen, sie zurecht zu weisen. »Ihr sollt nich ›Hexe‹ sagen!«
»Doch!« Die Kleine beharrte dabei. Da gab er ihr eine Ohrfeige, und dann schickte er die Kinder mit einer Flasche zum Pfuhl zurück: »Dalli, holt Wasser! Wer wollen Kaffee kochen. Meine Damens, Se trinken doch ’n Tässchen mit mir?«
Aus dem Pfuhl, dessen Wasser jetzt schwarz-grünlich dunkelte, mit schillernden Reflexen darauf vom sinkenden Sonnenschein, hatte sie den Kaffee getrunken. Unbemerkt hatte Frida ihre Tasse unter den Sitz gegossen; sie hätte von dem Wasser nichts trinken können, und wäre es auch hell und rein gewesen. Den anderen hatte es geschmeckt.
Mine war ganz still, wie in einem Traum. Aber sie war nicht vor Enttäuschung verstummt, nicht wie beim ersten Anblick der öden Halde vor etwas entmutigender Überraschung, sie war längst ausgesöhnt. Nun war ihr Mund stumm, weil ihr Herz sprach.
Und es sprach zu ihr mit einer so gewaltigen Sprache von vergangenen Zeiten, wie es noch nie zu ihr gesprochen hatte. Verstohlen faßte sie die Hand ihres Mannes. Sie waren jetzt wieder auf ihr Stück Land gegangen, da saßen sie nun, im Rücken den Kiefernbusch, und sahen, wie die runde rote Sonne hinter die letzte Sandwehe sank. Und Mines Kopf lehnte sich an Arthurs Schulter.
»Weißte noch? So saßen wer schon eenmal – als ich noch Dienstmädel war – – un wer keen Geld hatten, um reinzugehen, wo die andern tanzten – un ’s wurde ganz dunkel – un wer saßen da so alleine, un wer« – sie stockte. Ihr Blick blieb an Frida hängen, die langsam in die Heide hinausgeschlendert war und nun dastand, von der letzten Sonne umgossen mit einem freudigen Rot.
Die Scham einer Erinnerung kam in Mines Gesicht, sie seufzte auf und drückte die Augen an den Rock ihres Mannes; und dann lächelte sie und flüsterte: »Aber gutt is doch noch alles geworden!«
»Na ja!« Arthur tätschelte ihre Wange. »Wenn uns auch ’n bißchen Geld mehr nich schaden würde. Aber laß man, ich bin zufrieden mit dir, Alte!« Er drückte ihr einen Kuß auf. Er war ja so froh, daß sie keinen Krach gemacht hatte über seine Pachtung. Weiß der Himmel, das war ihm alles vorigen Sonntag hier viel besser vorgekommen; heute schien es ihm etwas reichlich öde. Aber Mine würde die Geschichte schon in Ordnung bringen!
Durch den Dämmer des Sommerabends gingen sie dann zum Bahnhof zurück; Mann und Frau hatten sich untergefaßt. Jetzt schon kam Mine der Weg so weit nicht mehr vor. In den Krautbüscheln der Heide zirpten die Grillen, die Birken lispelten; die Musik war eintönig, aber so heimelig. Und von dem wenigen mageren Gras an den Rainen stieg unterm kühlenden Atem der Nacht ein Duften auf. Mine behielt diesen Duft in der Nase selbst im überfüllten Rauchercoupé. Sie war ganz eingehüllt in diesen Duft.
Und sie nahm ihn mit bis zu der grauen Steinmasse der Stadt, die sich wie ein Ungeheuer mit flimmernden Augen, mit dampfendem Rachen, unter dem vom Widerschein geröteten Nachthimmel breit machte. Nahm ihn mit in die freudlose Straße, in die enge Küche, empfand ihn die ganze Woche wie einen Sehnsuchtshauch. Wann konnte sie wieder heraus? Nächsten Sonntag. Ach, erst am Sonntag.