Читать книгу Lieber Barack: Die außergewöhnliche Partnerschaft zwischen Angela Merkel und Barack Obama - Claudia Clark - Страница 6
ОглавлениеKapitel 1: „Unsere Lebenswege“
Nichts illustriert den Unterschied zwischen den freien westlichen Staaten und den kommunistischen Staaten während des Kalten Krieges besser als der Bau der Berliner Mauer im August 1961. Als das kommunistische Regime in Ostdeutschland den „antifaschistischen Schutzwall“ rechtfertigte, war Angela Kasner gerade 7 Jahre alt geworden. Später gab sie an, dass der Mauerbau die erste Erinnerung an ein wichtiges politisches Ereignis gewesen sei.
An jenem historischen Sonntagmorgen, dem 13. August 1961, machte sich Familie Kasner gerade auf den Weg zum Gottesdienst. „Mein Vater predigte an jenem Sonntag. Die Atmosphäre in der Kirche war fürchterlich,“ erinnert sich Angela Merkel, „ich werde das nie vergessen. Menschen haben geweint, meine Mutter auch. […] Das ganze Land wurde plötzlich zu einem Gefängnis. Sämtliche Grenzen wurden mit Stacheldraht und Kontrolltürmen verstärkt und ganz Westberlin war plötzlich von einer 155 Kilometer langen, vier Meter hohen Mauer umgeben.“1
Weil die Vereinigten Staaten und Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg so starke Verbündete waren, lehnten die Amerikaner die Handlungen der kommunistischen Regierung stark ab. Im Laufe der Jahre haben die US-Bürger und die US-Regierung mehrere Maßnahmen getroffen, um ihre Solidarität zu ihren transatlantischen Freunden zu zeigen.
In den 27 Jahren, in denen es eine innerdeutsche Grenze gab, haben sich ganz gewöhnliche US-Bürger und amerikanische Politiker regelmäßig für Demokratie und Einheit in Deutschland eingesetzt: So haben z. B. amerikanische Bürger 1960 als Symbol der Solidarität eine „Freiheitsglocke“ getreu der historischen „Liberty Bell“ nach Berlin geschickt. Noch deutlicher machte es der ehemalige US-Präsident John F. Kennedy mit seiner ergreifenden „Ich bin ein Berliner“-Rede vor dem Brandenburger Tor 1961. Hier erklärte er vor tausenden Berlinern: „Diejenigen, die den Unterschied zwischen der freien und kommunistischen Welt nicht kennen, sollen nach Berlin kommen.“2 Ein ähnlich emotionales Plädoyer machte Präsident Ronald Reagan 1988, als er mit dem russischen Staatschef Michail Gorbatschow gemeinsam vor der Berliner Mauer stand und forderte: „Mr. Gorbatschow, reißen Sie diese Mauer nieder.“3 Eineinhalb Jahre später, nachdem er diese berühmten Worte sprach, erlebten Millionen Ostdeutsche zum ersten Mal, was Freiheit bedeutete. Und zum ersten Mal nach 27 Jahren war die Berliner Mauer kein unüberwindbares Hindernis mehr.
Niemand hat von diesen Ereignissen mehr profitiert als die damals 35-jährige Angela Merkel. Der Fall der Berliner Mauer ebnete ihr den Weg von der unbekannten Physikerin aus dem Osten zum ersten weiblichen Staatsoberhaupt Deutschlands und gleichzeitig zur ersten Kanzlerin des vereinten und freien Deutschlands. Im Laufe von Merkels politischem Aufstieg entstand für sie ein ganz besonderes Image von den USA – nämlich das von einem Land, das mit dem Kalten Krieg verbunden ist und ihrem Deutschland, das durch eine grausame Grenze geteilt war, Hilfe und Unterstützung bot. Sie war überzeugt, dass Amerika einen großen Einfluss auf ihre persönliche Freiheit und ultimativ auf ihren eigenen Erfolg hatte. Daher bildeten für Angela Merkel transatlantische Beziehungen die zentrale Grundlage der deutschen Außenpolitik.4 Diese Denkweise half ihr, eine Beziehung mit sämtlichen amerikanischen Präsidenten aufzubauen, mit denen sie in ihrer Amtszeit zusammenarbeiten sollte.
* * *
Angela Dorothea Kasner wurde am 17. Juli 1954 in Hamburg geboren. Ihr Vater, Horst Kasner, war damals Pfarrer und kam im selben Jahr dem Wunsch der evangelischen Kirche nach, mit seiner Familie aus dem freien Westdeutschland in den von den Kommunisten kontrollierten Osten zu ziehen, um den dortigen Mangel an evangelischen Pastoren auszugleichen. Kasner ließ seine Frau Herlind, die damals mit Angela im siebten Monat schwanger war, zunächst in Hamburg zurück und sollte seine Tochter zum ersten Mal sehen, als Herlind mit der acht Wochen alten Angela in ihrem neuen Zuhause im Osten ankam.5
Hans Otto Wölber, einer von Kasners älteren Pastoren-Kollegen in Hamburg und späterer Bischof für den Sprengel Hamburg, riet dem jungen Kasner zu diesem Schritt. Da Kasner ursprünglich aus dem Osten Deutschlands stammte, war dieser leicht zu überzeugen – aber scherzte, dass „… diejenigen, die in den Osten reisten, ganz normale ‚kommunistische Idioten‘ sind.“6 Seine Motivation hatte jedoch religiöse Gründe: „Ich würde überall auf der Welt die Worte Gottes predigen, selbst in Afrika.“7 Es war ohne Frage eine kontroverse Entscheidung und eine, die er später bereute.8
In der neuen Heimat angekommen leitete Angelas Vater ein Seminar für kirchliche Dienste sowie eine Einrichtung für geistig Behinderte. Ihre Mutter, eine studierte Lehrerin für Latein und Englisch, kümmerte sich um die Familie. Angela, ihr jüngerer Bruder und ihre jüngere Schwester wuchsen in Templin auf, einer von Landwirtschaft geprägten Kleinstadt, ungefähr 80 km nördlich von Berlin. Obwohl Angelas Mutter lediglich den Haushalt führte – die Ostregierung hatte ihr die Arbeit als Sprachlehrerin untersagt –, lebte die Familie ein angenehmes Mittelklasse-Leben und hatte sogar zwei Autos, was für damalige Verhältnisse geradezu luxuriös war.9
Pastor Kasner war mit den Prinzipien der sozialistischen Lehre zwar einverstanden, allerdings war er vehement dagegen, in welcher Form die kommunistische Regierung sie damals implementierte. Zu den vielen Restriktionen, welche die ostdeutsche Regierung ihrem Volk auferlegte, gehörte das Verbot, in der Öffentlichkeit politische Diskussionen zu führen. Zudem spionierte das Regime seine eigenen Bürger aus und es wurde auf jeden geschossen, der aus dem Land fliehen wollte. In seinem Priesterseminar hielt er oft politische Veranstaltungen und beim Abendessen der Kasners gab es hitzige Diskussionen.10
Angelas Mutter Herlind wuchs während der Nazi-Ära auf und bestand darauf, dass ihre Kinder vor der Propaganda der Ost-Regierung geschützt werden sollten. Sobald die Kinder von der Schule nach Hause kamen, hielt Herlind daher zunächst eine Art Tages-Nachbesprechung ab; die Kinder mussten sie über alles Gelernte informieren, wobei Herlind dann die Fakten richtigstellte. Angela sagte später über diese zweistündigen Sitzungen mit ihrer Mutter, dass es eine Zeit der „Widerworte“11 war, die Herlind dazu nutzte, um die „Gehirnwäsche“ der von der Regierung kontrollierten Schule möglichst gering zu halten.
Obwohl die Bürger in Ostdeutschland mehr Freiheiten als die Menschen in anderen kommunistisch regierten Staaten genossen, hatten dort Mitarbeiter der Kirchen und ihre Familien im Vergleich zu anderen DDR-Bürgern besonders mit Verfolgung und Diskriminierungen zu kämpfen. Pastor Kasner und seine Familie waren dem kommunistischen Regime alles andere als willkommen. Seine Verbindung zur Kirche in Kombination mit seinen westdeutschen Wurzeln löste bei der Stasi, der ostdeutschen Geheimpolizei, Verdacht aus, sodass alle seine Unternehmungen in einer Akte dokumentiert wurden.12 Die Tatsache, dass Angela als Teenager ihren Glauben mit einer Konfirmation in der evangelischen Kirche feierte, statt mit der für das DDR-Regime üblichen „Jugendweihe“, verstärkte nur den Verdacht der Stasi. Aufgrund dieser besonderen Situation meldeten ihre Eltern sie 1968 für die Freie Deutsche Jugend (FDJ) an, der staatlichen Jugendorganisation der DDR. Dieser Beitritt warf später Fragen auf. Doch der einzige Grund für Angelas Eltern, diese Mitgliedschaft gutzuheißen, war eine damit verbundene Garantie auf einen Studienplatz. Denn in der DDR wurde Schülern häufig der Zugang zu Universitäten verweigert, wenn diese nicht Mitglieder der FDJ waren.13
Die Teilnahme daran stellte sich als wichtig heraus, denn Merkel gab später in einem Artikel von George Packer für The New Yorker zu, dass ihre Mitgliedschaft bei der FDJ „siebzig Prozent Opportunismus“ war.14 Merkels Eltern waren eindeutig mit den Maßnahmen der kommunistischen Diktatur nicht einverstanden. Aber sie verstanden, dass es der Kinder wegen notwendig war, zumindest so zu tun, als ob man sich an die Regeln der Regierung halten würde – eine wichtige und nützliche Fähigkeit, vorallem für erfolgreiche Führungspersönlichkeiten oder Politiker.
Schon früh zeigte sich, dass Angela eine besondere Begabung für Mathematik und Russisch hatte. Politikwissenschaftler Matthew Qvortrup schrieb in seinem Buch Angela Merkel: Europe’s Most Influential Leader, dass Angelas Eltern sie dazu ermutigten, Russisch zu lernen – „nicht nur, weil sie und damit auch ihre Familie guten Willen zum Regime zeige, sondern sich dadurch auch die Möglichkeit ergab, berühmte Autoren wie Leo Tolstoi zu lesen.“15 Ein ehemaliger Mathematiklehrer sagte über Angela, dass sie „die begabteste“ Schülerin war, die er jemals unterrichtet habe. Und auch ihr Russisch war so gut, dass sie sich im Alter von 14 Jahren für die Russisch-Olympiade qualifizierte.16 Offensichtlich hatte Angela ihr Talent für Sprachen von ihrer Mutter vererbt bekommen – ein Können, das sich später im Laufe ihre Karriere als Politikerin noch als praktisch erweisen sollte.
Obwohl es noch einige Jahre dauern sollte, ehe Angela sich für Politik interessierte, so haben doch die vielen politischen Diskussionen in ihrem Elternhaus ihre Studienwahl entscheidend beeinflusst: „Ich wollte Physik studieren, weil das ostdeutsche Regime die Grundrechenarten und physikalischen Gesetze nicht einfach abschaffen konnte.“17 Gerade mal 19 Jahre alt, überraschte Angela ihre Eltern damit, Physik an der Karl-Marx-Universität in Leipzig zu studieren. Ihr wurde Templin zu eng. „Ich wollte von zu Hause weg und vor allem raus aus dieser Kleinstadt.“18
Die Beziehung zu ihrem Vater war damals nicht leicht und Pastor Kasner fing an, seine Entscheidung zu bereuen, mit seiner Familie in den Osten umgesiedelt zu sein. Wie Matthew Qvortrup berichtete, hatte Kasner immer hart gearbeitet und Angela hatte als Kind nicht viel von ihrem Vater gehabt. Angela erinnerte sich in einem späteren Interview: „Arbeit und Freizeit waren nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Und manchmal denke ich, dass die Verantwortung gegenüber seiner Familie oft seiner vielen Arbeit zum Opfer fiel.“19
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Kurz bevor die kommunistische Regierung die Berliner Mauer errichtete und das Leben der damals siebenjährigen Angela für immer veränderte, wurde Barack Hussein Obama II am 4. August 1961 in Honolulu auf Hawaii geboren. Sein Vater, Barack Obama Senior, gehörte dem Volk der Luo an und stammte aus Allegro, einem Dorf in Kenia. Er lernte 1960 seine zukünftige Ehefrau Stanley „Ann“ kennen, während beide die University of Hawaii besuchten.20 Als Ann und Barack Senior heirateten, war die Eheschließung zwischen unterschiedlichen Rassen in mehr als der Hälfte der US-Bundesstaaten eine Straftat. In seiner Autobiografie Dreams from My Father erklärte Obama seine Verwunderung darüber, dass seine Großeltern ihrer Tochter damals überhaupt die Erlaubnis gegeben hatten, einen Mann mit einer anderen Hautfarbe zu heiraten.21 Die Ehe hielt jedoch nicht sehr lange und wurde 1964 bereits geschieden. Sein Vater kehrte zurück nach Kenia, wo er später erneut heiratete. Obama sah seinen Vater nur noch einmal danach, nämlich als er die Familie zu Weihnachten 1971 auf Hawaii besuchte. Sein Vater verstarb bei einem tragischen Autounfall in Kenia 1982, als Obama gerade 21 Jahre alt war.22 Die große Abwesenheit seines Vaters in seinem Leben bewegte Obama dazu, auf der Suche nach seiner Herkunft und Familie zu sein. Die Antworten, die er bei dieser Mission fand, sollten den Grundstein für seine spätere Karriere bilden.
Obwohl die Eltern von Obama erst im März 1964 offiziell geschieden wurden, trennte sich das Paar bereits 1962, als Obamas Vater nach Harvard zog, um dort seinen Master-Studiengang in Wirtschaft zu beenden.23 Gleich nach der Scheidung 1964 heiratete Obamas Mutter Lolo Soetoro, einen Geologen, der aus Indonesien stammte. Drei Jahre später zog die Familie nach Indonesien und lebte dort in der Hauptstadt Jakarta. Obamas Stiefvater arbeitete als Tunnel- und Straßenvermesser für die Armee und seine Mutter unterrichtete Englisch an der amerikanischen Botschaft.24 Obama zufolge hat Lolo ihn zwar wie einen Sohn behandelt, aber er blieb distanziert. „Er hat nicht viel geredet, doch war es immer recht einfach, mit ihm zusammen zu sein. Gegenüber seiner Familie und seinen Freunden hat er mich stets als seinen Sohn vorgestellt, wobei er mir niemals mehr als nüchterne Ratschläge erteilte oder vorgab, dass unsere Beziehung mehr war als das.“25 Es gab zwar unterschiedliche Gründe, doch auch Obama hatte genau wie Angela eine ähnlich angespannte Beziehung zu den Vaterfiguren in seinem Leben.
Obamas Mutter schätzte die Güte und Freundlichkeit, die Lolo ihrem Sohn gegenüber zeigte, doch sie fühlte sich in ihrer neuen Heimat nicht wohl und oft einsam. Um sich davon abzulenken, konzentrierte sich Ann auf die Ausbildung ihres Sohnes. Die Familie hatte nicht genug Geld, um Obama an eine internationale Privatschule zu schicken. Daher ergänzte sie seinen Schulunterricht in Indonesien mit Materialien einer amerikanischen Fernschule. Während ihrer Zeit in Indonesien realisierte Ann, dass Obamas „wirkliches Leben irgendwo anders ist“26 und vermutete, dass die besten Chancen dafür zu Hause in den Staaten zu finden seien. Von daher begann sie, ihrem Sohn an fünf Tagen die Woche von 4 Uhr bis 7 Uhr morgens Englischunterricht zu geben.27 Ähnlich wie Angelas Eltern ihre Tochter ermutigten, sich mit Russisch zu beschäftigen, um ihr Leben im kommunistischen Ostdeutschland zu vereinfachen, so war Obamas Mutter davon überzeugt, dass er gute Englischkenntnisse für seinen Erfolg in den Staaten brauchte. Und während Angelas Eltern versuchten, den Lehren der kommunistischen Diktatur mit ihrer eigenen Überzeugung zu konterkarieren, so versuchte Obamas Mutter der rassenspezifischen Stereotypisierung in der amerikanischen Gesellschaft entgegenzuwirken.
Obama erklärte später, dass seine Mutter davon überzeugt war, dass jegliche Form von Bigotterie falsch sei und jeder Mensch als einzigartiges Individuum behandelt werden solle, unabhängig von seiner Rasse.28 Sie kaufte ihm regelmäßig Bücher, Zeitschriften und Aufnahmen von wichtigen Anführern der Bürgerrechtsbewegung, einschließlich Martin Luther King Jr. und Mahalia Jackson.29 Weil seine Mutter und Großeltern ihn vor sämtlichen Konfrontationen in Bezug auf Rasse schützten, gab er später zu, dass er als Kind nicht wahrnahm, „[…] dass mein Vater anders aussah als alle anderen um mich herum – dass er schwarz war wie Pech und meine Mutter weiß wie Milch habe ich kaum registriert.“30 Ann war sich der Hürden bewusst, die ein schwarzes Kind in einem weißen Amerika zu bewältigen hatte und wollte ihren Teil dazu beitragen, ihren Sohn vor Fehlinformationen und falschen Rassen-Stereotypen zu schützen.
Im Sommer 1971, nach Abschluss der vierten Klasse, ging Obama zurück nach Honolulu, um dort mit seinen Großeltern mütterlicherseits zu leben und um die renommierte Privatschule Punahou zu besuchen. Diese hochangesehene Schule – die Beste auf Hawaii und eine der ältesten Privatschulen westlich des Mississippis – befand sich 10 Minuten zu Fuß entfernt von der kleinen Wohnung seiner Großeltern.31 Die ersten drei Jahre lebte Obama in dieser kleinen Wohnung, in der auch noch seine Mutter und seine Halbschwester Maya Soetoro wohnten. Aber 1975 zogen die beiden zurück nach Indonesien, während Obama bei seinen Großeltern blieb, um die Schule zu beenden. Seine Mutter verbrachte die folgenden zwanzig Jahre in Indonesien, ließ sich von Lolo 1980 scheiden und erhielt ihren Doktortitel in Anthropologie 1992, ehe sie drei Jahre später auf Hawaii an einer gynäkologischen Krebserkrankung verstarb. Es ist tragisch, dass gerade sie, die Obama so viele Jahre lang gefördert und unterstützt hatte, nicht mehr miterleben konnte, wie ihr ältester Sohn der erste schwarze Präsident der Vereinigten Staaten wurde.
Obama beendete 1979 die Highschool und zog nach Pasadena, einem Vorort von Los Angeles, um das Occidental College zu besuchen, eine kleine, auf Geisteswissenschaften spezialisierte Privatuniversität. Nach zwei Jahren entschied sich Obama, in einer größeren Stadt zu wohnen; er zog nach New York City und schrieb sich 1981 in die Columbia University ein. Sein Studium der Politikwissenschaften beendete er zwei Jahre später mit einem Bachelor-Abschluss in der Tasche und arbeitete für die kommenden zwei Jahre als Manager für Bürger-Projekte, Finanzforscher und Autor.
Mit seinem Umzug nach Chicago, Illinois, im Juni 1985 wechselte er auch sein berufliches Umfeld: Er arbeitete als Gemeinde-Organisator für eine kirchliche Organisation namens The Developing Communities Project, um das Leben der Menschen in acht katholischen Gemeinden in Roseland, West Pullman und Riverdale an Chicagos South Side zu verbessern. Während seiner dreijährigen Arbeitszeit rief er ein Berufsvorbereitungs-Programm ins Leben, Vorbereitungskurse für den Besuch von Colleges und eine Mieterschutzorganisation.32 Allerdings fehlte ihm in Chicago Identität; er fühlte sich leer und beschrieb seine Situation als „einer Sprache entzogen, einer Arbeit entzogen, sogar der Fixierung auf Rasse entzogen, an die ich mich gewöhnt hatte und die mich zwang, in mein Inneres zu sehen, wo ich aber nur eine große Leere fand.“33 Auf Anraten seiner Kollegen reiste Obama im Sommer 1988 nach Kenia, um dort sein inneres Vakuum zu füllen und auch, um mit seinem Vater ins Reine zu kommen. Die Begegnungen mit seinem Vater und seiner Familie in Afrika sollten die Grundlage für Obamas Autobiografie Dreams from My Father werden.
Als Obama im Herbst 1988 wieder in die Staaten zurückkehrte, schrieb er sich als Jura-Student an der Harvard Law School ein. Nach Chicago kam er jedoch in den folgenden Jahren während der Sommermonate immer wieder zurück, um bei der Anwaltskanzlei Sidley Austin als Praktikant zu arbeiten. 1989 wurde ihm dort eine Mentorin zugewiesen: Michelle LaVaughn Robinson. Am 17. Januar 1964 in Chicago, Illinois geboren und aufgewachsen, absolvierte Michelle 1985 die Princeton University cum laude mit einem Abschluss in Soziologie und besuchte anschließend die Harvard Law School, die sie 1988 beendete. Ihre Beziehung zu Obama entwickelte sich im Laufe jenes Sommers und begann mit einem geschäftlichen Mittagessen und einer Gemeindeveranstaltung, auf der Obama sie zu beeindrucken wusste.
Der Harvard Law Review, eine von Jura-Studenten der Harvard Universität herausgegebene Zeitschrift, wählte Obama 1990 als ersten Schwarzen in ihr Herausgeber-Team. Dies weckte die Aufmerksamkeit der amerikanischen Medien und Obama erhielt daraufhin einen Publikations-Vertrag. Obama nutzte diese Gelegenheit und schrieb für den Harvard Law Review Essays über die Erlebnisse in Afrika, die später die Basis für seine Autobiografie Dreams from My Father wurden.
Obama absolvierte Harvard 1991 und ging zurück nach Chicago. Dort unterrichtete er von 1992 an Verfassungsrecht an der University of Chicago Law School. 2004 wurde er Mitglied der Anwaltskanzlei Davis, Miner, Barnhill & Galland, einer aus 13 Anwälten bestehenden Firma, die auf Bürgerrechts-Prozesse und Stadtteil-Entwicklung spezialisiert war.
Was sein Privatleben betraf, so heirateten Michelle und Barack im Oktober 1992. Aus ihrer Ehe gingen zwei Töchter hervor: Malia Ann (geboren 1998) und Natasha (genannt „Sasha“, geboren 2001). An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Michelle Obama mit gleich zwei Abschlüssen von US-Elite-Universitäten eine der am besten ausgebildeten First Ladies in der Geschichte der Vereinigten Staaten war. Als Ehemann einer tüchtigen Anwältin, Sohn einer akademisch-geprägten Mutter und Enkelsohn einer geachteten Matriarchin – Madelyn Dunham, sie verstarb nur einen Tag vor seiner Wahl – war Obama von der Anwesenheit intelligenter und gebildeter Frauen offensichtlich alles andere als eingeschüchtert; ein Umstand, der ebenfalls den Respekt und die Chemie zwischen ihm und Angela Merkel erklären könnte.
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Angela traf Ulrich Merkel, ihren ersten Ehemann, während des Studiums. Sein Nachname sollte später einer der wichtigsten auf der weltpolitischen Bühne werden. Matthew Qvortrup schreibt in seinem Buch, dass Ulrich seine zukünftige Frau zum ersten Mal in einer Bar sah, wo sie hinter dem Tresen arbeitete. Ihre Beziehung begann, nachdem die beiden 1972 im Rahmen einer studentischen Veranstaltung nach Leningrad reisten. Beide erinnerten sich an ihre gemeinsame Zeit in Leipzig als „sorgenfrei“. Im Rahmen ihrer eingeschränkten Reisefreiheit fuhren sie in Urlaub und gingen in ihrer Freizeit ins Kino oder Theater. Die beiden zogen 1976 in eine kleine Wohnung mit zwei anderen Paaren und teilten sich mit ihnen die Küche und das Badezimmer.34 Ulrich und Angela heirateten im September 1977.
Sowohl Angela als auch Ulrich arbeiteten an der renommierten Akademie der Wissenschaft der DDR in Berlin, der damals wichtigsten Forschungseinrichtung in Ostdeutschland. Ulrich wirkte als Assistent am Zentralen Institut für Optik und Angela als Assistentin an der Physikalischen Chemie. Beide waren sehr auf ihre Karriere konzentriert, sodass ihre Beziehung darüber zerbrach und nach vier Jahren Ehe Angela unerwartet ihren Mann verließ. Ulrich beschrieb die Umstände wie folgt: „Eines Tages packte sie plötzlich ihre Koffer und ging aus unserer gemeinsamen Wohnung. Sie hat alle Vor- und Nachteile genau analysiert und alle Konsequenzen in Betracht gezogen. Wir haben uns in Freundschaft getrennt. Wir waren beide finanziell unabhängig. Es gab nicht so viele Dinge, die wir zwischen uns aufteilen mussten.“35
Merkel konnte auf eine erfolgreiche Karriere als Quantenphysikerin blicken und hatte viele wissenschaftliche Artikel veröffentlicht. Jedoch realisierte sie, dass eine wissenschaftliche Laufbahn nicht das war, was sie sich für ihr Leben vorgestellt hatte: „Die Aussicht war nicht sehr reizvoll, für die kommenden 25 Jahre Forschung mit einem kleinen Budget zu betreiben.“36 Doch glücklicherweise begann sich die Welt, so wie sie sie bisher kannte, langsam zu verändern und es sollten sich bald Möglichkeiten ergeben, mit denen sie ihre wahre Berufung finden würde.
Obwohl es unter der politischen Oberfläche der Ost-Berliner Regierung bereits rumorte, sollte es die missverstandene Arbeitsanweisung eines Parteisprechers sein, welche die Berliner Mauer vorzeitig zum Einsturz brachte – etwas, mit dem niemand gerechnet hatte: Der Sprecher verkündete am Abend des 9. November 1989, dass ostdeutsche Bürger von nun an ohne besondere Papiere problemlos in den Westen reisen könnten. Als Resultat fiel die Mauer und veränderte über Nacht für Millionen von Menschen ihr Leben.
In seiner BBC-Dokumentation von 2013 The Making of Merkel berichtet Filmemacher Andrew Marr, dass Merkel an jenem Abend ihrem üblichen Donnerstag-Ritual frönte – ein Saunabesuch mit Kollegen und anschließendem Bier.37 Doch ihre Gleichgültigkeit gegenüber dem Fall der Mauer dauerte nicht lange. Sie war gerade mal 35 Jahre alt, also noch „jung genug, dass ein Neubeginn mit einer neuen Karriere möglich war,“38 kommentierte ein ehemaliger Freund und Kollege.
Der Sprung von der Physikerin zur Politikerin schien zwar unwahrscheinlich, aber er war laut Filmemacher Marr durchaus möglich: „Sie wollte ihre Macht nutzen – vor dem Fall der Mauer war es die Macht über Moleküle, danach wollte sie ihre Macht auf eine größere Bühne bringen.“39 Angela Merkel war in einer Familie aufgewachsen, in der Politik immer eine große Rolle gespielt hatte und der Samen für ein Interesse daran wurde vielleicht unbewusst schon früh ausgesät. Als plötzlich alle Beschränkungen verschwanden und Merkel offen über Politik sprechen konnte, schien sie ihre wahre Berufung gefunden zu haben.
Merkel begann ihre politische Karriere bei dem Demokratischen Aufbruch (DA), einer politischen mitte-rechts Organisation. Nach eigenen Angaben ist sie einfach in das Büro der DA hineingegangen und fragte, ob sie helfen könnte. Die westdeutsche Regierung hatte zu jenem Zeitpunkt der DA dutzende Computer gespendet, die aus ihren Kartons herausgenommen und angeschlossen werden mussten. Dies wurde Merkels Aufgabe, über die sie später sagte, dass ihr die wissenschaftliche Ausbildung gut zupasskam, um sich mit dem politischen Prozess vertraut zu machen. In einem Interview von 2004 beschreibt Merkel diese Reformation als „Zauber eines neuen Anfangs. Man wird nie wieder so etwas Schönes erleben dürfen.“40
Merkels politische Karriere sollte sich bald in einem beispiellosen Tempo beschleunigen. Hatte sie gerade erst Kartons ausgepackt, so wurde ihr nur sechs Monate später eine Position im deutschen Kabinett angeboten. Die große Preisfrage, so Dokumentarfilmer Marr, ist daher: Wie gelang es Merkel, von einem normalen Mitglied der ostdeutschen Gesellschaft in kurzer Zeit zu einer führenden Politikerin Deutschlands zu werden? Für Marr gibt es nur eine logische Antwort: Sie war die richtige Person zur richtigen Zeit am richtigen Ort.41
Im März 1990 wurden in Ostdeutschland die ersten freien Volkskammerwahlen abgehalten. Hierbei ging der konservative Politiker Lothar de Maizière als Wahlsieger hervor und ernannte Angela Merkel zur Sprecherin seiner neuen Regierung – der ersten und letzten frei- gewählten in der DDR. Sehr zur Überraschung vieler trat Merkel jedoch im April 1990 der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU) bei. Der damalige Parteivorsitzende war Helmut Kohl, zugleich Bundeskanzler und Anführer der Wiedervereinigungsbewegung in Westdeutschland. Bei der ersten Bundestagswahl nach der Wiedervereinigung im Dezember 1990 wählten die Bürger in der Region Vorpommern-Rügen Angela Merkel in den Bundestag und die Deutschen wählten Helmut Kohl zum ersten Kanzler des vereinten Deutschlands.
Kohl wollte für sein Kabinett eine Frau und jemanden aus der ehemaligen DDR. Merkel erfüllte gleich beide Voraussetzungen und Kohl ernannte sie zur Ministerin für Frauen und Jugend. Kohl wurde ihr Mentor, nannte sie oft „mein Mädchen“ und stellte sie auch so vor. 1994 beförderte Kohl Merkel zur Ministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, was ihr eine größere internationale Sichtbarkeit gab und zudem eine geeignete Plattform war, ihre politische Karriere weiter auszubauen. In dieser Zeit war sie für die Organisation der UN-Klimakonferenz in Berlin zuständig, dessen Ergebnis das sogenannte „Berliner Mandat“ war – ein erstes Versprechen der beteiligten Länder, die Emission der Treibhausgase zu reduzieren.42 Merkel war klar, dass sie ihre politische Karriere Helmut Kohl zu verdanken hatte, aber sie wusste auch, dass sie sich von „dem Dicken“ – so wie der korpulente Kanzler in Regierungskreisen genannt wurde – abnabeln muss. Sie drückte es diplomatisch aus: „Ich wusste, dass ich darum kämpfen musste, als Individuum gesehen zu werden. Nicht nur in den Augen von Helmut Kohl, aber in den Augen anderer Leute. Die Menschen hatten bereits eine vorbestimmte Meinung über mich; eine Quotenfrau von links. All das hat mich sehr geärgert.“43
Merkel sollte bald nicht nur Kohl gegenüber beweisen, dass sie eine echte Bereicherung für sein Kabinett und die Administration war: Als Kohl 1998 die Bundestagswahlen verlor und die oppositionelle Sozial Demokratische Partei Deutschlands (SPD) mit ihrem Parteiführer Gerhard Schröder an die Macht kam, wurde sie von der CDU zur neuen Generalsekretärin gewählt. Nur ein Jahr später kam die CDU-Spendenaffäre: Die Partei von Kohl hatte über Jahre hinweg Gelder von Parteifreunden erhalten, diese Summen oder die Spender jedoch nicht veröffentlicht. Kohl weigerte sich, Namen zu nennen, denn schließlich habe er den Spendern sein Ehrenwort gegeben, sie würden anonym bleiben. Die meisten Mitglieder der CDU wollten den Skandal stillschweigend unter den Teppich kehren, aber Merkel hatte eine andere Meinung dazu, oder, wie einige später behaupteten, konkrete Zukunftspläne: Mit einem vernichtenden Leitartikel, der am 22. Dezember 1999 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien, forderte sie den Rücktritt von Kohl und ermutigte ihre Partei, ohne ihn vorwärtszugehen: „Denn nur auf einem wahren Fundament kann ein richtiges historisches Bild entstehen. Nur auf einem wahren Fundament kann die Zukunft aufgebaut werden. Diese Erkenntnis muss Helmut Kohl, muss die CDU für sich annehmen. Und nur so wird es der Partei im Übrigen auch gelingen, nicht immer bei jeder neuen Nachricht über eine angebliche Spende angreifbar zu werden.“44
Diese Worte waren politischer Sprengstoff und für Merkel hagelte es Kritik: Für viele war ihr Schritt zu opportunistisch oder gar machiavellistisch. Andere sahen mit diesem Artikel eine Frau, die zu viele Male unterschätzt und unterminiert wurde, und die als kompetente Politikerin ihre eigenen Ziele und Bestrebungen verfolgt. Doch alle waren sich einig: Dieser Artikel markierte einen Wendepunkt in Merkels Karriere – der, mit dem sie sich für die Stelle als Kanzlerin positionierte.
Merkels Beitritt zur CDU hatte von Anfang Verwunderung ausgelöst. Nicht nur besaß die Partei starke patriarchale Züge, ihre Hochburgen lagen im konservativen Westen und Süden Deutschlands, das überwiegend katholische Wurzeln hatte. Merkel jedoch war Protestantin und stammte aus Norddeutschland. Zudem eckte sie mit ihrem Lebensstil an – eine 45-jährige, geschiedene Frau, die mit ihrem ebenfalls geschiedenen Freund zusammenwohnte – und für viele in der Partei kein gutes Beispiel war. Darauf angesprochen gab Merkel zurück, sie sei bereits einmal verheiratet gewesen und wäre nun vorsichtig, nichts zu überstürzen.45
Trotzdem wurden ihr immer wieder Fragen über ihr Privatleben gestellt – Fragen, von denen Autor Matthew Qvortrup behauptet, die ein Mann niemals hätte beantworten müssen. So stellte Merkel immer wieder klar: „Nein, ich habe nicht entschieden, dass ich keine Kinder haben wollte. Als ich in die Politik ging, war ich 35, und jetzt kommt es nicht mehr in Frage.“46 Angela Merkel war jedoch eine wichtige Persönlichkeit in einer konservativen Partei, die an die Werte Kinder, Küche und Kirche appellierte. Mit einer aufgeklärteren Sichtweise über die Frauenrolle aufgewachsen und zudem eine Karrierefrau, fand Merkel es schwer, ständig mit derartigen Fragen bombardiert zu werden – vor allem, da sie diese für irrelevant hielt. Merkel sah jedoch ein, dass sie – wenn sie auf der politischen Bühne Deutschlands eine Hauptrolle spielen wollte – sich dieser Besorgnis zuwenden musste.
Von daher gaben Angela Merkel und Professor Joachim Sauer dem gesellschaftlichen Druck nach und sie gaben sich selbst das Ja-Wort: Am 28. Dezember 1998 heirateten die beiden im allerengsten Familienkreis.47 Man kann sagen, dass Merkels Heirat und die Bindung an soziale Normen einhergeht mit dem, was ihre Eltern ihr damals zu Ostzeiten vermittelt hatten: Dass man manchmal so tun muss, als ob man mitmachen oder den Prinzipien folgen würde; allein schon, damit das eigene Leben besser wird.
Opportunismus und Pragmatismus gehören zu den bewundernswertesten Eigenschaften von Merkel. Es ist diese Kombination, die sie die politischen Ränge hat erklimmen lassen. Der Rechtsgelehrte Guido Calabresi beschrieb Merkel so: „Sie geht in keinen Kampf, den sie nicht gewinnen kann. […] Es gibt da ein paar Leute, die ihr im Weg waren und die jetzt in ihren Gräbern liegen.“48 Kohl war der Erste von vielen Politikern – in Deutschland und weltweit – die Merkel komplett unterschätzten. Auch Gerhard Schröder, Parteivorsitzender der SPD und Bundeskanzler von 1998 bis 2005, hat sie in der Öffentlichkeit als „bemitleidenswert“49 bezeichnet. Merkels großer Tag sollte noch kommen.
Nach der Spendenaffäre legten sowohl Kohl als auch sein Nachfolger Wolfgang Schäuble ihre Ämter nieder und Merkel wurde am 10. April 2000 als erste Frau zur CDU-Parteivorsitzenden gewählt. Zwar hatte Merkel Ambitionen, bei den darauffolgenden Wahlen zum Bundestag 2002 als Kanzlerkandidatin ins Rennen zu gehen, doch fehlte ihr die Unterstützung der meisten Ministerpräsidenten und anderen Parteiführern. Im gleichen Jahr, zusätzlich zu ihrer Rolle als Parteivorsitzende, wurde sie Oppositionsführerin im Bundestag.
Am 30. Mai 2005 stellte die CDU/CSU Angela Merkel als Gegenkandidatin zum amtierenden Kanzler Gerhard Schröder auf. Als es wenige Monate später, am 18. September 2005, zu den Bundestagswahlen kam, sollte Merkel basierend auf Umfragen als klare Siegerin hervorgehen. Doch das Ergebnis war knapp: Die CDU/CSU kam auf 35,2 % der Zweitstimmen und die SPD lag mit nur einem Prozentpunkt, also 34,2 % darunter, sodass sich beide Parteien in der Nacht zum Wahlsieger erklärten. Aber weder die Wunsch-Koalition bestehend aus SPD und Grüne noch die CDU-CSU-Koalition hatte genug Sitze für die Mehrheit im Bundestag.
Nach dreiwöchigen Verhandlungen erreichten SPD und CDU jedoch ein Abkommen, bei dem Merkel die Kanzlerposition und die SPD 16 Positionen im Kabinett erhalten sollte. Merkel wurde von dem neuen Bundestag mit 397 Ja- zu 214 Nein-Stimmen gewählt. Am Morgen des 22. November 2005 um 11 Uhr 52 wurde Dr. Angela Dorothea Merkel vor dem Deutschen Bundestag als neue Kanzlerin vereidigt. In diesem historischen Moment war Angela Merkel die erste Frau in dieser Position, die zudem aus Ostdeutschland kam, und mit nur 51 Jahren auch die jüngste Amtsträgerin.50
* * *
Obamas politische Karriere begann 1996, als ihn die Bürger von Chicagos South Side in den Senat von Illinois wählten. In seiner Amtszeit unterstützte er Gesetze, die Arbeitern mit niedrigem Einkommen größere Steuerfreibeträge zusicherten, er verhandelte Reformen im Sozialwesen und setzte sich für mehr Subventionen für Kinderbetreuung ein. Bis 2002 wirkte Obama im Senat für den Bundesstaat Illinois. Dann musste er seinen ersten Fehlschlag einstecken, als er 2002 gegen den demokratischen US-Kongressabgeordneten Bobby Rush antrat, der bereits seit vier Legislaturperioden dieses Amt innehatte. Die Niederlage fiel sehr knapp aus und Obama fühlte sich gedemütigt, doch bereits im August 2002 trieb er Gelder ein, stellte ein Wahlkampf-Team zusammen und kündigte seine Kandidatur für den US-Senat offiziell im Januar 2003 an.51
So richtig aufmerksam wurde man auf Obama, als er den Eröffnungsvortrag zur Democratic National Convention, der Parteiversammlung der amerikanischen Demokraten, im Juli 2004 in Boston hielt. In seiner später als „Audacity of Hope“ oder „Die Kühnheit der Hoffnung“ bekannt gewordenen Rede argumentierte Obama mit viel Leidenschaft: „[…] es gibt kein liberales Amerika und kein konservatives Amerika – es gibt die Vereinigten Staaten von Amerika. Es gibt kein schwarzes Amerika und kein weißes Amerika und kein Latino-Amerika oder asiatisches Amerika – es gibt die Vereinigten Staaten von Amerika.“52 Nur kaum vier Monate später wurde er mit einem erdrutschartigen Wahlsieg in den US-Senat gewählt.
Aufgrund seiner bewegenden Rede mehrfach dazu aufgefordert, bewarb sich Obama schließlich am 10. Februar 2007 für das US-Präsidentschaftsamt. Er kündigte seine Kandidatur vor dem symbolträchtigen Old State Capitol an, dem Regierungsgebäude in Springfield, Illinois, in dem Präsident Lincoln 1858 seine historische „House Divided“-Rede gehalten hatte. Obama, der erste schwarze Präsidentschaftskandidat, plädierte in seiner Ankündigung für ein schnelles Kriegsende im Irak, für mehr Energieunabhängigkeit und Reformen im Gesundheitswesen.53
Ähnlich wie Merkel oft nach ihrem Privatleben gefragt wurde – hauptsächlich über ihre Entscheidung zur Heirat und zur Kinderlosigkeit – musste sich Obama häufig zu den Themen Rasse oder ethnische Herkunft äußern. Dabei hat Obama diese kritischen Punkte während seines Wahlkampfes nie gescheut, er hat sie aber auch nie in den Vordergrund gestellt – bis Reverend Jeremiah Wright, er war Pastor in der Kirche, die Obama und seine Familie seit 20 Jahren besuchte, im März 2008 einen rassistischen Kommentar machte. Die Medien reagierten darauf heftig und „drohten Obamas Kampagne zum Entgleisen zu bringen,”54 berichteten E.J. Dionne und Joy Reid, Herausgeber von Obamas gesammelten Redewerken. Reverend Wright war der Meinung, dass die Vereinigten Staaten die Terroranschläge vom 11. September mit ihrem eigenen „Terrorismus“ selbst verursacht hätten und behauptete, dass schwarze Amerikaner lieber „Gott verdamme Amerika“ singen sollten, statt „Gott segne Amerika“, denn sie würden in einem Land leben, das seine Bürger nicht wie Menschen behandelte.55 Obamas Antwort auf diese Krise war eine Rede mit dem Titel „A More Perfect Union“, oder „Eine perfektere Union“, die er am 18. März 2008 im National Constitution Center in Philadelphia hielt.56
In dieser inspirierenden Rede entschuldigte sich Obama nicht für die Sünden der amerikanischen Vergangenheit. Stattdessen wies er darauf hin, dass er es nur der Einmaligkeit und Großartigkeit seines Landes zu verdanken habe, dass jemand mit seiner Herkunft überhaupt die Chance hatte, sich für das Amt des Präsidenten zu bewerben: „Ich bin der Sohn eines schwarzen Mannes aus Kenia und einer weißen Frau aus Kansas […] Ich habe eine der besten Schulen Amerikas besucht und ich habe in einem der ärmsten Länder der Welt gelebt. Ich bin mit einer schwarzen Amerikanerin verheiratet, die das Blut der Sklaven und Sklavenbesitzer trägt. Ich habe Brüder, Schwestern, Nichten, Neffen, Onkel und Cousinen jeglicher Rasse und mit jeder Hautfarbe verteilt über drei Kontinente. Und solange ich lebe, werde ich nie vergessen, dass meine Lebensgeschichte in keinem anderen Land der Welt möglich ist.“57
Er verkündete leidenschaftlich, dass eines seiner Hauptwahlkampfziele sei, den Amerikanern dabei zu helfen, eine tolerantere, gerechtere und wohlhabendere Nation zu werden – unabhängig von Rasse, ethnischer Herkunft oder nationalem Ursprung. Obama sprach an, dass er von einigen Gruppen als „zu schwarz“ kritisiert wurde, während andere Gruppen ihn als „nicht schwarz genug“ fanden. Dabei gäbe es doch trotz der vielen Differenzen in Amerika eine Sache, die allen wichtig sei, nämlich eine sichere Zukunft für Kinder und Enkelkinder. Darauf sollten die Menschen achten, und nicht nur auf die Unterschiede schauen. Er betonte, dass die Menschen aus der afro-amerikanischen Gesellschaft die Herausforderungen der Vergangenheit annehmen müssen, doch ohne dabei selbst zum Opfer zu werden.58
Obama realisierte auch, dass Rassismus und der Kampf um Gleichberechtigung tief in der amerikanischen Gesellschaft verwurzelt sind und dass eine einzige Wahl nicht alles ändern kann, sondern nur ein Schritt von vielen Schritten ist, die in den nächsten Jahren zu gehen sind. Auf charismatische Weise beschrieb er, dass Rassengleichheit nur dann eintreten wird, sobald die Träume und Hoffnungen von einer Gruppe nicht zu Lasten einer anderen Gruppe gehen. Wenn Investitionen im Sozialwesen für jeden Amerikaner gleichermaßen stattfänden, dann würde schlussendlich das ganze Land davon profitieren.59
Sowohl bei den Vorwahlen als auch bei den Hauptwahlen konnte Obamas Kampagne immer neue Rekorde an Wahlspenden verbuchen. Am 19. Juni 2008 war Obama der erste Präsidentschaftskandidat in der Geschichte der USA, der freiwillig auf öffentliche Wahlkampfgelder verzichtete – sie werden in den USA seit 1976 vergeben. Noch im gleichen Jahr, am 4. November 2008, wurde Barack Obama zum ersten afroamerikanischen Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt, sowohl vom Volk durch das „Popular Vote“ also auch von den Wahlmännern. Dabei ging er als klarer Sieger hervor: Von den Wahlmännern erhielt er 365 Stimmen im Vergleich zu seinem republikanischen Gegenkandidaten, dem Senior-Senator John McCain aus Arizona, der 173 Stimmen bekam. Auch das Volk sprach klare Worte: 52,9 % der Bevölkerung stimmte für Obama, nur 45,7 % für McCain. Nach diesem phänomenalen Wahlsieg wurde Barack Hussain Obama II am 20. Januar 2009 um die Mittagszeit zum 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten vereidigt.
Obwohl Obama die politische Karriereleiter nicht ganz so schnell erklomm wie Angela Merkel, so war sein Aufstieg durchaus beeindruckend. Zumal er, anders als Merkel, in seiner historischen Wahl als überwältigender Sieger hervorging. Die Rekordsummen an Spendengeldern, die während seiner Kampagne zusammenkamen, in Kombination mit seiner beispiellosen Agenda, zeigten, dass die Amerikaner bereit waren, einem jungen, relativ unbekannten Senator unabhängig von seiner Hautfarbe – oder vielleicht gerade wegen seiner Hautfarbe – eine Chance zu geben. Mit seinen Reden und Wahlversprechen hatte es Obama mit Leichtigkeit geschafft, das amerikanische Volk für sich zu gewinnen. Es würde jedoch noch ein beschwerlicher Weg für ihn werden, die Beziehungen zwischen den USA und seinen Verbündeten in Europa, insbesondere Deutschland, wieder zusammenzuflicken.
Diese Partnerschaften standen zwar auf wackeligem Boden, doch eines war sicher: Obama und Merkel hatten nichts mit ihren jeweiligen Vorgängern gemein. Obama drückte es so gegenüber seiner deutschen Kollegin aus, als er in einer Rede über die Fortschritte im 21. Jahrhunderts sprach und über die ungewöhnlichen historischen und persönlichen Umstände, die beide Politiker auf ihre Rolle im Öffentlichen Dienst vorbereitet hatten: „Kriege können enden. Gegner können zu Verbündeten werden. Mauern können fallen. Zu guter Letzt können Länder sich wieder vereinigen und frei sein. Frau Bundeskanzlerin, unsere Lebenswege stehen in diesem Geiste.“