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III
ОглавлениеBritta, Britta! Lore Längnick dachte sehr viel an die Cousine. Die war noch immer nicht gekommen, und Tante Ingeborg schrieb auch nichts davon, dass die kommen würde. Muss man denn sein Versprechen nicht halten? Tante Ingeborg hatte ihr doch damals bei ihrem Besuch, noch kurz vor ihrer unerwartet schnellen Abreise, fest versprochen, dass sie ihr Britta schicken würde. Nun war es bereits über ein halbes Jahr her, dass Tante Ingeborg sich wieder verheiratet hatte. Sie hatte doch gesagt, so grosse Kinder im Hause zu haben in einer jungen Ehe wäre nicht angenehm — also warum war Britta noch nicht hier? —
„Ich denke, die kleine Bade sollte herkommen“, sagte heute auch die Urgrossmutter, „warum kommt sie denn nicht?“
Lore schoss die Röte ins Gesicht: dass Britta nicht längst hier war, das kam nur daher, weil die Urma Pensionsgeld verlangt hatte — oh, es war abscheulich! Ihre sonst so sanften Augen bekamen Feuer, sie funkelten die Urgrossmutter an.
„Was siehst du mich so an?“ Unwillkürlich musste Friederike Längnick lächeln; es war nicht das gewohnte, kaum merkliche Mundverziehen, es war ein richtiges, nahezu freundliches Lächeln. Es befriedigte sie, dass die Augen des Mädchens funkelten. Sieh mal einer an, diese sanfte Taube, wie Pastor Kimmel sie nannte, die immer gleich scheu nach dem Vater blickte und auch nach ihr, wenn ihr einmal ein Lachen herausfuhr, die konnte auch böse werden?! Sie streckte die Hand nach dem Mädchen aus.
Lore sass am Fenster und stickte; es sollte ein Kissen werden für den Vater. Draussen war noch Schnee, er lag auf den Bäumen des Parkes und belastete deren Äste schwer. Flockiger Märzschnee hatte schaumig den Rasenplatz und die Blumenbeete vorm Hause wie mit einem Federbett überdeckt und sich auf den Fensterbrettern zu hohen Polstern aufgeschichtet. Vom Wirtschaftshof herüber kein Laut zum Herrenhaus. Was der gnädige Herr oft als störend empfand, das Poltern der Karren, das Surren der Häckselmaschine, das Gegacker und Krähen der Hühner, das Muhen der Kühe, von all diesen Stimmen des ländlichen Betriebes heute nichts zu hören. Der Schnee erstickte sie, hatte gleichsam alles Leben begraben. So war es schon seit Tagen. Und es schneite noch immer. Sehnsüchtig dachte Lore: wenn ich doch jetzt Britta hätte, um mit ihr draussen Schneeballen zu machen! Der grosse Weiher im Park war auch noch zugefroren, man könnte ihn kehren lassen und Schlittschuh laufen. Man könnte auch eine Schlittenfahrt machen, die Post holen mit den Ponys — ach, was könnte man alles, wenn man nicht so allein wäre! Fräulein Mittler war seit acht Tagen fort, der Vater war im Sanatorium bei Berlin, er hatte sie nachkommen lassen, weil er sich nicht gut fühlte, er wollte nicht allein sein. Ach, die arme Doris, sie hatte geweint, als sie so plötzlich fort musste, und sie selber hatte auch geweint. Es war zu traurig, kein Abendstündchen mehr, an dem sie mit Doris dem Sausen des Windes horchte, der um die Schlossmauern strich. Es hörte sich behaglich an, wenn man zu zweien war, aber jetzt so allein — schrecklich. Es nutzte nichts, dass man sich dann ins Bett verkroch bis über die Ohren, man hörte ihn doch. Am Tage war er still, aber sowie es Nacht wurde, fing er mit seinem Heulen an. Er klagte und winselte, er rutschte den Schornstein herunter, er raschelte hinter den Tapeten, er drückte gegen alle Türen; man musste die zuschliessen, damit sie nicht aufsprangen. Er fegte über den langen und breiten Gang, der leer war und hoch, weil er durch zwei Stockwerke ging bis hinauf, wo die Dienstmädchen und die Mamsell schliefen, wo Vorratskammern waren und die Nähstube. Er schlich sich von da wieder die Treppe hinunter bis in die Diele mit den Hirschgeweihen, den vielerlei Gehörnen und ausgestopften Vögeln, die die Urma von dem früheren Besitzer mitgekauft hatte. Lore dachte daran, wie sehr sie sich als Kind vor dem Kauz mit den grossen Augen und vor dem Habicht, der die Flügel spreizt und den Schnabel aufreisst, gefürchtet hatte; am meisten aber vor der Wildkatze, die auf einem Brettchen über der Tür zum grossen Saal stand, ein armes Häschen unter den Krallen. Ach, das eklige Raubtier! Sie hatte immer noch eine gewisse Scheu.
Ach, es war sehr schön, auf dem Lande zu leben, schön die Felder, der Wald und die fernen Berge, aber im Winter müsste man Menschen um sich haben, Menschen sehen, Menschen sprechen, sich an Menschen anschmiegen können! Seit den acht Tagen, die Doris fort war, hatte Lore niemals mehr lachen können. Wenn jetzt Britta hier wäre, würde das ganz anders sein. Sie dachte mit Sehnsucht an die ihr Versprochene, und diese Sehnsucht wurde heute fast schmerzlich, trieb ihr Tränen in die Augen. Sie konnte die Kreuzstiche auf dem Kanevas nicht mehr sehen, die blauen, grünen und roten Fäden wurden ein buntes Wirrwarr. Lore liess die Arbeit in den Schoss sinken und träumte verloren ins Leere.
Wie Britta jetzt wohl aussah? Im Familienalbum steckte nur ein Kinderbildchen — ein kleines untersetztes Ding mit dummen Augen — ‚Brigitte Bade, vier Jahre alt‘ stand darunter. Dem glich die nun nicht mehr. Lore malte sich das Bild der Ersehnten aus. Tante Ingeborg hatte gesagt ‚lange nicht so hübsch wie du‘ — aber Britta war gewiss viel hübscher, sie glich ihrer Mutter. Aber nur äusserlich; innerlich war sie ganz anders. ‚Ein komisches Kind‘, sagte die Tante — nun ja, dass die eine Tochter komisch fand, die so ganz, ganz anders war als sie selber, das wollte sie wohl glauben. Lieb, klug, verträglich, von Herzen gut! Lores Phantasie schmückte Brigitte Bade mit all den inneren und äusseren Vorzügen aus, die einen Menschen schön und liebenswert machen.
Die Schlossherrin beobachtete die träumende Urenkelin. Sie selber sass nicht im Lehnstuhl und nicht am Ofen, wie es bei solchem Winterwetter das gute Recht ihres Alters gewesen wäre, sie sass auf einem der hohen Lederstühle, wie sie auch um den Esstisch standen, und hatte die Zeitung vor sich. Sie waren beide allein im Zimmer, die Uralte und die ganz Junge. Friederike Längnick hatte die Zeitung sinken lassen, sie blickte interessiert: dass Lore hübsch war, das hatte sie längst bemerkt, heute aber sah sie es recht, wahrhaftig, die hatte ja Ähnlichkeit mit ihrer Grossmutter, der Engländerin, der Frau von ihrem Paul! Verdammt, wurde sie denn die Erinnerung an dieses Geschöpf, das ihr nur zum Unheil ins Haus geschneit war, noch immer nicht los? Wurde die noch einmal in Lore lebendig?! Sie schluckte trocken, alter Hass war ihr in die Kehle gestiegen; nicht mehr so brennend wie damals, als Paul, jenes Mädchens wegen, sie, seine Mutter, hintangesetzt hatte, aber noch immer bitter genug.
„Sitz nicht so faul da“, schrie sie die Verträumte an, „stier nicht ein Loch in die Luft! Was denkst du?“
Lore war erschreckt aufgefahren, das Gesicht der Greisin starrte sie verfinstert an. Aber es war auch voll einer so grossen Traurigkeit, dass Lore dachte: ach, es muss doch gar nicht schön sein, alt zu sein! Dann kennt man gar nicht mehr eine rechte Freude. Dann kann man nicht alles mehr so geniessen, wie man es geniesst, wenn man jung ist. Man kann sich nicht nach Veilchen bücken im Frühling, nicht ein luftiges Kleid tragen im Sommer, immer schwarz muss man gehen, schwarz bis unters schrumplige Kinn; man kann nicht all das essen, was gut schmeckt, man hat keine Zähne und keine Haare mehr, man schläft nicht mehr die ganze Nacht durch bis zum Morgen, man hustet, man hustet. Und die man am liebsten gehabt hat, die sind tot. Man hat keine schönen Träume für die Zukunft, denn man hat keine Zukunft mehr! Es durchschauerte Lore förmlich, als sie das dachte. Arme Urma! Der Blick, mit dem sie in das alte, in seinen Furchen versteinte Antlitz sah, spiegelte plötzliches Mitleid. ‚Was denkst du?‘ — diese harte Stimme schreckte sie nicht mehr und auch nicht die finstere Miene, sie lächelte mutig in das alte Gesicht: „Ich träumte. Man kann doch nicht bloss sticken, immer mit der Nadel rein in den Stramin und dann wieder raus, man denkt doch auch dabei. Ich wenigstens will dabei denken. Man kann es ja auch gar nicht ändern, dass man’s tut.“
„Nein, das kann man auch nicht“, sagte Friederike Längnick langsam und nickte. „Man denkt, man denkt.“ Komisch, dass dieses junge Ding auch schon dachte! „Na, und was dachtest du denn?“ Es klang freundlicher.
„Ich dachte an Britta. Ich weiss auch, warum sie nicht kommt. Und dann dachte ich“ — Lore stockte plötzlich: das konnte sie doch nicht sagen, dass sie gedacht hatte, wie traurig es ist, alt zu sein. „Ich weiss nicht mehr, was ich sonst noch dachte.“ Es klang verlegen.
„Du weisst es!“ Die schwarzen Augen forschten in dem tief erröteten jungen Gesicht. „Du willst es nur nicht sagen. Aber ich weiss es, du hast gedacht: wäre doch die Alte, die mir selten was erlaubt, die mir Essig in alle Freude giesst, wäre die Urgrossmutter, die alte Hexe, doch nicht mehr da!“
„O Urma, wie kannst du so etwas sagen!“ Das junge Mädchen sprang auf und streckte die Arme abwehrend aus: „Das habe ich nicht gedacht, so etwas kann ich ja gar nicht denken!“ Ihr offenes Gesicht zeigte ehrliche Entrüstung. „Ich bin doch kein Fremder. Ich weiss doch, dass du zu mir gehörst und ich zu dir. Nein, ich habe gedacht —“ sie errötete noch tiefer, es stieg ihr wie eine Flamme zu Kopf, aber sie musste es ja sagen, offen eingestehen, sonst glaubte die arme Urma wirklich — „ich habe darüber nachgedacht, wie traurig es ist, alt zu sein, so alt wie du!“
Traurig, traurig? Ja, war das denn wirklich so traurig? Friederike Längnick runzelte die Stirn: war es denn traurig, wenn man noch solch frisches Blut vor sich sah? Traurig war alles, was gewesen war; traurig war es mit Paul, ihrem Einzigen, gewesen, traurig auch mit Pauls Sohn, dem ‚Schlummerkopp‘. Aber traurig nicht mit diesem jungen Ding. „Komm mal her“, sagte sie.
Lore folgte. Nicht zögernd, sie fühlte, die Urma war ihr nicht böse.
„Näher“, sagte Friederike Längnick.
Lore kniete auf der Fussbank nieder, die vor der alten Frau stand.
Die Urgrossmutter fasste sie unter das Kinn und sah starr in das zu ihr emporgehobene reine Gesicht. Die Lider über den blauen Augen schlossen sich nicht, die zwinkerten auch nicht, ruhig hielten die den Blick aus. Eine Längnick, und doch keine Längnick! Paul war nicht in diesem schönen Gesicht, und auch nichts von William und nicht viel von der eigenen Mutter. Es waren auch nur äusserlich die Züge der Grossmutter, die feine Nase, der liebliche Mund der vermaledeiten Engländerin — woher stammte die Entschlossenheit in diesem Blick, der Mut, mit dem dieses Kind ihren scharfen Blick, den alle anderen scheuten, ertrug? Von wem hatte sie das? Ha, von ihr, von ihr! Das hatte sie von ihr, von ihr, von Friederike Längnick! Friederike Längnick fühlte plötzlich, wie etwas anfing in ihr sich zu regen, ihre verkalkten Adern durchrann wie mit einem Strom von Sympathie. Aber sie hielt an sich: nur nicht gleich zu freundlich, zu weich, sonst dachte die Iöre vielleicht, sie könne sich alles erlauben. „Sieh auf“, sagte sie und fasste die Kniende mit knöchernen Fingern unter die Achseln, „geschwind, setz dich an deine Arbeit. Das Kissen wird niemals fertig, wenn du die Zeit so vertrödelst.“
„Es wird fertig.“ Lore erhob sich von der Fussbank, aber sie blieb doch noch vor der alten Frau stehen. Jetzt, fühlte sie, jetzt, heute so allein mit der Urma, war die beste Gelegenheit, die zur Rede zu stellen. Sie holte tief Luft: „Oh, wie konntest du nur damals von Pensionsgeld, von Bezahlung sprechen! Britta braucht nichts zu bezahlen. Niemals. Ich will das nicht. Unter Verwandten, unter Freunden handelt man nicht.“ Sie sagte das, selber sich schämend, und auch in der Hoffnung, dass jetzt andere sich schämen würden.
Aber Friederike Längnick war nur amüsiert: was dieser Kiekindiewelt für Ideen hatte! Heutzutage, wo das Geld rar war und immer rarer wurde, musste man eben rechnen, mehr als je zuvor. „Liegt dir denn so viel dran, dass das Mädel kommt?“ fragte sie nach einer Weile.
„Oh, Urma, sehr viel!“ Lores Augen glänzten.
„Und wenn sie nun nicht zu dir passt?“
„Sie passt sicher zu mir. Denn ich werde sie lieben!“ Lore sagte es sehr bestimmt. „Wenn man sich wirklich lieb hat, passt man auch zueinander.“
„So, so.“ Friederike Längnick wusste es besser. Hatte ihr Paul denn zu seiner Frau gepasst? Er hatte die mehr als lieb gehabt, und sie passten doch nicht zusammen. Sie wiegte zweifelnd den Kopf, aber sie sagte nichts mehr. — — —
Als Lore heute abend längst zu Bette lag, tastete die alte Frau sich über den oberen Gang. Friederike Längnick hatte zeitlebens einen harten Tritt, sie hätte es aber nicht nötig gehabt, hier so behutsam aufzutreten, Schmiedeberger Teppiche, hochgeschoren und dick, dämpften überall den Schritt. Lautlos konnte man auf dem Gang gehen, lautlos auch auf der Treppe und in der Diele unten, denn der Schlossherr konnte es nicht vertragen, Schritte zu hören; sie waren ihm wie Schläge auf den Kopf, wurden ein Lärm für sein überreiztes Ohr. Der Gang war halbdunkel, das Licht der einzigen schwachen elektrischen Birne an seinem Anfang reichte nicht bis zu seinem Ende. Und sehr kalt war er auch. Als Fräulein Mittler einmal vorstellig geworden war, hier einen Ofen setzen zu lassen, war sie bei der alten Gnädigen schlecht angekommen. Schon Verschwendung genug, so viele Zimmer zu heizen: Esszimmer, Wohnzimmer, Schulzimmer, Herrn Längnicks Zimmer. Die Schlafzimmer wurden sämtlich nicht geheizt, man hatte ja Federbetten, und es war ungesund, warm zu schlafen. Wenn im Winter die Dienstmädchen klagten, das Wasser sei ihnen alle Morgen so eingefroren, dass sie sich nicht waschen könnten, sagte die Schlossherrin: „Dann wascht euch nicht.“ Die Mädchen konnten sich ja Holz sammeln gehen in den Forst, aber sie fürchteten den Förster, die dummen Dinger!
Der allnächtliche Wind hatte sich wiederum aufgemacht, er pfiff höhnisch durch den kahlen Gang und wischte den Porträts an den getünchten Wänden, von denen man nicht wusste, wer und von wannen sie waren — Ahnenbilder des vorigen Besitzers — über die verwunschenen, spinnwebfarbenen Gesichter. Sie schauten geisterhaft aus ihren Rahmen, denn nur ab und zu, wenn ein Windstoss schwere Schneewolken am Himmel auseinanderfegte, huschten sie für Augenblicke in seltsamem Licht aus dem Dunkel, um blass und wesenlos gleich wieder zu verschwimmen. Die Dienstmädchen fürchteten sich abends im Dunkeln, selbst die Rotenbücher, die wahrlich keck war, wusste Gruselgeschichten zu berichten. Aber die Greisin fürchtete sich nicht. Wovor? Tote tun einem nichts Leides mehr an, die schlafen für immer; und die hier an den Wänden, die waren zudem nur Ölfarbe und Leinwand. Sie unterdrückte ein Gehüstel, das ihr in der Kälte kam. Sie war jetzt nicht mehr in schwarzer Seide und auch das Spitzendeckelchen auf dem Kopf fehlte, sie hatte jetzt schon den alten zerschlissenen Morgenrock an, den sie aus Sparsamkeitsgründen immer auf ihrem Zimmer trug; im Zugwind flatterten ihre schütteren, kurz gewordenen Haare.
Sie hüstelte in sich hinein: was sagte sie nun, wenn das Kind vielleicht noch nicht schlief oder wach wurde? Aber es schlief; Kinder schlafen fest, sowie sie im Bett liegen. Aber war Lore denn noch ein Kind? Ihre Hand drückte leise die Klinke nieder. Es war finster in dem Mädchenstübchen, das nach Frische und Sauberkeit und nach Jugend — ha, nach Jugend! — roch. Die Greisin schnüffelte in die Dunkelheit hinein: ob sie es wagen könnte, Licht zu machen? Hätte sie doch ihren Wachsstock und die Streichhölzer nicht vergessen! Oh, dass sie das Kind doch mal im Schlaf ganz unbeobachtet sehen könnte! Sie hatte einen wahren Heisshunger danach. Als erriete der Himmel ihren Wunsch, so schickte er jetzt seinen Mond. Scheu und zitternd kroch der bleich durchs Fenster, aber man sah doch genug bei seinem Schein. Ein schlafendes rosiges Kind, einen Arm über dem Kopf, den anderen mit leichter Rundung auf die Brust gelegt.
Lieb sah sie aus! Friederike Längnick trat nahe ans Bett und forschte mit spähenden Augen: neben aller Lieblichkeit war da etwas — was war es doch? — etwas, das über der Nasenwurzel in einer Falte sass. Und kein Lächeln war im Schlaf um den Mund, ein fester, fast eigenwilliger Zug hielt die Lippen geschlossen aufeinander. Ah, die war eine Längnick, eine Längnick! Friederike Längnick atmete tief auf: eine Längnick, in direkter Linie von ihr, der Urgrossmutter, her. Das fremde Blut war ausgemerzt, nur eine äussere Ähnlichkeit da. Grossvater und Vater waren auch ausgemerzt. Wie in zitternder Freude hauchte die Greisin in die Luft: ah, das tat gut, das tat gut! Hier war eine, deren sie sich nicht zu schämen brauchte, Wille von ihrem Willen, ein eigener Wille. Endlich!
Eine grosse Genugtuung hob der Greisin Seele: wenn man lange genug gewartet hat, dann kommt doch endlich das, auf das man schon geglaubt hat, verzichten zu müssen. Lange blickte sie so in das ernsthafte junge Gesicht, das ihr im Schlaf mehr offenbarte als im Wachen. Sie dachte nicht mehr daran, dass Lore aufwachen könnte und dass sie dann hier stehen würde ertappt; sie konnte sich gar nicht losreissen. Erst als Lore, von dem starrenden Blick in ihrem Schlaf beunruhigt, anfing, sich zu regen, den über den Kopf gelegten Arm herunterfallen liess, floh sie.
Lore war erwacht, sie setzte sich aufrecht. Ihr war es gewesen, als hätte etwas ihre Stirn berührt. Und hatte ihre Tür nicht geklappt? Tappte nicht auch draussen im Gang etwas? Nun der Vater nicht da war, war man so ganz ohne Mann im Haus. Aber freilich, der hätte auch nichts genützt. Entschlossen sprang sie aus dem Bett und zündete Licht an. Merkwürdig, ihre Tür war nur angelehnt. Aber draussen im Gang war niemand. Aha, das hatte der Wind getan, der Wind, der greuliche Wind! Sie drehte den Schlüssel im Schloss herum: nun konnte der nicht mehr aufmachen.
In dieser Nacht brannte bei der alten Längnick noch lange die Lampe. Sie hatte in ihrem Zimmer noch immer eine Petroleumlampe, die gab ihr ein Licht, an das sie gewohnt war von früher her. Und billiger war diese Art von Beleuchtung auch. Sie schrieb einen Brief an Frau Ingeborg Bade, jetzt verehelichte Till, schrieb ziemlich ausführlich, warum und weswegen sie Brigitte her zu haben wünsche. Sie war keine Heldin mit der Feder, aber was sie wollte, brachte sie schon zu Papier. Von einer Pensionszahlung war nicht mehr die Rede; alles sollte Brigitte hier frei haben und genau gehalten werden wie Lore. Sie schloss mit einer Wendung, von der sie überzeugt war, dass sie den gewünschten Erfolg haben würde.
‚Wenn Brigitte Bade als liebevolle Gefährtin und treu ergebene Freundin bis zu Lores Verheiratung bei derselben bleibt, gebe ich ihr bei ihrer etwaigen eigenen Verheiratung die Aussteuer. Für den Fall, dass ich dann nicht mehr lebe, bekommt Brigitte Bade ein Kapital von fünfzehntausend Mark ausgezahlt. Ich lege das fest.
Hochachtungsvoll
Frau Friederike Längnick-Güldenaue.‘