Читать книгу Lieber Barack: Die außergewöhnliche Partnerschaft zwischen Angela Merkel und Barack Obama - Claudia Clark - Страница 7
ОглавлениеKapitel 2: „Ich übernehme die Verantwortung“
Januar – April 2009
Als der Deutsche Bundestag im November 2005 die neue Kanzlerin Merkel einschwor, hatte auf der anderen Seite des Atlantiks George W. Bush gerade zum zweiten Mal in Folge die Präsidentschaftswahlen gewonnen. Das Verhältnis zwischen den USA und Deutschland war zu diesem Zeitpunkt getrübt – das erste Mal seit dem Kalten Krieg – da die Bush-Regierung 2003 in den Irak einmarschierte. Obwohl viele europäische Politiker in Bush „Satans Vertreter auf Erden“1 sahen, ging Merkel mit ihrem US-Kollegen nicht ganz so hart ins Gericht.
Sie hatte aber schon eine andere Meinung über das Gefangenenlager Guantanamo und keine Probleme, diese publik zu machen: In einem Interview mit Der Spiegel erklärte sie, dass es zwar eine Notwendigkeit für das Bekämpfen des Terrorismus gäbe, sie Bushs militärische Vorgehensweise jedoch ablehne: „Eine Institution wie Guantanamo kann und darf langfristig nicht operieren. Es müssen andere Wege gefunden werden, mit den Gefangenen umzugehen.“2
Aufgrund seiner vom Isolationismus bestimmten Politik waren weltweit viele Politiker froh, dass die Ära Bush 2009 zu Ende war. Sie hofften, dass Barack Obama die Beziehungen, die Bush zerstört hatte, reparieren könnte. Merkel sah das ein wenig anders, denn sie und Bush hatten eine gute Arbeitsbeziehung. Sie gab sogar zu, dass sie ihn vermissen würde.3 Dabei darf man nicht vergessen, dass Merkel im kommunistischen Ostdeutschland aufgewachsen ist. Daher empfand sie den Vereinigten Staaten gegenüber stets Dankbarkeit und sah möglicherweise den ehemaligen Präsidenten durch eine leicht rosarot gefärbte Brille. Dass die Politik von Bush nicht nur ihre europäischen Kollegen verstimmte, sondern auch ihre Mitbürger, entging der Kanzlerin sicherlich nicht.
Ihr war klar, dass sie eine Gratwanderung machen musste, denn die Deutschen waren von Barack Obama begeistert und sie selbst hatte Bedenken. So schrieben Ralf Beste, Dirk Kurbjuweit, Christian Schwägerl und Alexander Szandar in einem Spiegel-Artikel: „[…] 85 % der Deutschen würden auch Obama gewählt haben. Kaum ein anderes Thema genießt einen ähnlichen Konsens.“4 Ein Teil von Obamas Faszination ist möglicherweise auf die Hoffnung zurückzuführen, die er mit seinem Wahlkampf verbreitet hatte, und die Aussicht, dass Obama die von Bush geschwächten Beziehungen zu den USA wieder stärken könnte. Im Laufe seiner Präsidentschaft entwickelte Obama eine echte Zuneigung für die Deutschen, was ihnen nicht entging und das Gefühl der Hoffnung nur bestärkte. Dass die Deutschen den Präsidenten verehrten war ansteckend – und sollte schlussendlich auch die Kanzlerin befallen.
Nach Obamas Vereidigung am 20. Januar 2009 gab Merkel ein Interview für Spiegel Online, in dem sie die historische Bedeutung seines Wahlsieges hervorhob und betonte, dass seine Funktion als erster schwarzer Präsident „eine große Stunde für Amerika ist, was viele Möglichkeiten bietet.”5 Ohne seinen Vorgänger überhaupt zu erwähnen, verteilte sie hier Seitenhiebe an Bush und seine Politik und hoffte, dass Obama einen anderen Ansatz haben würde, um die komplexen Probleme dieser Welt zu lösen – einen, der auf Kollaboration und den Dialog mit anderen baut.
Die deutsche Kanzlerin wählte ihre Worte sehr diplomatisch. Aus persönlicher Sicht hatte sie eine gute Beziehung zu Bush, aber auf professioneller Ebene war sie sich der Herausforderungen bewusst, die sich aus einigen seiner politischen Maßnahmen ergaben. Von daher gelang es ihr, die Verhängnisse der Bush Administration zu diskutieren, ohne dabei seinen Namen zu nennen und ihn öffentlich bloß zu stellen. Merkel zählte ganz einfach heiße Themen auf wie Afghanistan, Iran und die Beziehung zu Russland, die dringend Aufmerksamkeit bedurften, und verdeutlichte: „Ich hoffe, dass unsere Kooperation dadurch gekennzeichnet sein wird, dass wir einander zuhören und darauf basiert, dass ein einziges Land alleine die Probleme dieser Welt nicht lösen kann, sondern wir es nur gemeinsam tun können.“6
Merkel gab zu, dass die Situation in Afghanistan zukünftig problematisch sein würde und bot für diese Region nichtmilitärische Unterstützung an. Sie machte jedoch klar, dass sie nicht von ihrem Standpunkt abweichen würde, keine militärischen Truppen zu schicken: „Wir haben dieser Entscheidung unsere Kapazitäten und Fähigkeiten zugrunde gelegt – nicht wer Präsident ist.“7 Obwohl es damals Spekulationen der Medien und anderer Politiker gab, dass Obama auf mehr militärische Unterstützung seitens seiner europäischen Verbündeten pochen würde, war das nicht der Fall.
Ein später veröffentlichtes Spiegel-Interview vom 2. Februar 2009 diskutierte die scheinbare Gleichgültigkeit der Kanzlerin gegenüber dem neu gewählten Präsidenten und den Konflikt der beiden Staatsführer in Bezug auf den Verbleib der Guantanamo-Insassen. „Es gibt nicht die kleinste Spur von Enthusiasmus für den Mann, auf dessen Schultern momentan die Hoffnung der ganzen Welt ruht. Merkel ist nicht darauf vorbereitet, den Amerikanern bei ihrem ersten konkreten transatlantischen Anliegen schnell entgegenzukommen, nämlich der Aufnahme von Häftlingen aus Guantanamo.“8 Dafür, dass Merkel in dieser Angelegenheit eine derart starke Meinung besaß, hätte man aus der Perspektive der USA ihre Unterstützung bei der Schließung der Anstalt durchaus erwarten können.
Präsident Obama und Kanzlerin Merkel hatten ihr erstes offizielles Telefongespräch in der letzten Woche im Januar 2009. Während ihrer 25-minütigen Unterhaltung sprachen sie über brisante Themen wie die Wirtschaftskrise, Iran und Afghanistan. In einem Spiegel-Artikel war später darüber zu lesen, dass Obama jede Möglichkeit genutzt habe, der Kanzlerin zu verdeutlichen, dass er sie nicht mit Forderungen bombardieren, sondern sie stattdessen überzeugen wolle.9 Merkel berichtete später ihrem Stab, dass Obama während des Telefonats nicht eine einzige Forderung gestellt habe – noch nicht einmal die nach mehr Truppen für Afghanistan. Zudem gäbe es zwei neue Bestandteile: Obamas Ton und seine Pausen zwischen seinen Sätzen. Im Gegensatz zur vorherigen Administration, die dazu tendierte, nur Ansprüche an die Verbündeten zu stellen, habe Obama auch zugehört. „Das Weiße Haus von Barack Obama ist ein Haus mit zwei Knöpfen, und nicht nur eines mit einem ‚Versenden-Knopf‘“, sagte Jackson Janes, ein vom Spiegel befragter Deutschland-Experte an der Johns-Hopkins-Universität in Washington. „Amerika möchte nicht mehr länger das Stinktier auf der Gartenparty sein.“10
Die Kunst des Zuhörens im Gegensatz zum bloßen Stellen von Forderungen sollte Obama noch häufig im Verlauf seiner Präsidentschaft an den Tag legen und eine Eigenschaft sein, die Merkel sehr schätzen und respektieren würde. Trotz ihrer höflichen Gespräche miteinander waren beide Politiker zunächst sehr zögerlich, wie sie einander einschätzen sollten. Merkel befürchtete, dass die große Begeisterung der Deutschen nichts weiter wäre als „ein allzu hastiger Ausdruck der Verehrung für den neuen Präsidenten, der – so sagen es die Leute – einfach besser sein muss als sein Vorgänger.“11 Sie vertrat in puncto Obama eine „Abwarten-und-Tee-trinken“-Haltung. Gegenüber der damaligen Außenministerin Hillary Clinton beschrieb Journalist und politischer Berater Sidney Blumenthal Merkels Skepsis wie folgt: „[…] sie mag nicht das atmospährische Umfeld, das mit dem Obama-Phänomen einhergeht; das steht komplett im Gegensatz zu ihrer Vorstellung von Politik und wie man sich allgemein benimmt. Sie würde eine Beziehung mit Ihnen begrüßen, die sich mehr auf Dialoge aufbaut.“12
Auf der anderen Seite des Atlantiks hatten der amerikanische Präsident und sein Stab eine ähnlich zurückhaltende Meinung über die Kanzlerin. Merkels ablehnende Antwort in Bezug auf Obamas Rede vor dem Brandenburger Tor verstärkte zunächst seine Skepsis. Zudem wurde laut Spiegel ihre Absage, den Präsidenten in Washington nach seiner Amtseinführung zu besuchen, von Obamas Mitarbeitern als „taktlos und unhöflich“ angesehen.13 Auch lehnte Obamas Administration die von Deutschland durchgeführte „Scheckbuch-Diplomatie“ ab: Die Bundesregierung hatte 50 Millionen Euro für einen Treuhandfond bewilligt, der zum Aufbau und zur Ausbildung einer afghanischen Armee genutzt werden sollte – statt selber Truppen in den Süden Afghanistans zu schicken; etwas, was die Amerikaner als „einen Freikauf aus der Verantwortung ansahen.“14
Doch war zu jenem Zeitpunkt die Wirtschaftskrise der größte Streitpunkt. Merkel hatte bei ihren Kollegen den Ruf, alles immer auf die lange Bank zu schieben, weil sie eine Situation überanalysierte. Viele Politiker, sowohl innerhalb als auch außerhalb Deutschlands, empfanden diese Art von „Verschleppung“ als sehr lästig. Die Wirtschaftskrise war genauso eine Situation. Vertreter in Washington glaubten, dass Merkels Mangel an politischer und wirtschaftlicher Kompetenz diese Verzögerungen auslöste, was das Problem nur noch verschlimmerte. Hier sei anzumerken, dass Obama in der Anfangsphase in diesem Punkt die gleiche Meinung wie seine europäischen Kollegen vertrat. Doch in den folgenden Jahren sollte es gerade jener analytischer Entscheidungsprozess sein, den beide bevorzugten und etwas werden, was Obama an Merkel am meisten schätzen würde.
Die große Rezession begann im Dezember 2007, als der zu einem Wert von 8 Billionen Dollar aufgeblasene amerikanische Immobilienmarkt plötzlich zusammenbrach. Die wirtschaftlichen Folgen waren nicht nur für die USA desaströs, sondern auch für die restliche Welt. Vor der Katastrophe lag die Arbeitslosenquote in den USA bei bescheidenen 4,9 Prozent; doch bis zum Oktober 2009 stieg die Zahl auf 10,1 Prozent.15 Diese Werte waren ähnlich in Europa, wobei Spanien von der Arbeitslosigkeit mit 18,7 Prozent und 37 Prozent bei den Jugendlichen am härtesten betroffen war.16 Trotz der weltweit spürbaren Folgen der Rezession, blieb der Euro stabil, wobei Deutschland hier eine entscheidende Rolle spielte.
Trotzdem versuchte die deutsche Regierung mehrere Wochen lang im Vorfeld des G20- Gipfels, die „Charter for Sustainable Economic Activity“ zu verabschieden. Hierbei ging es darum, die Verschuldung von Staaten einzuschränken: Länder dürfen sich nur so stark verschulden, wenn gewährleistet ist, dass sie sich finanziell wieder erholen können. Deutschland und Frankreich kämpften für strengere wirtschaftliche Regulierungen. Insbesondere die europäischen Politiker forderten eine Überwachung der Banken auf europäischer Ebene, erweiterte Hedgefonds-Regulierungen und für Banken eine größere Summe an Eigenkapital. Die Regulierung von Hedgefonds und Steuern wurde zum größten Streitpunkt zwischen den Amerikanern und Europäern. Obwohl die Amerikaner zögerlich in Bezug auf die vorgeschlagenen Reformen blieben, erwartete die deutsche Regierung, dass Obama sich der Finanzreform des G20-Gipfels anschloss.
Bereits vor dem G20-Gipfel in London trafen sich mehrere führende EU-Politiker in Brüssel, um an einer Strategie zur Bewältigung der Finanzkrise zu arbeiten. Dies ging auf Merkel zurück, die darauf bestand, dass die EU mit einer gemeinsamen Stimme sprechen sollte. Die Gruppe kam zu der Entscheidung, dass es keine weiteren Finanzhilfen geben sollte, und dass die EU eine Führungsrolle in der Reform der Weltfinanzmärkte einnehmen wollte.17
Die EU-Politiker waren in hartnäckiger Opposition zu weiteren Konjunkturprogrammen und zunehmend über die Position der USA beunruhigt – insbesondere nachdem sie erfuhren, dass Obamas Finanzminister die Empfehlungen des International Monetary Fund (IMF) unterstützte; hiernach sollten alle Nationen 2 % ihres Bruttoinlandproduktes in ein Stimulus-Paket einzahlen.18 Die Regulierung der Hedgefonds und die Steuern wurden zur größten Streitfrage zwischen den Amerikanern und den Europäern. Denn die Amerikaner waren der Meinung, dass Gelder durch die Förderprogramme einen besseren und nachhaltigeren Beitrag zum Wirtschaftswachstum leisten würden als bloße Regulierungen.
Einem durchgesickerten Dokument zufolge, das für US-Außenministerin Hillary Clinton bestimmt war, hatte Merkel „tiefe Befürchtungen, dass die Obama-Regierung sich auf einem katastrophalen Wirtschaftskurs befindet.“19
Im Vorfeld des bevorstehenden G-20-Gipfels in London gab die deutsche Kanzlerin ein exklusives Interview für die New York Times, das den auffälligen Titel trug „Merkel ist bereit, Obama zu treffen, um ihm dann zu widerstehen.”20 Diese Schlagzeile dokumentierte Merkels große Befürchtungen gegenüber dem neuen Präsidenten. Während des einstündigen Interviews unterstrich Merkel ihre Position, dass sie nicht vorhabe, die Europäische Zentralbank dahingehend zu ermutigen, der Federal Reserve zu folgen und mehr Geld in das System zu pumpen. Auch würde sie es nicht zulassen, dass Deutschland weitere Gelder in wirtschaftliche Hilfspakete einzahlt. Sie sagte in ihrer Abschlussbemerkung, sie erwarte von Obama, dass er zu seinen Versprechungen stehe – nämlich, die amerikanische Staatsverschuldung zu kontrollieren, so wie es seine inländischen Konjunkturmaßnahmen vorsahen.21
Obwohl die Amerikaner den vorgeschlagenen Maßnahmen gegenüber zögerlich blieben, erwartete die deutsche Regierung, dass sich Obama der Wirtschaftsreform-Bewegung auf dem bevorstehenden G-20-Gipfel in London am 20. April 2009 anschloss. Viele von Merkels unsprünglichen Bedenken dem neuen Präsidenten gegenüber stützten sich darauf, dass dieser zu viel rede und – so befürchtete sie – nicht in der Lage sei, seine Versprechen zu halten. Ihre in der New York Times genannten Abschlussbemerkungen demonstrierten diese Zögerlichkeit gegenüber Obama. Jetzt hatte sie ihre „Abwarten-und-Tee-trinken“-Haltung gegenüber dem US-Präsidenten an den Tag gelegt. Keine Frage, Merkel und Obama waren unterschiedlicher Meinung, wie die Wirtschaftskrise angegangen werden sollte. Aber Merkel war weder auf Obamas Demut vorbereitet, mit der er der Situation begegnen sollte, noch auf seine Bereitschaft darauf hinzuarbeiten, dass es in Zukunft solche Krisen nicht mehr geben würde.
* * *
Als sich die politische Weltspitze im April 2009 in London traf, gab es von Anfang an zwei Fraktionen: Die Vereinigten Staaten und Großbritannien gegen Frankreich und Deutschland. Sowohl der britische Premierminister Brown als auch Präsident Obama haben wiederholt angedeutet, dass Regulierungen und Steueroasen eine nebengeordnete Rolle im Stimulus-Paket spielen sollten, während Merkel und der französische Präsident Nicolas Sarkozy das Gegenteil forderten. Beide weigerten sich, weiterhin Gelder ohne Absicherungen zur Verfügung zu stellen; wie z. B. strengere Regulierungen, die eine erneute Krise verhindern würden. In einer gemeinsamen Pressekonferenz von Merkel und Sarkozy stellten beide Politiker klar, dass sie in dieser Situation am gleichen Strang ziehen würden. Wie der Spiegel berichtete, erklärte Nicholas Sarkozy: „In Bezug auf die Regulierung der Finanzmärkte gibt es keinen Platz für Verhandlungen.“22 Merkel bekräftigte ihren französischen Kollegen als sie hinzufügte: „Für Deutschland und Frankreich stehen die Regulierungen nicht zur Debatte. Wer das nicht versteht, der ebnet den Weg zur nächsten Finanzkrise.“23 Die Zeitschrift charakterisierte das Treffen der beiden mit „Sarkozy und Merkel gingen auf die Barrikaden.“24 Dies beschrieb die anfängliche Stimmung auf dem Gipfel recht gut, doch im Verlaufe der Tagung gab es viele Diskussionen, bei denen die Politiker niemals den Zweck des Treffens aus den Augen verloren – eine finanzielle Lösung zu finden, welche die Wirtschaft stimulieren und eine erneute schwere Rezession verhindern würde.
Dem Spiegel-Artikel zufolge war die Anspannung unter den Politkern in London derart hoch, die Diskussionen hitzig und die Anschuldigungen verleumderisch, dass man sich wunderte, dass nach dem Gipfel alle noch miteinander redeten. Zum Beispiel verteidigte sich die argentinische Präsidentin Cristina Kirchner laut Spiegel gegenüber Kanzlerin Merkel in einer angeblichen Meinungsverschiedenheit über Hilfe in Afrika mit den Worten: „Was Merkel sagt, hört sich so an, als möchte ich afrikanischen Ländern nicht helfen. Sollte ich diesen Eindruck vermitteln, dann entschuldige ich mich dafür. Ich verstehe, wie die Dinge hier ablaufen. Änderungen werden in der letzten Minute gemacht. Wir können so nicht arbeiten. Und, übrigens“, mit Blick auf Merkel gerichtet, „ich bin nicht mehr böse“.25
Eine Lösung zu finden erwies sich als so starke Herausforderung, dass selbst Politiker, die normalerweise die gleiche Meinung vertraten, über die Art und Weise stritten, wie man nun am effektivsten das Problem angehen sollte. So zum Beispiel waren sich Premierminister Brown und Präsident Sarkozy darüber einig, dass eine Liste von Banken, die sich weigerten, den in London erwirkten Richtlinien zu folgen, veröffentlicht werden sollte – aber das Wie wurde zum Streitpunkt. Brown argumentierte, dass diese Namen schon über die OECD (Organization Economic Cooperation and Development) publik gemacht wurden, während Sarkozy darauf bestand, dass alle Banken im Abschlussbericht des Gipfels genannt werden sollten. Brown versuchte ihn zu beruhigen: „Nicolas, denke daran, auf was wir uns geeinigt hatten. Die Ära des Bankgeheimnisses ist vorbei.“26 Offensichtliches Fazit dieser Auseinandersetzungen ist jedoch, dass trotz der Uneinigkeit darüber, wie man nun das Ziel erreiche, alle G-20-Teilnehmer die gleiche Vision teilten – es muss das getan werden, was notwendig ist, um die Wirtschaft in ihren Ländern und für ihre Menschen zu stimulieren.
Nach stundenlangen Verhandlungen, vielen Differenzen und noch mehr Kompromissen konnten sich die politischen Akteure der Weltbühne darauf einigen, wie die größte Wirtschaftskrise seit 1930 zu meistern sei: Schlussendlich verpflichteten sich die Länder, neue Regelungen in ihren Finanzmärkten einzuführen, Steuerparadiese abzuschaffen und Kredite an ärmere Länder zu vergeben. Die deutschen Beiträge würden hierbei aus den Tresoren der Bundesbank stammen, statt aus den einzelnen Bundeshaushalten. Auch einigte man sich auf die Einführung einer neuen Kontrollinstanz, dem Financial Stability Board (FSB). Sarkozy war ebenfalls zufrieden, weil sich im G20-Abschlussbericht eine Liste von Steueroasen befand.27
Die in London erreichten Ergebnisse waren sicherlich nicht perfekt. So gab es zum Beispiel keine Lösung für das Angehen des immer größer werdenden Unterschieds zwischen Nationen mit großer Konsumentenverschuldung, wie in den USA, und Nationen wie Japan und Deutschland mit hohem Exportüberschuss.28 Ein Spiegel-online-Artikel fasste den Gipfel so zusammen: „Die G20-Teilnehmer haben es geschafft, einen offenen Konflikt zu vermeiden, aber ihre Uneinigkeit hat bestehende wirtschaftliche Unterschiede noch vergrößert. Die Welt, die wir in London sahen, war eine Welt im Wandel. Es war nicht mehr die alte Welt, aber auch noch keine neue Welt, die in der Lage ist, übereinstimmend zu denken.“29
Unter all den Übereinkünften und Zugeständnissen kam wohl das bedeutendste Entgegenkommen von Präsident Obama: Gegen Ende des Gipfels, als sich Merkel, Brown, Sarkozy und andere G20-Politiker immer noch die Köpfe heißredeten, blieb Obama ungewöhnlich still. Er beendete sein Schweigen jedoch, als der italienische Premierminister Silvio Berlusconi dem neugewählten Präsidenten direkt in die Augen schaute und anmerkte, dass die Wirtschaftskrise seinen Ursprung in den USA habe und Obama somit eine Verpflichtung habe, eine Lösung zu finden.30 Sehr zur Überraschung aller Beteiligten im Raum, insbesondere Merkel, antwortete Obama: „Was mein italienischer Freund sagt, ist richtig. Die Krise begann in den USA. Ich übernehme dafür die Verantwortung, auch wenn ich zu dem Zeitpunkt nicht Präsident war.“31
Es ist durchaus möglich, dass Obamas Kommentar als das wichtigste Zugeständnis eines Weltpolitikers der Neuzeit in die Geschichtsbücher eingehen wird. Dem Spiegel nach machte sich Obama die größte Finanzkrise seit 100 Jahren zu eigen. Er gab zu, dass sicherlich auch andere Länder für die Krise verantwortlich waren, aber dass der Großteil der entstandenen Probleme auf Amerika mit seiner schier unendlichen Gier nach Profit zurückgehe. Obamas Fähigkeit, dieser Krise die Stirn zu bieten, statt Verantwortung zu scheuen, galt als starkes Signal der Hoffnung für die anderen G20-Staaten, die nun erwarteten, dass er Maßnahmen implementieren würde, die eine zukünftige Weltwirtschaftskrise verhindern.
Merkel rief darauf sofort ihren Finanzminister an und informierte ihn über Obamas Bekenntnis.32 Obwohl es noch eine Weile dauern sollte, ehe Merkel ihre Vorbehalte gegenüber Obama komplett ablegte, so war dieses Eingeständnis die Basis für ihre Beziehung, die sich später entwickeln sollte.
Gegen Ende des Gipfels hatte Obama für seine Kollegen noch ein paar Tipps für den Umgang mit den Medien parat: „Den Journalisten die Ergebnisse des Gipfels nicht unter Wert zu verkaufen, ihnen nicht die Uneinigkeit zu zeigen, die sie so gerne sehen würden, sondern Selbstbewusstsein auszustrahlen.“33
In einem Spiegel-Artikel reflektierte die Kanzlerin besonnen die Ereignisse in London – Obamas Ratschlag im Hinterkopf behaltend – mit den Worten „ein sehr, sehr guter Kompromiss“ wurde erreicht, ein fast sogar,historischer Kompromiss‘.34 Tatsächlich hatten die Resultate des Londoner Gipfels die Welt vor einem kompletten Desaster gerettet.
* * *
Gleich im Anschluss an den G20-Gipfel in London trafen sich Obama und Merkel mit anderen Politikern im Rahmen des 60-jährigen Bestehens der NATO. Die Konferenz begann gleich am nächsten Tag und fand am 3. und 4. April 2009 in Baden-Baden und im französischen Straßburg statt. In Baden-Baden gab es das erste bilaterale Treffen mit anschließender gemeinsamer Pressekonferenz.
Gemäß dem Protokoll für den Besuch eines ausländischen Würdenträgers, wurden der amerikanische Präsident und First Lady Michelle mit vollen militärischen Ehren empfangen. Dieser Besuch lockte viele Menschen auf die Straßen, die den Präsidenten und die Kanzlerin begrüßten. Sie riefen begeistert „Obama“ und schwenkten deutsche und amerikanische Fahnen. Die zwei Staatsführer posierten mit ihren Ehepartnern für das offizielle Pressefoto und schüttelten den Schaulustigen die Hände. Dies entspricht in jeder Hinsicht dem, was zu erwarten ist, wenn ein Staatsoberhaupt einer verbündeten Nation zu Besuch kommt – insbesondere für jemanden so populärem wie dem amerikanischen Präsidenten.
Der Ehemann der Bundeskanzlerin, Professor Sauer, nahm ebenfalls an der Zeremonie teil. Dies sprach von der Bedeutung dieses Ereignisses, denn normalerweise blieb er den öffentlichen Veranstaltungen seiner Frau fern – selbst bei der Vereidigung seiner Frau zur ersten deutschen Bundeskanzlerin hatte er sich nicht einmal freigenommen.35 Weil Sauer das öffentliche Rampenlicht mied und er Merkel lediglich zu den Bayreuther Festspielen begleitete, nannte ihn die deutsche Boulevardpresse das ‚Phantom der Oper‘.36 Wie bei vielen „ersten Malen“ in der Beziehung zwischen Merkel und Obama, war es das erste Mal, dass Professor Sauer einen öffentlichen Auftritt im Rahmen einer Veranstaltung mit dem US-Präsidenten hatte, es sollte aber nicht der Letzte sein.
Nach dem Militärempfang und dem Bad in der Menge auf der Straße hielten Merkel und Obama eine gemeinsame 30-minütige Pressekonferenz, bei der beide eine Erklärung abgaben und sich den Fragen der Presse stellten. Die Begeisterung und Sympathie der Deutschen für den amerikanischen Präsidenten gingen an der Kanzlerin nicht unbemerkt vorbei. Ihre einleitenden Worte sollten das reflektieren: „[…] wir möchten Sie wirklich sehr herzlich willkommen heißen. Ich denke, dass Sie gesehen haben, dass die Presse Sie auch sehr herzlich willkommen geheißen hat; und Sie haben ja auch die Leute entlang des Weges gesehen, die mit ihren kleinen Fähnchen stundenlang auf Sie gewartet haben; und wir freuen uns, dass Sie da sind.“37
Nach dieser Begrüßung fasste sie die Themen zusammen, über die sie und Obama in ihrem privaten Meeting diskutiert hatten. Dabei ging es hauptsächlich um Afghanistan und die Ergebnisse vom G20-Gipfel. Als sie den andauernden Konflikt in Afghanistan ansprach, unterstrich Merkel die weitere Unterstützung aus Deutschland in dieser Angelegenheit und „Verantwortung“ für eine Lösung. In Bezug auf den G20-Gipfel in London sprach sie von einem produktiven Treffen, weil „[…] auch die Vereinigten Staaten ihre Kooperationsbereitschaft demonstrierten […] Ich denke, dass es unsere gemeinsame Aufgabe ist, Allianzen in diesem Moment der Kooperation zu formen, da diese transatlantische Beziehung uns helfen kann, die gegenwärtige Wirtschafts- und Finanzkrise zu bewältigen.“38
Zwischen den Zeilen ist hier zu erkennen, dass Merkel die von Obama auf dem G20-Gipfel gemachten Zugeständnisse würdigt. Die Kanzlerin berichtete von der Wichtigkeit und der langen Freundschaft und Partnerschaft der beiden Länder und hoffte, Obamas Versprechen, die getrübte Beziehung zwischen Deutschland und den USA wiederherzustellen, sei aufrichtig. Obwohl ihr Lob über die Freundschaft und die Beziehung zu Amerika offen und ehrlich war, schien ihr Kommentar über den Präsidenten eher höflich und deutlich reserviert. Sie schien immer noch skeptisch, aber das Eis fing langsam an zu schmelzen.
Während Obamas zehnminütiger Ansprache berichtete er von unangenehmen Nachrichten, von denen er kurz zuvor erfuhr: Eine aktuelle Statistik aus den USA zeigte den Verlust von 663 000 Arbeitsplätzen im Vergleich zum Vormonat, was die Arbeitslosenquote auf 8,5 % katapultierte – die höchste Zahl in den letzten 25 Jahren. Insgesamt haben 5,1 Millionen Amerikaner seit Beginn der Finanzkrise ihre Arbeit verloren.39 Trotz der Schwere dieses Themas, gelang es dem Präsidenten, die Situation ein wenig aufzuhellen: Auf die Frage eines Reporters in Bezug auf die Wirtschaft antwortete Obama: „[…] die USA will der größte Verbrauchermarkt bleiben und wir werden sicherstellen, dass er offen bleibt […] Es ist nicht die Schuld der Deutschen, dass sie gute Produkte herstellen, welche die Vereinigten Staaten kaufen möchten; und wir müssen sicherstellen, dass wir Produkte herstellen, die die Deutschen kaufen wollen.“40 An dieser Stelle brach die sonst eher reservierte Kanzlerin in kurzes Gelächter aus.
In seinem Statement sprach Obama auch über die NATO und erkannte an, dass es das erfolgreichste Staatenbündnis in der modernen Geschichte sei, aber fügte hinzu: „Wenn die NATO alles wird, dann ist sie nichts.“41 Zudem bedankte er sich bei Merkel und den Deutschen für die Unterstützung der Aktivitäten in Afghanistan: „Sie haben gerade gehört wie Kanzlerin Merkel betonte, dass das, was die NATO in ihrem Kern so effektiv gemacht hatte, auf dem Prinzip von Artikel 5 beruhte – wenn ein Verbündeter angegriffen wird, dann kommen alle Verbündeten zusammen, um sich dem Problem zu stellen […] Das ist das Wesen einer erfolgreichen Allianz.“42
Es gab auf beiden Seiten des Atlantiks Spekulationen, dass Obama in Bezug auf Afghanistan nach mehr Ressourcen fragen würde und dass es dazu von den europäischen Alliierten Widerstand geben würde. Aber sowohl in Merkels als auch Obamas Kommentaren war nichts über einen möglichen Konflikt über Truppen in Afghanistan zu spüren. Merkel, als Verbündete und NATO-Mitglied, war sich darüber bewusst, dass Deutschland die amerikanische Mission dort so gut wie möglich zu unterstützen hatte.
Obama und Merkel unterschieden sich von Anfang an in einer Sache: nämlich wie sie mit den Fragen von Journalisten auf Pressekonferenzen umgingen. Merkel gab normalerweise kurze und präzise Antworten. Obama hingegen besaß die Rhetorik eines typischen amerikanischen Politikers, nämlich um den heißen Brei herumzureden und alles andere als die gestellte Frage zu beantworten. Seine Antworten waren normalerweise recht lang und detailreich und enthielten allerlei Zahlen und Daten. Obama, der sich dieses Talents bewusst war, genoss diese besonderen Momente der Pressekonferenz. Ein deutscher Reporter hakte nach: „Was bedeutet das konkret für die Europäer und für die NATO?“43, worauf Obama sagte: „Ich glaube, das ist ein Hinweis darauf, dass meine Antworten zu lang waren. Also werde ich diese jetzt kürzer geben.“44
Etwas, was in den späteren Pressekonferenzen und anderen Auftritten immer offensichtlicher wurde, war die Zuneigung der beiden Politiker füreinander und das Verteilen von Komplimenten. Von Anfang an bezeichnete Obama Angela Merkel als seine „Freundin“, ein Kompliment, das Merkel erst später zurückgab: „Ich möchte Merkel für ihre Führung, ihre Freundschaft danken […] Ich habe recht viel Zeit mit Merkel verbracht und ich bin weiterhin von ihrer Weisheit, Führungskraft und ihrem Fleiß in Bezug auf das Verfolgen der Interessen ihres Volkes beeindruckt.“45
Hierzu kommentierte der Wissenschaftler für deutsche Geschichte Hans W. Gatzke: „Amerikaner sind eher bereit, das Wort Freundschaft zu benutzen als die meisten Deutschen.“46 Auch die Journalistin Lisa Schwesig bietet eine Erklärung mit Bezug auf typisch deutschen Umgangsformen: „Das Verteilen von Komplimenten deckt sich nicht unbedingt mit dem Wesen der Deutschen […] Die Deutschen lernen, demütig zu sein und sich nicht zu entblößen.“ Außerdem, so Schwesig, könnten Komplimente missverstanden werden und ergänzt: „Viele befürchten, dass sie jemanden mit einem Kompliment kränken oder zu nahetreten.”47 Es ist daher nicht verwunderlich, dass Obama seine Freundschaft gegenüber Merkel offener zum Ausdruck brachte.
Nach ihrem gemeinsamen Auftreten in Baden-Baden hatten Merkel und Obama gleich danach erneut Gelegenheit auf dem NATO-Gipfeltreffen in Straßburg zusammenzuarbeiten. Die Spannungen zwischen den beiden Politikern, so die Experten, waren immer noch groß. Doch Obama intervenierte im Namen von Merkel und half somit, ein politisches Desaster zu verhindern: 27 NATO-Mitglieder waren bereit, den Dänen Fogh Rasmussen als neuen NATO-Generalsekretär des transatlantischen Militärbündnisses zu wählen. Doch die Wahl muss aufgrund der Statuten einstimmig ausfallen und die Türkei weigerte sich, dem Nominierten ihre Stimme zu geben. Der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdoğan begründete seine Entscheidung damit, dass 2005 in einer dänischen Zeitung ein politischer Cartoon über den Propheten Mohammed veröffentlicht wurde und Rasmussen daher für diese Position nicht infrage käme. In einer für sie eher unüblichen Aktion hatte Angela Merkel am Freitagnachmittag bereits angekündigt, dass Fogh Rasmussen später am Abend zum neuen NATO-Chef ernannt werden sollte. Am Samstag wurde jedoch immer noch über die Nominierung verhandelt und als Gastgeberin des Gipfels wäre ein Dissens für Merkel zur politischen Pleite geworden. Doch Obama griff am Samstag zum Telefon, sprach mit Erdoğan und sagte ihm gewisse Garantien zu – einschließlich Top-NATO-Positionen für die Türkei und den in Dänemark lebenden kurdischen Berichterstatter Roj RV. Dieser kommentierte in einem späteren Spiegel-Artikel: „Der US-Präsident, dessen ursprüngliches Ziel das Beschwichtigen der transatlantischen Beziehungen war, wirkt manchmal wie ein Eheberater.“48
Obwohl Obama hier einschritt und Merkel vor einer Blamage in ihrem eigenen Land und international bewahrte, so hüllte sich die Kanzlerin Obama gegenüber in Schweigen. Es gab ein Foto mit ihr, lächelnd neben dem französischen Präsidenten Sarkozy auf dem Titelblatt von Der Spiegel, aber keinerlei öffentliche Anerkennung oder gar Dankbarkeit gegenüber Obama. Vielleicht gehörte dieses „Übersehen“ zum Verhaltensprotokoll deutscher Politiker und war nicht unbedingt als Unfreundlichkeit seitens Merkel zu werten.
Dass die Kanzlerin Bedenken gegenüber dem neuen Präsidenten hatte, insbesondere zum Thema Weltwirtschaftskrise, deutete Merkel bereits in ihrem Interview mit der New York Times vor dem G20-Gipfel an. Doch ihre Bedenken sollten sich mit Obamas überraschenden Zugeständnissen in London sowie seiner Bereitschaft, die Verantwortung für die Finanzmisere zu übernehmen, immer mehr zerstreuen. Auch sein persönlicher Anruf bei Präsident Erdoğan wusste einen desaströsen Ausgang des NATO-Gipfels zu verhindern und zeigte der Kanzlerin, dass Obamas Versprechungen durchaus Substanz hatten. Dies schuf eine aussichtsreiche Grundlage für die Arbeitsbeziehung von Obama und Merkel, die aber in den folgenden Monaten getestet werden sollte.