Читать книгу Hinter dem Schein die Wahrheit - Claudia Breitsprecher - Страница 11

Samstag, 15. November 2014, 8.37 Uhr

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Holger verließ die Wohnung, ohne seine Jacke anzuziehen, lief die wenigen Schritte durch das Foyer bis zur Eingangstür des Sporthauses, öffnete sie und trat ins Freie. Er zog ein knittriges Stofftaschentuch aus seiner Jeans, nahm die Hornbrille ab und putzte sie, setzte sie wieder auf und schaute sich um. Es regnete nicht mehr, aber die Wolken hingen wie Wassergeister in der hügeligen Landschaft. Dampf umschloss die Spitzen der Tannen im Wald, und Dampf entwich auch seinem leicht geöffneten Mund, wenn er ausatmete. Wenigstens kein Nebel, dachte er, das Spiel der A-Jugend um halb drei konnte stattfinden. Es war die einzige Partie an diesem Tag, aber gerade bei der A-Jugend war es besser, die Linien auf dem Spielfeld vor dem Anpfiff nachzuziehen. Nicht noch einmal wollte er solchen Ärger bekommen wie vor vier Wochen. Dabei war es doch wirklich nicht seine Schuld gewesen, dass sie aus dem Pokalwettbewerb geflogen sind. Mittelkreis, Seitenlinien, Eckstoßviertel – alles hatte er geweißt, auch die Strafraumbegrenzung. Trotzdem war das halbe Team nach dem Schlusspfiff auf ihn eingestürmt. Außerhalb des Sechzehners sei das Foul in der Nachspielzeit gewesen, klar außerhalb, und wenn der Schiedsrichter die Linien hätte sehen können, hätte er nicht auf Elfmeter entschieden. Es wäre beim Unentschieden geblieben, Verlängerung, noch alles möglich. So aber war die A-Jugend des TSV Eschenreuth schon in der zweiten Runde ausgeschieden. Weg vom Fenster. Erledigt.

Sie hatten ihn mit Worten beschimpft, die ihm niemals über die Lippen kämen. Pah, junge Männer wollten sie sein. Banausen waren sie allesamt, besonders dieser Philipp war ein übler Bursche. Mit geballten Fäusten war der Torwart auf Holger losgegangen, erst im letzten Moment hatte sein Trainer ihn zurückgehalten. Holger schüttelte den Kopf. Nein, das brauchte er bestimmt nicht noch mal.

Er kramte in seiner Hosentasche, holte den Schlüsselbund hervor und wog ihn einmal mehr in der Hand wie einen Schatz. Und ein Schatz war es ja auch, ein Zuhause mit Wohnzimmer, separatem Schlafraum, Kochnische und sogar einem eigenen Duschbad hing an diesem Ring, Ölheizung, Internetanschluss und Kabelfernsehen, Abstellkammer und Waschmaschine, Schränke, Kommoden und eine nagelneue Federkernmatratze. Wenn das kein Luxus war. Und dazu noch das Büro. Na gut, es war klein. Wenn er sich zwischen dem Regal an der hinteren Wand und dem Schreibtisch auf den Drehstuhl zwängen wollte, musste er sich schlank machen. Aber noch immer überkamen ihn Staunen und Stolz, sobald er dort Platz nahm, all die Mannschaftsfotos und die Wimpel der Gastvereine betrachtete, die eine Tafel mit den Ansetzungen der Fußballspiele studierte oder die andere, auf der in der warmen Jahreszeit die Stunden des Schulsports eingetragen waren. Eine Getränkekasse links in der Schreibtischschublade, ein Kühlschrank hinter der Tür. Das alles lag in seiner Hand wie auch die Schlüssel für die Umkleidekabinen, die Duschräume und eben den Geräteschuppen, den er nun aufschloss. Er füllte den Kreidewagen nach und schob ihn zum Spielfeld.

Zuerst die Außenlinien. Er war noch nicht vom Tor bis zur Eckfahne gekommen, da bildeten sich schon die ersten Schweißperlen auf seiner Stirn. Er wischte sie mit dem Handrücken fort, schob die Ärmel seines ausgeleierten Lieblingswollpullovers bis zu den Ellbogen hoch und ging weiter, bog zur Seitenlinie ab, kam am Imbisswagen vorbei, der noch geschlossen war. Viel Umsatz würde Barbara heute sicher nicht machen bei nur einem Spiel. Und im November kamen kaum Leute aus der Kurklinik vorbei, um zu sündigen. Er schmunzelte in sich hinein. Bratwurst statt Brechbohnen, Pommes statt Perlhühnchenbrust. Barbara gab in diesen Fällen besonders viel Ketchup in die Pappschale, damit die Gäste wiederkamen, grinste verschmitzt und wünschte einen guten Appetit. Sie war schon eine Seele, die kräftige Frau in ihrem Wagen, hatte das Herz am rechten Fleck. Er würde es ihr niemals vergessen, dass sie auch ihm nach seiner Rückkehr einen guten Appetit gewünscht hatte, selbst als er ihr noch kein Geld auf den Teller legen konnte, der auf dem Tresen stand. Und wenn er die kostenlose Mahlzeit partout nicht hatte annehmen wollen, hatte sie ihm ihre Autoschlüssel gereicht. Hol mir doch den neuen Eimer Senf aus dem Wagen, dann sind wir quitt.

Am hinteren Tor war der Boden besonders tief. Er ging die Linie dort zweimal ab, schob den Wagen weiter. Inzwischen rann ihm der Schweiß in Strömen die Schläfen hinab. Er blieb stehen, zog sein Taschentuch hervor und wischte sich das Gesicht trocken. Was war denn heute bloß los? Auch wenn er immer leicht schwitzte, kam ihm die Arbeit an diesem Morgen viel anstrengender vor als sonst. Ob es daran lag, dass er schlecht geschlafen hatte? Immer wieder war er aufgewacht, hatte sich gefragt, ob Jacob inzwischen zu Hause war. Karin hatte gestern Abend am Telefon so seltsam geklungen. Leichthin hatte sie geträllert, in diesem typischen Ton, den sie an den Tag legte, wenn etwas nicht stimmte. Gelassen wollte sie klingen. Wem machte sie etwas vor?

Er steckte das Taschentuch ein und ging weiter, vergewisserte sich, dass die Kreide gleichmäßig zu Boden rieselte. Ob die beiden sich gestritten hatten? Warum sonst sollte Jacob Karins Anruf nicht entgegennehmen? Die Kinder waren heutzutage doch ständig erreichbar, ach, Blödsinn, Kinder, was dachte er da. Jacob war doch längst ein junger Mann, selbst wenn er sich vermutlich noch nicht rasieren musste, klein und zerbrechlich wirkte. Er kam eben nach seiner Mutter, was die Statur anging, aber das war wohl auch schon alles. Aufmüpfig hatte er Karin schließlich niemals erlebt, und aufmüpfig wurde Jacob in letzter Zeit immer öfter, auf seine eigene stille Art, ein bisschen so wie der Igel, der manchmal um den Imbisswagen trippelte, um nach einem heruntergefallenen Bissen zu suchen, und der sich einrollte, sobald Holger ihn in Richtung des Schälchens stupste, in das er für ihn ein bisschen Katzenfutter gab. Auch Jacob rollte sich manchmal am Imbisswagen ein, wenn die anderen Jungs ihn hochnahmen, weil er nicht wusste, was Abseits war, oder wenn Barbara ihn fragte, wie es auf dem Schulhof mit den Mädchen lief. Dann blieb er stumm, zog die schmalen Schultern hoch und vergrub die Hände in den Jackentaschen. Es war überhaupt komisch, dass er sich neuerdings so oft am Sportplatz blicken ließ, um sich die Spiele anzusehen, wo er doch für Fußball nichts übrighatte. Nun ja, manchmal trank er ein Bier oder zwei, vielleicht kam er deshalb. Oder war er mit einem der Jungs befreundet, die beim TSV spielten? Vermutlich. Wenn Holger es recht überlegte, kam Jacob vor allem, wenn die A-Jugend ein Heimspiel hatte. Sicher war ein Kumpel im Team. Er sagte ja nichts. Das Einrollen hatte er jedenfalls raus, aber das mit den Stacheln musste er noch üben. Holger verzog das Gesicht. Das war ja auch nicht so einfach. Wer wusste das besser als er.

Der Kreidewagen war beinahe leer, als Holger ihn in den Geräteschuppen zurückbrachte. Jetzt musste er nur noch die Bälle aufpumpen und die Netze in die Tore hängen. Als er gerade die Luftpumpe zur Hand nahm, hörte er, dass im Büro das Telefon klingelte. Er zwängte sich an Slalomstangen, Startblöcken und Medizinbällen vorbei und aus dem Geräteschuppen heraus, es klingelte weiter und weiter.

»Na endlich«, sagte Karin, als er das Gespräch annahm. »Ich habe es schon zweimal auf deinem Handy probiert.«

»Hallo, Karin. Tut mir leid. Ich war schon auf dem Platz. Das Ding steckt bestimmt in meiner Jacke.«

»Und die hattest du mal wieder nicht an.«

Er nickte, als könnte sie ihn sehen. »Genau.«

»Du bist früh draußen heute.«

»Schlecht geschlafen. Und ich hab auch noch zu tun.«

Sie seufzte. »Geschlafen habe ich gar nicht letzte Nacht, Holger. Und deshalb rufe ich auch an.« Sie schwieg einen Augenblick. »Es geht um Jacob. Er ist noch immer nicht da. Ich meine, er ist nicht nach Hause gekommen. Und ich kann ihn einfach nicht erreichen.« Heute trällerte Karin nicht mehr. Ihm schien, dass ihre Stimme zitterte.

»Hm. War denn was Besonderes los bei euch?«, fragte er und stellte das Bürofenster auf Kipp.

»Nein, das ist es ja. Ich kann es mir nicht erklären. Er hat was zu essen mitgenommen, den Rest von meiner Quiche und Obst. Ich glaube, auch eine Decke.«

»Na, das heißt doch, er hat was geplant. Dann ist ihm sicher nichts passiert.«

»Aber was soll das? Sein Fahrrad ist auch nicht da. Wo kann er denn hingefahren sein?«

»Karin, er ist siebzehn. Wer weiß, mit wem er deine Quiche teilt. Wart’s ab, er wird schon wieder auftauchen.«

»Nein, ich kann nicht mehr warten! Etwas stimmt nicht, das spüre ich genau.« Jetzt klang sie gereizt.

»Dann komm rüber, ich mach uns Kaffee und wir sprechen drüber«, versuchte er sie zu beruhigen.

»Nein, das geht nicht. Ich habe Annette Bescheid gesagt. Sie ist auf dem Weg hierher – es kann nicht mehr lange dauern, bis sie da ist.«

»Annette?«, fragte er ungläubig und überlegte. Bestimmt drei Jahre war es her, seit sie zum letzten Mal in Eschenreuth gewesen war. Und nun kam sie wegen Jacobs kleinem Ausflug?

»Ja. Ich muss auf sie warten. Kannst du dich nicht mal umhören? Vielleicht hat irgendjemand Jacob gesehen. Vielleicht findest du ihn ja sogar.«

Er fühlte sich überrumpelt. Das war doch Unsinn. Wo sollte er denn suchen? Wenn der Junge eine Decke mitgenommen hatte, konnte er überall sein, wo es einigermaßen warm und trocken war. In diesem Dorf oder im nächsten. »Meinst du wirklich …«

»Bitte, Holger«, sagte Karin auf eine Weise, die keinen Widerspruch duldete. »Ich ertrage diese Ungewissheit nicht länger.«

Holger kratzte sich das unrasierte Kinn. Die Bälle konnte er auch später noch aufpumpen. Und das mit den Tornetzen war auch schnell erledigt. »Na schön, wenn du unbedingt willst«, sagte er. »Aber gib mir gleich Bescheid, wenn er inzwischen nach Hause kommt, ja? Ich nehme das Handy mit.«

Er zog auch seine Jacke an, obwohl er es viel zu warm dafür fand, aber womöglich fing es wieder an zu regnen. Er setzte seinen Helm auf und stand ratlos neben dem Moped, wusste nicht, wohin er fahren sollte. Zum Dorfplatz vielleicht. Er könnte mal in der Bäckerei fragen, und bald öffnete auch der Frisiersalon. Neue Deutsche Welle, hatte Annette die Frisuren früher genannt. Er schmunzelte. Alte deutsche Welle inzwischen wohl eher. Auf jeden Fall war der Laden seit ewiger Zeit eine Institution in der Gegend, zeitlos und unvergänglich sein Besitzer, das Inventar und die Kundschaft. Am Samstagvormittag versammelten sich vor allem die Frauen zahlreich vor den Spiegeln, und es wurde viel geredet beim Schneiden und Färben, Eindrehen und Auskämmen. Der Frisiersalon war auf jeden Fall ein guter Anlaufpunkt, wenn man Fragen hatte. Und vielleicht war ja noch jemand verschwunden. Ein Mädchen zum Beispiel, dann wäre die Angelegenheit schon beinahe geklärt. Er hätte Jacob aushorchen sollen, ihm hätte der Junge womöglich mehr erzählt als Barbara, von Mann zu Mann, wie man so sagte. Aber er hatte Jacob nicht in Verlegenheit bringen wollen. Schließlich wusste er genau, wie sich das anfühlte mit der Lust in diesem Alter, auch wenn das bei ihm niemand hatte wissen wollen. Einen angehenden katholischen Pfarrer fragte man so etwas schließlich nicht. Als ob sich da nichts regte, als ob die Hormone sich an die Regeln aus Rom hielten. Enthaltsamkeit. Zölibat. Er musste nicht erst siebzehn werden, um in Schwierigkeiten zu geraten. Jesses, Rosi. Gerade vierzehn Jahre alt war er an diesem furchtbaren Tag. Was hatte er sich gequält. Und wie schaurig wurde ihm noch heute, wenn er bloß daran dachte.

Hinter dem Schein die Wahrheit

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