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III

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Die älteste Enke hatte ihr Glück gemacht, sie war jetzt Gräfin Matuschka. Der Graf hatte sie geheiratet – warum auch nicht? Er war vermögend, Rußland war weit, und niemand redete ihm drein. Sie verstand auch mit viel Geschick zu repräsentieren, so, als wenn sie immer vornehme Gesellschaft bei sich gesehen hätte. Die Damenwelt hielt sich freilich anfänglich fern – man wußte doch: die Enke! – und nicht von Adel! Hochmütige Näschen rümpften sich; aber da die Herrenwelt sehr zahlreich dort vertreten war – Garde, elegante Kavaliere, hochgeborene Herren, man flüsterte sogar: der Kronprinz! –, fanden es die Damen nach und nach auch nicht mehr unter ihrer Würde, die Assemblees im Matuschkaschen Hause mit ihrer Gegenwart zu beehren. Man war zur Zeit nicht mehr so peinlich darauf bedacht, daß gewisse Schranken aufrechterhalten blieben. Der König war alt und grämlich und hielt sich fern in Sanssouci; außer den Hoffestlichkeiten mit ihrer steifen Prachtentfaltung und goldenem Tafelservice, auf denen es noch immer nach der vorgeschriebenen altpreußischen Rangordnung ging, gab es Feste, bei denen man sich weit besser amüsierte. Der leutselige Thronfolger, von dem man sich so viel versprach, ging darin mit gutem Beispiel voran, er liebte zwangloses Beisammensein und heitere Geselligkeit; wenn es auch zuweilen dabei etwas bunt zuging, was machte das, man war eben harmlos vergnügt. Ein freieres Wehen würde mit der neuen Regierungszeit über das altmodische Preußen kommen.

Matuschka war noch immer närrisch verliebt. Er war freilich ein wenig Barbar, trank sehr viel, spielte sehr viel und war sehr stolz auf die vielen Anbeter seiner Frau. Aber er hatte deren Mutter, der Frau Kammermusikus Enke, eine Rente von ein paar hundert Talern im Jahr ausgesetzt, darum nahm die Gattin ihm auch manches nicht übel. Nur wenn er mit der Peitsche knallte, dann flüchtete sie nach der Spandauer Straße, wo die Mutter sie tröstend in die Arme nahm.

Elias Enke lief dann verzweifelt auf und nieder, am liebsten hätte auch er seine Frau geprügelt: Sie, sie allein war schuld an der Ehe mit diesem Matuschka, der ein Trinker und Spieler war! Er ließ es nicht an Vorwürfen fehlen und so sehr ihm sonst die Frau überlegen war, so still war sie jetzt, gab kein Widerwort. Zuletzt weinten sie alle drei, bis Matuschka angerannt kam und sich seine Frau wiederholte. Er hatte es ja auch gar nicht böse gemeint, sie durfte doch nicht so empfindlich sein, in Rußland nahm keine dergleichen übel. Er küßte ihr die Hände, kniete vor ihr nieder, nannte sie einen Engel, sich einen Barbaren: «Da, nimm du die Peitsche, hau zu, hau zu!» Sie gab dann lachend dem armen Teufel einen Backenstreich, nahm ihn unter den Arm und zog versöhnt mit ihm ab.

Verdutzt blieben die Eltern zurück; auch sie waren oftmals kein einiges Ehepaar, aber so etwas ging ihnen doch übers Begreifen. Die Frau war die erste, die sich faßte: «Er ist ein Russ’, Enke! Lieber Gott, die sind alle so.» Aber Enke ließ keine Entschuldigung gelten, er war voll bitterer Bekümmernis: Zuviel, viel zuviel schon hatte er hingehen lassen, oh, hätte er niemals zugegeben, daß seine Älteste zum Theater ging, dann wäre sie ein anständiges Mädel geblieben, hätte einen braven Mann heiraten können, einen von der Kapelle oder einen Handwerker! Die Frau lachte ihm ins Gesicht: Dazu war ihre schöne Tochter denn doch wahrlich zu schade. Ein anderer Kavalier als dieser Matuschka, den sie so willfährig hereingelassen, wäre ihr freilich auch lieber gewesen, aber der Matuschka war trotz allem gutmütig, knauserte nicht mit dem Gelde, und das kleine Palais in der Mohrenstraße war auch nicht zu verachten. Sie redete der Tochter versöhnlich zu, wenn die sich beklagen kam, daß ihr Graf gar zuviel im Spiel verlöre. «So sind die Kavaliere alle, Spielen gehört zum guten Ton. Morgen gewinnt er ja wieder. Und du mußt immer bedenken, du bist Gräfin geworden.» So redete die verständige Mutter, aber der Vater war unverständig.

Enke war oftmals so unverständig, daß er in seinem Kummer zu tief ins Glas guckte, dann aufgeregt nach Hause kam, alles untereinanderschmiß und der Frau Dinge vorwarf, die alle längst verjährt und vergeben waren. Und dann schrie er: «Meine Wilhelmine soll aber anders werden! Lieber reiße ich sie dir aus den Klauen und tu sie wo hin, wo sie was anderes lernt als Kavalieren gefällig sein. Dir macht das ja nichts aus, aber mir, aber mir!» Und dabei schlug er sich vor den Kopf und bearbeitete seinen Schädel mit beiden Fäusten, so daß der Frau angst wurde, er schlage sich das Hirn ein. Es war wirklich keine reine Freude, diese Ehe mit dem Matuschka. Es war ja schön, daß der nicht stolz gegen die armen Eltern seiner Frau war, aber er vergaß sich doch sonst gar zu oft. Die Tochter vergaß sich auch oft: Wie konnte sie nun, da sie einen vornehmen Mann hatte, sich noch mit anderen Kavalieren einlassen?! Das war bereits Stadtgespräch. Und auch daß die Matuschkas Schulden machten.

Trotzdem sagte die Mutter ‹ja›, als die Matuschka sich das Schwesterchen für einige Zeit ausborgte. Sie versprach, das Wilhelminchen Französisch lernen zu lassen und in jeder Beziehung gut für das Kind zu sorgen. Ihr bange oft sehr nach der jüngeren Schwester; die war ja auch nun schon vierzehn und hatte noch nichts von Welt und Menschen gesehen.

Wilhelmine bezeigte keine große Freude, zur Schwester in das feine Haus überzusiedeln, sie wäre lieber beim Vater geblieben, aber sie hatte ja noch selber über sich keine Bestimmung. Sie mußte es geschehen lassen, daß die Mutter ihre bescheidenen Lümpchen zusammenpackte.

«Ich ziehe dich viel schöner an, paß mal auf, wie gut du’s kriegst«, sagte die Schwester. Schnell, nur schnell, daß sie fort waren, ehe der Vater nach Hause kam! Der Schwester Hand riß sie mit fort. Als Wilhelmine das Köpfchen drehte und stehenblieb, bog der Vater hinten gerade um die Ecke.

Es hatte Elias Enke heute etwas heimlich getrieben, es ließ ihm keine Ruhe, er mußte nach Hause. Atemlos kam er heim, sagte kaum guten Tag, fragte nach Wilhelmine. «Ist zur Schwester gegangen», sagte die Mutter, weiteres wagte sie noch nicht zu gestehen. Es gab schon dieses ein Donnerwetter: «Was läßt du sie zu den Matuschkas laufen, das ist kein Haus und kein Umgang für sie!» Als Wilhelmine am späten Abend noch nicht zurück war, brach ein Gewitter los mit Donner und Blitz und Hagel und Einschlag. Zum erstenmal trommelte Enkes Faust auf dem Rücken seines Weibes. Das retirierte hinter den Küchentisch und schrie um Hilfe, so daß die beiden jungen Burschen gelaufen kamen, der Mutter beizustehen. Unsanft warf der Wütende die Söhne zur Tür hinaus, trommelte weiter, bis der Atem ihm kurz wurde und das Blut so zu Kopf stieg, daß er – Schwarz vor den Augen – taumelnd gegen die Wand fiel.

Mit ihrem Enke wollte es doch gar so recht nicht mehr, die Frau sah ihn oft heimlich besorgt von der Seite an. Was war ihm nur? Er war zwar ein genauso sicherer und trefflicher Hoboist in der Kapelle wie vordem, aber er setzte manchmal, wenn er abends daheim war, sein Waldhorn an die Lippen und blies oben zum Fensterchen der jetzt leeren Kammer in die nächtliche Stille hinaus, hinauf zu den Sternen, daß der sonst so Harten weich und weh wurde. Er bangte sich wohl nach dem Wilhelminchen? Er fragte nicht mehr nach ihr und verlangte auch nicht mehr, daß sie unverzüglich heim käme. Er sprach überhaupt nicht mehr viel. Wußte er denn nichts mehr davon, daß er sie wegen Wilhelminchen damals so verprügelt hatte? Hatte er heute alles vergessen? Die Frau hütete sich wohl, ihn daran zu erinnern. Er war vergeßlich geworden, ihr Enke, vielleicht auch meldete sich das Alter bei ihm schon vor der Zeit; wenn er den Haarzopf abtat, sobald er aus dem Orchester zurück war, sah die Frau verwundert: Er war schon ganz grau.

Im Hause der Gräfin Matuschka lernte Wilhelmine Französisch und ihre Worte fein setzen, auch sonst allerlei; vor allem aber, wie man es macht, zu gefallen. In der Kunst war die Matuschka Meisterin. Lässig hingestreckt, noch am Vormittag sich im Bette dehnend, sah die schöne Frau lachend zu, wie Matuschka sich mit der Kleinen neckte. Die mußte ihn bedienen beim Anziehen, ihm den Puder abstäuben, die Kniebänder knüpfen, die Eskarpins stramm ziehen, die Schnallenschuhe abreiben. Wenn sie dann so vor ihm kniete, liebte er es, sie an den Locken zu ziehen. Dabei lachte sie noch, pustete er ihr aber in den Ausschnitt des Kleides, aus dem weiß und zart der junge Busen sich hob, dann verschwand schnell ihr Lachen, wütend fauchte sie ihn an: «Laß das», floh vor dem sie Verfolgenden in die entfernteste Ecke und bedeckte den nackten Hals schützend mit beiden Händen. Matuschka schimpfte: «Blödes Gehabe», die Schwester winkte: «Schlüpf unter bei mir, kleine Gans!» Aber in ihr lautes Gelächter mischte sich etwas wie Ärger: Matuschka machte es wirklich zu heftig, er war ja ganz wild. Wenn sie die junge Schwester auch hergenommen hatte, um ihrem Cercle eine neue Anziehungskraft zu geben und den Kavalieren mehr Anreiz, so durfte sie es doch keinesfalls geschehen lassen, daß ihr Barbar sich an der süßen Unschuld vergriff.

Vor dem kleinen Palais in der Mohrenstraße hielten Karossen und Sänften. Das war hell erleuchtet, aus allen Fenstern fiel Schein hinaus auf die mit schmutzigem Tauschnee bedeckte Straße. Zwei Diener standen am Eingang bereit und hielten Windlichter hoch, damit die Gäste nicht in das Schneewasser patschten. Ein abscheuliches Wetter! Wenn die Matuschka nicht eine Überraschung angekündigt hätte, und er, der Matuschka, mit den Augen blinzelnd spitzbübisch dabei gelächelt, so wäre man lieber beizeiten zu Bett gegangen. Nun war es bald Mitternacht – man ging zu Matuschkas erst nach der Oper –, und würde der Prinz von Preußen auch wirklich zugegen sein? Die Gastgeber hatten das nicht besonders erwähnt – der Kronprinz liebte es nicht, wenn man ihn avisierte, er kam und ging, ungezwungen wann und wie es ihm beliebte – aber sollte seine bestimmte Anwesenheit vielleicht heute nacht doch die angedeutete Überraschung sein?

Die schöne Matuschka war heute abend etwas nervös. Sie erhoffte für die Schwester ein glückliches ‹Sort› vorzubereiten, denn interessierte sich eine sehr hohe Persönlichkeit nicht für sie? Der Prinz von Preußen fragte nicht nach der Herkunft. Wenn sie sich auch nicht mit so phantastischen Plänen trug wie die Mutter, so war sie doch gern bereit, dem Schicksal hilfreiche Hand zu bieten. Nun putzte sie an der Kleinen herum. Ihren Mann hatte sie eben herausgeworfen, die Tür vor ihm zugeschlossen; es machte sie ungeduldig, seine Blicke auf den zarten, tief entblößten Schultern, über die beständig ein leichtes Erschauern lief, brennen zu sehen.

«Frierst du, Wilhelminchen?»

«Nein. Aber ich wünschte, ich könnte ins Bett gehen. Ich bin schon so müde.»

Die Matuschka blickte herb: «Ich war auch oft müde und mußte doch. Aber freilich, du bist noch so jung.» Die Ältere konnte eine sie plötzlich ankommende Regung der Rührung nicht ganz unterdrücken: Da saß das Kind wie ein Opferlamm und ließ sich schmücken. «Sieh doch mal in den Spiegel, wie schön du jetzt bist! Du weißt, der Kronprinz kommt heute. Damals war er so freundlich zu dir, du wirst ihn jetzt wiedersehen. Wenn er zu dir spricht, sei lieb, nimm dich zusammen – es ist eine hohe Ehre für dich!»

«Ja, ja», sagte das müde Kind.

Es war ein äußerst gelungenes Fest, obwohl der Kronprinz noch nicht erschienen war. Er würde wohl auch nicht mehr kommen, es war bereits zwei, als die ersten aufbrachen. Wahrscheinlich irgendein neues Band, das ihn festhielt. Es ging schon aufs Morgengrauen, als er endlich erschien, anscheinend abgespannt, aber liebenswürdig wie immer. Jetzt kam erst die richtige Stimmung. Die Hausfrau hatte in die Hände geklatscht, das bedeutete: Dienerschaft weg. Sie füllte selber die Gläser. Suchend wanderten dabei ihre Blicke: Wo steckt die Kleine? Seiner Königlichen Hoheit schien augenblicklich nichts dran gelegen, er hatte sich sofort ins Spielzimmer begeben. Da saßen welche mit heißen Köpfen – man spielte Pharo und spielte es hoch – der Prinz hatte sich eingereiht, man schob ihm gleich dienstbeflissen einen Stuhl unter. Die Matuschka sah mit Bedauern: Nun war er leider schon mitten im Spiel. Aber nachher, nachher! Sie fieberte: Schönheiten wurden ihm genug präsentiert, aber keine so jung wie das Wilhelminchen.

Der Prinz war im Gewinnen, Matuschka verlor. Je mehr die Karten zu dessen Ungunsten fielen, desto mehr trank er; hastig griff seine Hand nach dem Glase, trank es aus in einem Zug, schenkte sich selber ein. Bald war er sinnlos betrunken.

«Hören wir auf», sagte der Prinz; er war bleich, sein Gesicht gedunsen und doch schlaff vor Abspannung, er war seiner selbst nicht mehr ganz sicher.

«Denke nicht dran», brüllte Matuschka, «jetzt erst recht nicht. Sitzen geblieben! Glück bei Weibern, Unglück im Spiel – diesmal trifft das nicht zu. Setz dich, du Vielgeliebter! Vielgeliebter – hahaha, ha» – sein Lachen erstickte, einer der Mitspieler hatte ihm rasch die Hand auf den Mund gelegt. So weit durfte es denn doch nicht gehen, Seine Königliche Hoheit könnte sich morgen dieser Worte erinnern.

Des Prinzen Gesicht hatte sich verfinstert: ‹Vielgeliebter› – sollte er das als Schmeichelei nehmen oder als unstatthafte Anspielung? Er war sich darüber nicht mehr ganz klar.

Hohe Zeit, daß man Matuschka hinausbeförderte. Kopf ins Wasser, frische Luft, die ernüchtert. Er stolperte der Treppe zu. Da, auf der obersten Stufe, das Köpfchen an die Sprossen des Geländers gelehnt, saß eine und schlief. Ha – haha – war das nicht das Schwesterchen seiner Frau? Aus dem Zimmer geworfen, vor ihm zugeschlossen – haha – hier, jetzt ging das nicht so! «Kleine Hexe, ei, ei, nicht mich herauswerfen – ei, ei!» Er ließ sich neben ihr niederfallen, schlang den Arm fest um sie.

Wilhelmine hatte ganz fest geschlafen. Wirres Durcheinander in ihrem Traum: alle Kerzen brennen im Kronleuchter, in den Kandelabern – viele Leute – viele Augen – die sehen sie an. Die Schwester hält sie an der Hand. Vorstellungen, Vorstellungen, zierlichste Verneigungen. Man lächelt sie an, sie lächelt auch, das Lächeln friert fest auf ihrem Gesicht. Lächeln, immer lächeln, oh, das tut weh, so den Mund zu verziehen! Und langweilig, so langweilig – was soll sie sagen, was antworten? Es fällt ihr gar nichts mehr ein, die Lider fallen zu – immer wieder sie aufreißen, heimliches Gähnen und wieder Gähnen – müde, ach, so schrecklich müde! Alles wirrt um Wilhelmine: Lichter, Leute, Laute – Schleier von ihren Blicken – ach, schlafen, nur schlafen gehen!

Ein entsetzter Schrei war es, der durchs Treppenhaus gellte. Es war Wilhelmine, die ihn ausstieß: Wer packte sie an, umschlang sie eisern? Was hauchte sie so heiß an, ein Mensch, ein Tier? Sie wehrte sich gegen die Umschlingung, halb noch im Kinderschlaf, noch nicht ganz wach und doch sich einer Gefahr bewußt.

Ihr Schrei war auch drinnen gehört worden. Wer schrie? Und warum lachte Matuschka so unbändig? Wen hatte der Trunkene da attackiert? Die um den Spieltisch saßen, waren aufgesprungen, drängten heraus. Aber es war nicht die Zofe, die man, von dem Trunknen bedrängt, zu finden erwartete.

Welch unangenehme Szene! Die Matuschka hatte sich alles ganz anders gedacht. Es war so schön arrangiert, das Kind, nachdem der Prinz sich schon mehrmals erkundigt hatte, ihm heute als gesellschaftsfähige junge Dame vorzustellen. Sie hätte weinen können vor Zorn und Enttäuschung. Die Blicke, mit denen sie ihren Gatten anfunkelte, waren so wütend, daß er plötzlich nüchtern wurde. Aber auch auf die Schwester war sie erzürnt: «Dummes Ding, was fällt dir denn ein, dich auf die Treppe zu setzen? Hör auf mit dem törichten Schreien!»

Wilhelmine schluchzte noch krampfhaft laut: Oh, daß sie doch fliehen könnte, aber wohin? Alles Gesichter, fremd und neugierig. Wenn doch der Vater hier wäre! Sie fühlte eine lange nicht empfundene, heiße Sehnsucht nach ihm: Der, ja der würde sie schützen! ‹Beruhige dich, mein Kind›, würde er sagen – nein, das sagte jetzt plötzlich ein anderer. Ein großer, vornehmer Herr. Und eine Hand, weicher als die des Vaters, legte sich auf ihren Kopf.

«Ruhig, mein Kind, es geschieht dir ja nichts!» Der Prinz ergriff die vor Schreck ganz erkaltete kleine Hand, hielt sie fest in der seinen, beugte seine hohe Gestalt nah zu der Zitternden nieder, zog sie von der Stufe der Treppe auf: «Komm, mein Kind, komm, wovor ängstigst du dich? Fürchte doch nichts. Ich bin jetzt bei dir, ich bringe dich selber nach Hause – Spandauer Straße, nicht wahr?»

Nur ein stummes Nicken die Antwort, ein dankbar verwirrter, großäugiger Blick.

Er lächelte. Und dann, sich zu seiner vollen Höhe aufrichtend, sehr formell, ganz Königliche Hoheit, zur Matuschka: «Frau Gräfin, führen Sie Ihren Gatten fort! Ich werde die Demoiselle Schwester fortführen. Ich bedaure, aber Sie werden verstehn, daß ich mich jetzt empfehle.»

An seinem Arm, noch zitternd, doch schon seltsam getröstet, ging Wilhelmine Enke die Treppe hinunter.

Der Vielgeliebte und die Vielgehaßte

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