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Weihnachten 1972

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Am Vormittag des ersten Feiertages roch es im Haus nach Gänsebraten. Karin lag ausgestreckt auf dem wuchtigen schwarzen Ledersofa im Wohnzimmer und wartete darauf, dass der Film über Paolo Bortoluzzi begann, auf den sie sich schon seit Tagen freute. Wenn das Jucken der Haut an ihrer linken Wade unerträglich wurde, richtete sie sich auf, schob ein Lineal unter den Gips und versuchte, die Stelle zu erreichen, die sie am schlimmsten peinigte. Andächtig stocherte und kratzte sie, bis die Qual nachließ. Das Lineal ging schon leichter unter den Gips als noch vor einer Woche, der Muskel wurde dünner. Zum Glück war ihre Mutter zu beschäftigt, um das zu bemerken. Geschirr klapperte in der Küche, heißes Fett zischte so laut, dass Karin sich selbst vom Sofa aus vorstellen konnte, wie es im Ofen brutzelte. Dabei hatte ihre Mutter die Tür hinter sich geschlossen, hatte sich verschanzt, um nicht gestört zu werden, während sie stundenlang mit Äpfeln, Maronen und Rotkohl, Schüsseln und Töpfen hantierte. Ihre Mutter hatte nicht einmal Zeit für den Film, und das war gut so, denn sie würde sicher wieder jede der Bewegungen des Tänzers kommentieren und sie gleichzeitig ermahnen, sich anzustrengen, jeden Tag, jede Woche, immer. Nein, das brauchte sie jetzt wirklich nicht. Sollte ihre Mutter ruhig in der Küche bleiben.

Sie sah auf die Uhr. Nur ein paar Minuten noch, dann musste es losgehen, und wenn es zu Ende war, kam der Vater aus der Klinik und sie konnten endlich essen. Ihr knurrte der Magen, sie hatte doch nur wenig gefrühstückt, um für den Festtagsbraten Platz zu lassen. Und dann duftete es auch noch so lecker! Bald, dachte sie und richtete den Blick auf den Fernseher. Bald würde der Vater die Gans bei Tisch zerlegen und die Stücke auf alle Teller verteilen. Dann bekam sie ihr Häppchen vom mageren Fleisch und vielleicht sogar, wenn nicht allzu viel Fett darunter glitzerte, auch ein winziges Läppchen von der knusprigen Haut, die sie so gerne aß und doch nicht essen durfte. Jetzt, wo das Training ausfiel, musste sie noch mehr aufpassen, dass sie nichts ansetzte. Richtig böse war die Mutter geworden, als sie den Gips gesehen hatte. Das wird dich weit zurückwerfen. Da wirst du hart arbeiten müssen, um das wieder aufzuholen. Sie hatte Karin tagelang kaum angesehen und nur das Nötigste mit ihr gesprochen. Tu das nie wieder!, hatte die Mutter geschimpft und nicht ein einziges Mal danach gefragt, warum sie überhaupt aus dem Fenster gesprungen war. Keine Fragen, keine Antworten. Karin seufzte. Das Schweigen hatte sich so fest um ihr Herz gelegt wie der Gips um ihr Bein.

Der Film ließ noch immer auf sich warten, und sie sah aus dem Fenster. Es schneite nun schon seit Stunden. Dicke Flocken segelten auf die Äste des Walnussbaumes, auf die Himbeersträucher und den Sandkasten, der nach ihrem Einzug für die Zwillinge eingefasst worden war. Sie fielen geräuschlos aus einem fahlgrauen Himmel, schwebten zur Erde, wie sie selbst in diesem Augenblick über die Bühne hätte schweben sollen. Sie schlug mit dem Lineal auf den Gips, schaute wieder hinaus.

Auch Lizzy war im Garten, und Karin reckte den Kopf, um sie besser sehen zu können. Schwanzwedelnd sprang die Hündin um Sascha und Christian herum und schnappte nach den Schneebällen, mit denen sie sich bewarfen. Wie schön war es gewesen, am Morgen aufzuwachen und Lizzy vor dem Bett liegen zu sehen. Es war nicht nur ein Traum gewesen. Karin war aufgestanden und hatte Lizzy gefüttert, war sich richtig groß vorgekommen, als sie die Fleischbrocken in den Napf gegeben hatte. Später waren sie zusammen aus dem Haus gegangen. Lizzy jagte gleich davon, aber als die Hündin bemerkte, dass Karin ihr mit dem Gips nicht so schnell folgen konnte, kam sie zurück und blieb an ihrer Seite. Es gab keinen Zweifel, Lizzy gehörte zu ihr, und das fühlte sich wunderbar an. Vielleicht konnte sie ihr erzählen, was sonst keiner wissen sollte, wenn sie gemeinsam durch die Gegend streiften und niemand bei ihnen war. Sie lächelte in sich hinein, denn mit einem Mal spürte sie, dass Lizzy viel mehr sein würde als der Trost für den Umzug aufs Land, als der sie gedacht war.

Hier auf dem Land kannst du einen Hund haben, wenn du willst, sagte der Vater, aber eigentlich wäre sie viel lieber in der Stadt geblieben. Dort kannte sie die Straßen, die Geschäfte und die Kinder aus der Nachbarschaft. Zum Ballettunterricht hatte sie laufen können. Natürlich war die Wohnung im dritten Stock ein bisschen enger geworden, seit die Zwillinge zur Welt gekommen waren, aber das war doch nicht schlimm. Wer brauchte schon ein Esszimmer? Auch die Mutter schien zufrieden gewesen zu sein, und der Vater hatte eine eigene Praxis gehabt mit einem beeindruckenden Schild an der Tür. Dr. med. Wiegand Schmitz. Orthopäde.

Warum nur waren sie in dieses Dorf gezogen?

Weil Papa in der Kurklinik mehr Geld verdient und wir in einem schönen Haus wohnen können. Ihre Mutter erklärte es ihr. Sie sagte auch, es mache ihr nichts aus, sie zum Ballettunterricht zu fahren. Manchmal blieb sie und sah zu, und wenn das Training zu Ende war, kommentierte sie auf der Heimfahrt all die kleinen Fehler, die sie bemerkt hatte. Die Schrittfolgen, die Haltung, die Sprünge, das muss dir in Fleisch und Blut übergehen. Das ist eine Frage der Konzentration. Und deiner inneren Haltung. Mit Nachdruck sagte es die Mutter, predigte es, peitschte es ihr ein. Karin hörte zu und hörte weg, und wenn sie ins Dorf einfuhren, wo die anderen Kinder auf der Straße herumstromerten, wünschte sie sich tatsächlich einen Hund. Einen flauschigen Welpen, der unbeholfen auf sie zu tapsen würde, um sich von ihr auf den Schoß heben und den weichen Bauch kraulen zu lassen, der eher fiepte als bellte und mit schwarzen Knopfaugen alles Neue gierig aufsog, der mit seiner feuchten kleinen Zunge über ihre Finger schlabberte. Ein lustiger Rabauke sollte es sein, und sie würde den anderen Kindern erlauben, ihn zu streicheln, wenn sie nett zu ihr waren.

Heiligabend kam, die Messe und das Krippenspiel, in dem Holger ein dicker Hirte mit fleckig geröteten Wangen war. Im Wohnzimmer leuchteten die Lichter am Baum mit seinem Tannengeruch, vor dem sie das Gedicht aufsagte. Um seinen Stamm herum lagen die Geschenke: glitzernde Ohrringe, ein moderner Allesschneider und die in der Schule gebastelten Strohsterne für die Mutter; der Trockenrasierer, drei Paar Arztsocken und das getuschte Bild für den Vater; die Schlitten, ein Feuerwehrauto, eine Kiste voller Bauklötze und zwei Paar Stiefel für die Zwillinge; ein neues Nachthemd und Die kleine Hexe für sie. Einen Augenblick nur betrachtete sie das Buch, dann ließ sie es in den Schoß sinken und suchte den Platz unter den geschmückten Zweigen verstohlen ab. Das konnte doch nicht alles sein?

Der Vater ging hinaus. Er wolle den Nachbarn ein Frohes Fest wünschen, sagte er, und die Mutter wunderte sich nicht über seinen plötzlichen Einfall so kurz nach der Bescherung. Sie ermahnte Sascha, nicht alle Plätzchen auf einmal zu essen, während Christian die Bauklötze auf dem Fußboden verstreute und aus der Stereoanlage die Stimme von René Kollo erklang. Stille Nacht.

Es dauerte nicht lange, bis der Vater zurückkam. Und er führte sie herein: Princess of Achill Island.

»Ein Irish Red Setter, fünf Jahre alt und gut ausgebildet«, sagte ihr Vater. Die Hündin reichte ihm bis über das Knie. Karin dachte, ihr Fell sei rotbraun, aber ihr Vater nannte es mahagonifarben. Und es hatte einen weißen Brustfleck.

»Es ist genauso wie bei den Menschen«, sagte er, während er Princess of Achill Island durch das Wohnzimmer führte. »Weiß ist zulässig, ganz anders als Schwarz. Schwarz verstößt gegen die Reinheit der Rasse.«

Die Mutter warf ihm diesen merkwürdigen Blick zu, den Karin schon kannte. Es war der Sag-so-was-nicht-vor-den-Kindern-das-soll-man-ja-nicht-sagen-aber-eigentlich-störtes-mich-nicht-Blick. Ihr Vater schien das auch zu wissen. Er lachte triumphierend, bevor er wieder ins Schwärmen geriet. Aus einem untadeligen Wurf stamme das Tier und habe hervorragende Papiere. »Steh!«, befahl er, und sie stand. »Sitz!«, zischte er, und es klang wie das ›Schmitz‹, wenn er jemandem seinen Namen sagte, ihn anschließend buchstabierte: mit Theodor Zacharias.

Die Hündin saß auf den Hinterbeinen, aber der Vater zog sie gleich wieder hoch. Langsam schritt er mit ihr auf den Ledersessel zu, in den Karin sich hineingedrückt hatte.

Ihr Vater grinste. »Sie hat einer Patientin gehört. Rheumatoide Arthritis, ziemlich schwerer Fall. Sie kommt kaum noch vor die Tür, und das Tier braucht viel Auslauf. Sie musste es weggeben. Was für eine Gelegenheit!« Nun feixte er und zählte die Vorzüge der Rasse auf. »Drahtig, agil und athletisch, schlank und kräftig. Diese Hunde sind zur Jagd geeignet und ausgesprochen gehorsam. Und dabei sehr anhänglich an den Herrn.«

Als beide bei Karin ankamen, blieb die Hündin stehen. Karins Vater ging in die Hocke, hob mit der rechten Hand die Schnauze des Tieres an und mit der linken den Schwanz.

»Schau her, wie aristokratisch sie ist und wie wohlproportioniert!«

Er streckte den Körper der Hündin, und Princess of Achill Island ließ es über sich ergehen. Stocksteif stand sie im Griff des Vaters. Mit den Händen zeichnete er die Form ihres Schädels nach, ertastete die Wölbung des Brustkorbs und maß die Länge ihrer Rute. Auch die Festigkeit der Sehnen prüfte er und die Stärke ihrer muskulösen Lenden. Ganz versonnen sah er dabei aus, und das war kein Wunder, denn er war ja ein Experte auf diesem Gebiet. Auch bei ihr testete er immer wieder die Festigkeit der Muskulatur des Rückens und des Bauches, der Arme und der Beine, vergewisserte sich der Lockerheit der Bänder und der Rundung der Hüften, und er tat es genauso gewissenhaft wie bei all den Kindern in den orthopädischen Turngruppen, die er leitete. Es war nun einmal sein Beruf. Er prüfte genau. Er prüfte gern.

Manchmal fand sie, er prüfte zu sehr.

Sie glitt vom Sofa und setzte sich auf den Boden, was mit dem Gips ziemlich umständlich war. Ihr Vater ließ die Hündin los. Die gut Erzogene mit den tadellosen Papieren bewegte sich nicht. Erst jetzt sah Karin, dass das Tier zitterte.

Princess of Achill Island war nicht das, was sie sich vorgestellt hatte. Ob sie Papiere hatte, war Karin egal, und die Farbe des Fells war auch nicht wichtig. Aber sie war so groß, so erwachsen, so fertig. Ihr Gang war nicht tapsig, und sie schleckte auch Karins Finger nicht ab. Sie fiepte nicht, und es war fraglich, ob sie jemals bellte. Karin hob die Hand, strich zögernd über das glänzende Fell. Ihr Vater wich zurück, und im selben Moment schlich die Hündin einen winzigen Schritt auf sie zu, beschnupperte ihr Kleid und ihre Zöpfe. Karin nahm ihren Kopf zwischen die Hände und sah ihr in die unruhigen Augen.

Sie hatte eine Hündin zu Weihnachten bekommen, eine Dame, die zu ihr passte. Princess of Achill Island. Der Name hörte sich komisch an. Es war ein vornehmer Name, wie er in Märchenbüchern stand, die von Königshäusern handelten, von ihrem Glanz und Glück. Vielleicht war das gelogen. Schon lange beschlich sie dieser Verdacht, denn ihr Vater nannte sie seine Prinzessin, wenn er sich an sie drückte. Princess of Achill Island. Sie legte der Hündin die Arme um den Hals und atmete ihren Duft.

Von nun an war sie Lizzy.

Hinter dem Schein die Wahrheit

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