Читать книгу Hinter dem Schein die Wahrheit - Claudia Breitsprecher - Страница 6

Freitag, 14. November 2014, 19.01 Uhr

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Karin schloss die Wohnungstür auf und schaltete das Licht in der Diele ein. Wie sah denn der Fußboden aus! Hatte Jacob einen Trupp Bauarbeiter zu sich ins Zimmer eingeladen oder was hatte all dieser Dreck zu bedeuten? Sie rief nach ihm und erhielt keine Antwort. Hatte der Junge das angerichtet und war dann noch mal fortgegangen? Sie streifte die Stiefeletten von den Füßen und stellte sie auf der Fußmatte ab. So geht das, Freundchen, ganz einfach. Hieß es nicht, mit siebzehn seien die schlimmsten Symptome der Pubertät allmählich vorbei? Dann musste Jacob in dieser Hinsicht wohl ein Spätentwickler sein. Anscheinend konnte er das Provozieren noch immer nicht lassen. Sie schaute auf das leere oberste Blatt des Notizblocks. Na bitte, auch das noch. Keine Nachricht, wo er war, wann er nach Hause kommen würde, ob er zu Abend gegessen hatte. Sie stellte den Musterkoffer und die Handtasche auf der Kommode ab, zog den Mantel aus und hängte ihn an die Garderobe, holte das Handkehrset aus dem Schrank hinter der Küchentür.

Sie sollte das nicht tun. Wenn er diese Schweinerei veranstaltet hatte, sollte er sie gefälligst auch selbst beseitigen. Aber andererseits hatte sie auch keine Lust, mit anzusehen, wie Sand und Erdklumpen sich überall im Haus verteilten. Du liebe Güte, war er denn an diesem trüben Tag im Wald gewesen?

Sie kehrte den Schmutz zusammen und zog sich um, brachte die Liste mit den Bestellungen ins Arbeitszimmer im Obergeschoss und betrachtete sie zufrieden. Der Herbst war eine gute Jahreszeit, um Kosmetik zu verkaufen. Wenn die Gesichter blass wurden, die Kälte die Haut spröde werden ließ und die Feiertage vor der Tür standen, brachten sich all die Tuben und Dosen und Flakons leicht an die Frau. Gönnen Sie sich ruhig mal was, sagte sie zu ihren Kundinnen. Das hatte sie in der Schulung der Firma gelernt. Es half tatsächlich; ein Augenzwinkern, ein verschwörerischer Unterton, und schon war wieder ein Bestellzettel ausgefüllt. Die Arbeit für heute war getan. Jetzt hatte sie Hunger, aber wo blieb der Junge?

Sie ging in die Diele zurück, holte ihr Handy aus der Handtasche und wählte seine Nummer. Es klingelte einmal, zweimal, hörte auf.

»Hallo – Jacob?«, sagte sie in die Stille hinein. »Jacob?«, noch einmal. Keine Antwort.

Aber da war doch jemand dran!

»Was soll das? Jacob, jetzt melde dich schon.« Sie betrachtete das Display. Zumindest auf ihrer Seite war das Netz stabil. Sie lauschte. »Jacob, hörst du mich?«

Kicherte da jemand? Sie bekam eine Gänsehaut, drückte das Gespräch weg und rieb sich die Oberarme. Was war denn bloß los? Sie ging in die Küche, und während sie zwei Scheiben Brot abschnitt, ließ sie den Tag Revue passieren. Sie hatten zusammen gefrühstückt, ein paar eilige Happen, dann war er wie immer losgerannt, um den Schulbus noch zu erwischen. Keine besonderen Vorkommnisse also, auch beim Mittagessen nicht. Vielleicht war er ein bisschen schweigsam gewesen, aber auch das war nichts Neues. Jedenfalls erzählte er ihr gewöhnlich nicht, was er erlebte, was er dachte, vorhatte, tat. Längst hatte sie aufgehört zu fragen. Es stand eben nicht mehr so toll zwischen ihnen. Wann hatte das eigentlich angefangen? Und ginge es wieder vorbei?

Sie nahm die Halbfettmargarine aus dem Kühlschrank. Wurst oder Käse, überlegte sie und stutzte. Moment mal, wo war denn der Teller mit der Quiche? Hatte Jacob doch schon gegessen? Aber sie hatte ihm gesagt, dass sie die Quiche für den nächsten Tag aufheben wollte. Sie konnte am Samstag nicht kochen. Das Weinregal im Keller war dran und auch die Terrasse. Hielt er sich jetzt nicht einmal mehr an ihre Absprachen? Sie schloss die Kühlschranktür und setzte sich an den Tisch. Langsam wurde ihr das unheimlich. Jacob war ein Griesgram im Umgang mit ihr, aber bis jetzt hatte sie sich auf ihn verlassen können. Ob Holger etwas wusste? Sie rief ihn an.

Aber Holger wusste nichts. Sie ging in Jacobs Zimmer und fand das übliche Durcheinander vor. Sogar die Schulsachen lagen auf dem Boden verstreut und …

Der Schreck traf sie in der Magengrube, als sie die leere Fläche auf dem Schreibtisch bemerkte, auf der normalerweise das Notebook stand. Früher hatte er es manchmal mitgenommen, wenn er unterwegs gewesen war, aber seit er das Smartphone besaß, war das Notebook immer zu Hause geblieben. Sie rieb sich den Bauch. Das Notebook weg. Die Quiche weg. Und keine Nachricht. Sie ging ins Bad. Seine Zahnbürste war da, der Kulturbeutel auch. Wieder die Treppe nach unten. Sie entdeckte den Schmutz auf dem Teppich im Wohnzimmer. Schritte bis zum Tisch und wieder zurück. Die Obstschale war beinahe leer, nur eine überreife Birne lag noch darin.

Ich will eine Erklärung, jetzt sofort, dachte sie und wählte erneut seine Nummer. Wieder diese komische Stille am anderen Ende. Und keine Antwort auf ihre Fragen. Aber da atmete jemand, das hörte sie genau.

Sie ging zur Abstellkammer und holte den Staubsauger heraus. Das Gröbste konnte sie damit erledigen, aber der feuchte Schmutz würde auf jeden Fall Spuren hinterlassen. Das ging zu weit, die konnte Jacob selbst beseitigen, sobald er zu Hause war. Bevor sie die Tür der Abstellkammer wieder schloss, schaute sie noch einmal hinein. Irgendetwas war anders als sonst. Diese Lücke auf der Ablage, war die immer schon da gewesen? Der Karton mit dem Weihnachtsschmuck stand an seinem Platz, die Picknicktasche auch, und die Sitzkissen für die Gartenstühle lagen, wo sie hingehörten. Aber wo war die Decke?

Ihr Herz schlug schneller. Wo war ihre alte Lieblingsdecke für die Badeausflüge zum Weiher? Ganz sicher hatte sie die Decke nicht weggeworfen, auch wenn sie nach all den Jahren vom häufigen Waschen schon verschlissen war. So viele Erinnerungen zeigten sich jedes Mal, wenn sie mit der Hand darüberstrich. Ihre Lizzy hatte auf dieser Decke gelegen und Annette und Holger auch. Pavel hatte sich bei ihrem ersten Rendezvous auf dieser Decke ausgestreckt. Und Jacob war als Baby darauf herumgekrabbelt. Hatte er sie etwa mitgenommen? Warum? Und wohin?

Sie zog ihre Gartenschuhe an, öffnete die Wohnungstür und eilte zum Carport. Jacobs Fahrrad war nicht da. Wenn er mit dem Fahrrad unterwegs war, konnte er ja nicht weit sein, es sei denn, er war zum Bahnhof geradelt.

Sie ging zurück ins Haus. Ob sie bei ihren Eltern nachfragen sollte? Gewöhnlich machte Jacob einen großen Bogen um sie, und bis zu ihnen würde er nicht mit dem Rad fahren müssen. Aber vielleicht hatten sie ihn auf der Straße getroffen, vielleicht hatte er ihnen etwas gesagt, das sie ihr ausrichten sollten. Sie nahm das Telefon von der Ladestation im Wohnzimmer und wog es in der Hand. Weißt du nicht, wo dein Sohn ist?, würde ihre Mutter fragen. Und ihr Vater? Wenn du zu Hause gewesen wärst, wüsstest du Bescheid. Sie verzog das Gesicht und legte das Telefon auf den Tisch. Es begann zu kribbeln unter der Haut, einmal mehr. Sie atmete flach, atmete schnell, schloss die Augen und hielt sich die Hände vors Gesicht, aber sie konnte sich nicht beruhigen. Sie ging in die Küche, holte den Blister aus der Dose oben links im Regal und drückte eine Tablette heraus. Die verlässlich Tröstende. So nett war der Nachmittag mit ihren Kundinnen gewesen, sie hätte nicht gedacht, heute noch eine zu benötigen. Sie schraubte die Wasserflasche auf, goss ein Glas halbvoll, legte sich die Tablette auf die Zunge, trank und schluckte.

Gleich. Gleich würde es gut sein. Gut für ein paar Stunden. Sie seufzte und entspannte sich. Jetzt konnte sie den Teppich absaugen.

Sie aß allein. Und sie aß wenig. Die Nachrichten im ersten Programm liefen an ihr vorbei, der Krimi langweilte sie, das Buch war zu schwierig an diesem Abend. Sie konnte sich einfach nicht konzentrieren. Stunde um Stunde wartete sie im Wohnzimmer, kauerte im Halbdunkel der gedimmten Stehlampe und starrte die Wände an, die kupferfarben gemusterte Strukturtapete, die sie ausgesucht hatte und die niemand mochte außer ihr. Aber das war egal. Es war ja ohnehin ihr Haus. Sie war es, die es sauber hielt. Sie war es, die es bewohnte. Die anderen waren nur Durchreisende. Pavel war im Grunde schon weg, und auch Jacob würde bald gehen. Sicher würde er sich davonmachen, so schnell er konnte. Vielleicht war er schon fort. Noch einmal probierte sie, ihn zu erreichen. Jetzt war die Mailbox an.

Ihre Augen hatten sich an das Dämmerlicht gewöhnt. Die Falten der Gardine zeichneten sich dreidimensional vor dem Fenster ab, und sie konnte die Konturen der Gegenstände auf dem Couchtisch erkennen; die Kristallschale mit der überreifen Birne darin, das Telefon, das halbgefüllte Wasserglas und die gebundene Ausgabe der Buddenbrooks mit dem Lesezeichen weit hinten zwischen den Seiten. Der in Öl gebannte Schoner hatte die Segel gebläht. Seit einer Ewigkeit schon durchquerte er die Meere über dem Fernseher. Sie hatte das Bild seit Jahren nicht beachtet, aber während sie wartete, kam Leben in die See und auf das Schiff. Winzige Matrosen kletterten in den Masten herum, hielten Ausschau nach Land oder eilten über das Deck. Der Kapitän stand am Bug und sah dem Ziel seiner Reise entgegen. Er hielt die Hände auf dem Rücken gefaltet und schnippte die Daumen gegeneinander. Ein ungeduldiger Mann.

Eigentlich mochte sie keine Segelschiffe. Ihr wurde stets übel auf See vom Schwanken und Schaukeln, und der Gedanke, allein vom Wind getrieben zu werden, war ihr eine Qual. Und doch, das Bild war ein Geschenk ihrer Eltern. Sie hatten es bei der Vernissage eines einheimischen Künstlers auf Sylt gekauft, kurz nachdem Jacob zur Welt gekommen war. Ihr Vater hatte es selbst angebracht, ihre Mutter hatte ihm Dübel und Bohrmaschine gereicht und zufrieden genickt, als es hing. Ein schöner Platz.

Je später es wurde und je stiller auf den Straßen, desto tiefer sank sie in den Sessel, schob die Armbanduhr wieder und wieder in den Lichtkegel der Stehlampe. Angestrengt lauschte sie. Das Brummen des Kühlschranks in der Küche drang ebenso zu ihr durch wie die Tür, die im Nachbarhaus klappte, und der startende Motor eines Autos irgendwo im Dorf. Schließlich verstummten auch die letzten Geräusche. Noch einmal die Uhr. Sie zeigte Viertel nach drei, und Karin ahnte, dass es niemanden gab, bei dem Jacob um diese Zeit noch sein konnte. Die Wirkung der Tablette ließ nach. Sie dachte daran, eine zweite zu nehmen, aber sie hatte sich versprochen, sparsam damit umzugehen. Schließlich warnte der Beipackzettel vor zu häufigem Gebrauch. Und sie wollte sich an die Regeln halten.

Mit der linken Hand umklammerte sie das Gelenk ihrer rechten, grub die Nägel ins Fleisch. Regeln. Ihr ganzes Leben lang hatte sie Rosenkränze gebetet und ihr Zimmer aufgeräumt, hatte gelernt, die Gabel von der falschen in die richtige Hand zu wechseln, hatte die Zahnspange mehr als vier Jahre getragen, Grünkohl erst gekauft, wenn er Frost bekommen hatte, und Zimtsterne erst im Advent. Jeden Winter hatte sie den Gehweg vor dem Haus gestreut, kaum dass die ersten Schneeflocken zur Erde gerieselt waren, hatte die Elternabende in Jacobs Schule besucht und den Mitgliedsbeitrag für den Gymnastikverein stets pünktlich überwiesen. Und doch, am Ende hatte immer nur dieses eine Wort gestanden.

DURCHGEFALLEN.

Sie hatte es ignoriert. Sie hatte es fortgeschoben. Sie hatte es für lächerlich befunden und wieder und wieder das Gegenteil zu beweisen versucht. Sie hatte es in Schach gehalten, aber insgeheim wusste sie, dass es sich noch immer tief in ihrem Inneren verborgen hielt. Es wartete stets auf seine Chance und kroch bei der erstbesten Gelegenheit aus seinem Versteck wie die Made aus verdorbenem Fleisch. Es lauerte beständig, und jetzt drängte es mit Macht hervor. DURCHGEFALLEN, pulsierte es in ihren Adern. DURCHGEFALLEN, stand auf der Tapete, und DURCHGEFALLEN, dröhnte es ihr in den Ohren, als kein Schlüssel sich im Schloss drehen wollte. Das Wort. Es schlug ihr in den Magen, gegen die Brust und verteilte Kopfnüsse. Sie schlang die Arme um ihren Schädel und schloss die Augen. Es half nicht. DURCHGEFALLEN, noch einmal. Das Wort donnerte in ihr und um sie herum, dann drückte es ihr die Kehle zu, bis sie zu ersticken glaubte.

Sie sprang auf, sah sich Hilfe suchend um, erblickte die Schale auf dem Tisch. DURCHGEFALLEN. Das Wort lag neben der Birne, die schon zu faulen begann, wo es sie berührte. Sie hastete vor, griff zu und schleuderte die Schale gegen die Wand. Das Kristall zerbarst in einem Scherbenregen, die Birne rollte zu ihr zurück, aber der Druck auf ihre Kehle verminderte sich. Sie schmiss auch das Glas und die Buddenbrooks. Wasser spritzte durch den Raum, das Buch polterte zu Boden. Nun griff sie das Telefon und holte erneut zum Wurf aus. Aber das Wort war schon geflohen. Sie hielt inne und sammelte sich, spürte, wie der Puls ihr im Hals hämmerte, und hörte das Rauschen in den Ohren. Alles, alles, nur nicht mehr das Wort.

Ihr Herz beruhigte sich nur langsam. Sie betrachtete die Tasten des Telefons, erinnerte sich an das letzte Mal, als sie Pavel wegen Jacob angerufen hatte.

In Prag wäre das nicht passiert. Warum seid ihr nicht hier?

Pavel war nicht wie ihr Vater. Er würde es nicht aussprechen, und doch lägen seine Worte wie ein Surren in der Leitung. Das würde sie jetzt nicht auch noch ertragen. Es surrte schon genug in ihrem Kopf. Aber sie musste mit jemandem reden, auch wenn es mitten in der Nacht war. Noch einmal Holger anrufen? Oder doch lieber Annette? Immerhin war sie Jacobs Patentante und gewöhnlich viel besser über alles informiert, was ihn betraf. Bei ihr war er nicht wortkarg, wenn sie ins Dorf kam. Es wurmte Karin gewaltig, aber jetzt war nicht die Zeit für solch einen Ärger. Vielleicht wusste Annette ja wirklich mehr als sie.

Sie drückte die Kurzwahltaste für Annettes Nummer und wartete. Als eine verschlafene Stimme am anderen Ende der Leitung in den Hörer nuschelte, traten ihr die Tränen in die Augen. Das hier war nicht auszuhalten.

Es aussprechen.

Jacob.

Verschwunden.

Hinter dem Schein die Wahrheit

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