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Kapitel 3: „Wilde Spekulationen“

Juni 2009

Anlässlich des 65. Jahrestages zur Landung der Alliierten in der Normandie im Juni 2009 befand sich Präsident Obama auch zu Besuch in Deutschland. Er war gerade zwischen zwei Meetings, einem in Ägypten, dem anderen in der Normandie. Während seines Aufenthalts in Kairo hielt Obama seine inspirierende „New Beginning“-Rede an der Universität Kairo. Dabei sprach er über bestimmte politische Maßnahmen, die er bei seinem bevorstehenden Treffen mit Merkel aufgreifen wollte, insbesondere die Notwendigkeit für ein Zweistaatensystem für Israel und Palästina und das Thema Atomwaffen im Iran. Er argumentierte sehr leidenschaftlich für einen Neubeginn zwischen den Muslimen weltweit und den Vereinigten Staaten: „Ein [Neubeginn]basierend auf gegenseitigem Interesse und gegenseitigem Respekt und einer basierend auf der Wahrheit, dass Amerika und der Islam nicht exklusiv sind und nicht miteinander konkurrieren müssen. Sie überlappen sich und teilen die gleichen gemeinsamen Prinzipien – die Prinzipien von Gerechtigkeit und Fortschritt, Toleranz und Menschenwürde.“1

Obama war klar, dass eine Rede nicht das jahrelange Misstrauen auslöschen würde, aber er forderte die Menschen auf „einander zuzuhören, zu respektieren und voneinander zu lernen, um eine gemeinsame Grundlage zu finden.“2

In seinen Anmerkungen erinnerte Obama seine Zuhörer daran, dass die Vereinigten Staaten und Israel aufgrund ihrer historischen und kulturellen Beziehungen eine untrennbare Verbindung hätten. Vor dem Hintergrund des jahrelang bestehenden Antisemitismus verstand Obama auch den Wunsch der Juden nach einem eigenen Heimatland.3 Gleichzeitig betonte der Präsident die Wichtigkeit der Diplomatie und ermutigte die Menschen, den Konflikt von beiden Seiten aus zu betrachten. Er erklärte den Israelis, dass eine Ignoranz gegenüber den vielen Palästinensern, die seit Jahrzehnten in Flüchtlingslagern lebten, ebenfalls ein moralisches Dilemma darstelle. Obama argumentierte, dass die einzig sinnvolle Lösung zu dieser jahrzehntelangen Krise ein Zweistaatensystem wäre, in dem sowohl Palästinenser als auch Israelis in Frieden und Sicherheit miteinander leben könnten.4

Von diesem Kompromiss würden nicht nur die beteiligten Völker profitieren, sondern auch die Vereinigten Staaten und die restliche Welt.5 Mit Nachdruck wies Obama darauf hin, dass die USA den Frieden nicht aufoktroyieren kann, er aber für die notwendige Unterstützung sorgen würde, damit beide Gruppen ihre Ziele erreichen.6 Dabei umriss er eine Reihe von Maßnahmen, die beide angehen sollten, damit Verbesserungen eher früher als später eintreten.7 Obama schlug vor, dass die Palästinenser von Gewalt absehen sollten und die Israelis damit aufhören müssten, den Palästinensern ein Recht auf einen eigenen Staat abzusprechen.8 Der Präsident gestand, dass die Israelis, wenn man mit ihnen privat unter vier Augen sprach, die Notwendigkeit eines palästinensischen Staates durchaus verstanden. Obama schlug daher vor: „Es ist an der Zeit, dass wir das machen, von dem alle wissen, dass es das Richtige ist.“9

Der Konflikt zwischen zwischen Israel und Palästina war nicht der einzige Brennpunkt im Mittleren Osten. Obama war klar, dass er auf die Befürchtungen der Öffentlichkeit eingehen musste, der Iran sei im Besitz nunklearer Waffen. Obama brachte daher das Thema in einem historischen Zusammenhang zur Sprache. Er gab zu, dass die Vereinigten Staaten und der Iran eine eher schwache Beziehung zueinander hätten, weil zu Zeiten des Kalten Krieges die USA beim Sturz der demokratisch gewählten iranischen Regierung involviert war. Obama stellte jedoch klar, dass die Vereinigten Staaten und der Iran in die Zukunft, statt in die Vergangenheit blicken sollten. Er sprach über sein Ziel: Eine atomwaffenfreie Welt zu schaffen, weil „keine einzelne Nation bestimmen soll, welche Nationen nukleare Waffen besitzen dürften“.10

* * *

Einen Tag nach seiner Ansprache in Kairo reiste Obama nach Deutschland. Thema seiner Kurzreise war der Besuch von historisch signifikanten Schauplätzen des Zweiten Weltkrieges, zu dem auch ein Abstecher nach Dresden gehörte, einschließlich einer Führung durch das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Stadt Dresden zum Ziel verheerender Bombenangriffe, die von den britischen und amerikanischen Streitkräften durchgeführt wurden. Über 25 000 Menschen kamen bei diesen Luftangriffen ums Leben.11 Aufgrund seiner großen Beliebtheit organisierte Dresden auf dem historischen Marktplatz eine 2-tägige Feier. Die damalige Bürgermeisterin, Helma Orosz, sprach von Obamas Besuch als „bedeutsames Ereignis“12, das in die Geschichtsbücher der Stadt eingehen würde.

Während die Bürger Dresdens sich über die Anwesenheit des amerikanischen Präsidenten freuten, löste seine Städtewahl – traditionell wäre ein offizieller Staatsbesuch in der Landeshauptstadt Berlin angebracht – eine Kontroverse auf beiden Seiten des Atlantiks aus: Kritiker in Deutschland interpretierten diese Entscheidung als Affront gegenüber Merkel, denn sie machten die Kanzlerin dafür verantwortlich, dass sich die Beziehung zu den USA seit Obamas Amtsantritt verschlechtert hätte.13 Auch in Washington gab es Schelte: Einer von Obamas schärfsten Kritikern, der konservative Blog Power Line, brachte die Schlagzeile: „Dresden: Die nächste Station bei Obamas Entschuldigungs-Reise“ und bemängelte, dass der Präsident mit seinem Aufenthalt in Dresden die unschönen Momente der amerikanischen Geschichte hervorhob.14

Trotz der kritischen Worte an beiden Fronten, nutzten die beiden Staatsführer ihre gemeinsame Zeit. Neben Gesprächen standen auf ihrer Agenda der Besuch der Frauenkirche, eine Tour der Gedenkstätte Buchenwald sowie eine gemeinsame Pressekonferenz.

Zunächst besuchten die beiden Staatsführer Dresdens berühmte Frauenkirche, die während der Bombenangriffe 1945 fast komplett ausbrannte und nach der Wende in den 1990er-Jahren wiederaufgebaut wurde. Diese Kirchentour bot Gelegenheit für die Politiker, die sich zu diesem Zeitpunkt noch fremd waren, einander in einem relativ informellen Rahmen zu begegnen – abseits der Herausforderungen, welche die Formalitäten eines traditionellen Staatsbesuchs sonst mit sich bringen.

Dann gab es eine Besprechung der beiden Staatsführer, gefolgt von einer gemeinsamen Pressekonferenz. Diese hatte das übliche Format: Beide Politiker hielten eine kurze Ansprache und beantworteten anschließend Fragen aus dem Pressekorps. Scheinbar von den Spekulationen um Obamas Absage an Berlin unbeeindruckt, hieß die Kanzlerin den Präsidenten willkommen und dankte ihm für seinen Besuch: „Es ist sehr schön, dass der amerikanische Präsident Barack Obama zuerst nach Dresden kommt. Dresden ist eine Stadt von hoher Symbolkraft, zerstört während des Zweiten Weltkrieges, dann wiederaufgebaut. […] Die Menschen in den neuen Bundesländern freuen sich sehr, dass der Besuch hier stattfindet; denn das ist auch ein Stück Anerkennung für die Leistung, die in den 20 Jahren nach dem Mauerfall erbracht wurde.“15

Sollte Merkel tatsächlich darüber enttäuscht oder gar beleidigt gewesen sein, dass Obama nicht nach Berlin gekommen ist, dann hat sie es sich zumindest nicht öffentlich anmerken lassen. Auch empfand sie es als unnötig, auf die kleinkarierten Kommentare der Medien einzugehen. Vielmehr wollte sie die Chance ergreifen, Obama den Fortschritt zu zeigen, den ihr Land seit Ende des Zweiten Weltkrieges gemacht hatte – einen Fortschritt, der zum großen Teil aufgrund der guten Beziehungen zwischen den USA und Deutschland möglich war.

Nach ihren Willkommensworten listete die Kanzlerin die Themen auf, die sie mit Obama besprochen hatte und erwähnte sowohl Konsens als auch Dissens. Dabei war aus ihren Bemerkungen dem Präsidenten gegenüber ein immer größer werdender Respekt herauszuhören. Dementsprechend nahm sie Bezug auf Obamas Rede in Kairo vom Vortag: „Präsident Barack Obama hat gestern eine bedeutende Rede in Kairo gehalten, die der Ausgang für viele politische Aktivitäten sein kann, insbesondere im Hinblick auf den Friedensprozess im Mittleren und Nahen Osten. […] Ich habe für die Bundesrepublik Deutschland erklärt, dass wir mit dem, was wir an Erfahrungen, an Kenntnissen und an Möglichkeiten haben, in diesem Friedensprozess hilfreich sein wollen. Wir brauchen eine Zweistaatenlösung. […] Alles, was Deutschland tun kann, wird es tun, um diesen Prozess konstruktiv und möglichst erfolgreich zu begleiten.“16

Merkels Worte waren in zweierlei Hinsicht wichtig: Sie signalisierte, dass sie mit seiner Ansicht vertraut war und dass die USA und Deutschland in dieser besonderen politischen Angelegenheit an einem Strang ziehen würden. Die Tatsache, dass Merkel über „die Bundesrepublik Deutschland“ sprach – also den vollen, offiziellen Namen wählte, statt schlicht „Deutschland“ sagte – zeigte sicherlich auch die Dringlichkeit, mit der sie dieses Problem lösen wollte.

In Bezug auf die Verhandlungen mit dem Iran über das Atomprogramm versprach die Kanzlerin, sie würde nicht nur mit den Vereinigten Staaten eng zusammenarbeiten, sondern auch mit allen anderen Verbündeten, um eine befriedigende Lösung zu finden. „Deutschland möchte mit seinen Kontakten und seinen Expertisen also auch hier wieder seinen Beitrag leisten.“17

Merkel sprach auch das kontroverse Thema Weltmärkte an. In ihrer pragmatischen Art wies sie auf eine Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden Politikern hin: „Auch die Vereinigten Staaten arbeiten an einem sehr ehrgeizigen Plan. Wir werden die Dinge vor allen Dingen auch beobachten.“18 Merkel erwähnte die Notwendigkeit der Länder, den auf dem G20-Gipfel vereinbarten politischen Maßnahmen nachzukommen und war erleichtert, dass sowohl die USA als auch Europa diese umsetzen wollten. Ihr Statement über die Finanzkrise war wichtig, denn zwischen den Zeilen ist hier ihre Besorgnis über Obamas Plan herauszuhören. Sie schien kurz davor, ihn zu kritisieren – ganz anders als noch vor ein paar Monaten in ihrem New York Times-Interview zum G20-Gipfel, „Widerstehe Obama“.

Ehe Merkel ihrem Amtskollegen das Wort übergab, wies sie darauf hin, wie wichtig eine amerikanische Beteiligung für die Erlassung von Klimaschutzgesetzen sei. Während sie die Zuhörer an die bevorstehende Klimakonferenz in Kopenhagen erinnerte, die später im Jahr stattfinden sollte, stieß sie die USA direkt mit der Nase darauf und betonte, dass die Vereinigten Staaten ihren Beitrag leisten müssen: „Wir wissen, dass dies politisch ein sehr dickes Brett ist, das man bohren muss; wir kennen das auch aus den Diskussionen, die wir hier zu Hause haben, und verfolgen die Gesetzgebung sehr intensiv.“19

Der Mangel an Klimaschutzgesetzen war ein Streitpunkt zwischen Merkel und der Administration von Obama. Mit ihren Bemerkungen spielte sie darauf an, dass ein teilnahmsloser US-Kongress keine Entschuldigung dafür sei, keine Gesetze zu verabschieden, die von einer derart globalen Wichtigkeit wären. Sie wolle beobachten, was die Vereinigten Staaten in Bezug auf Maßnahmen zum Klimaschutz vorhaben.

In seiner gewohnt charmanten Art begann Obama seine Rede, indem er sich bei der Kanzlerin und bei den Deutschen für ihre Gastfreundschaft bedankte und Bewunderung über die „schöne und historisch-signifikante Stadt Dresden“20 aussprach. Wie wichtig ihm die Freundschaft zu Deutschland war, formulierte er so: „Deutschland ist ein enger Freund und kritischer Partner für die Vereinigten Staaten; und ich glaube, dass Freundschaft nicht nur für unsere zwei Länder essenziell sein wird, sondern für die Welt, wenn wir Fortschritte bei den wichtigen Themen machen wollen, mit denen wir konfrontiert sind – seien es die nationale Sicherheit, wirtschaftliche Aspekte oder Aspekte, die den ganzen Globus betreffen, wie der Klimawandel.“21

Auch Obama fasste das Treffen zusammen und äußerte sich zur Wirtschaftskrise wie folgt: „Ich denke, dass auf beiden Seiten des Atlantiks bereits Fortschritte zur Stabilisierung der Wirtschaft gemacht wurden, aber wir sind damit noch lange nicht fertig. […] Wir arbeiten fleißig daran, die finanziellen Regulierungsmaßnahmen auszubauen, sodass eine derartige Krise nicht noch einmal passiert; und die Koordination zwischen Europa und den Vereinigten Staaten wird bei einer verstärkten Regulierung der Finanzmärke wichtig werden. Wir versichern, dass wir dabei keinen Protektionismus betreiben werden. Und, so wie es alle tun um die Wirtschaft wieder anzukurbeln, werden auch wir sicherstellen, dass die Grenzen offen sind und sich Firmen zwischen den USA und Europa frei hin und her bewegen können, um dabei Waren und Dienstleistungen in dem jeweiligen Land anzubieten.“22

Als Obama die aktuellen Sicherheitsfragen ansprach, betonte er die Wichtigkeit der NATO und wie wertvoll Deutschland als Partnerland seit jeher wäre.23 Er fügte hinzu, dass das Verhindern von Terroranschlägen eine kollektive Verpflichtung aller NATO-Partner war und betonte, dass diese Verpflichtung weiterhin bestehen bleiben müsste. Auch als der Präsident über das Verhindern eines nuklearen Wettlaufs mit dem Iran und die Zweistaatenlösung sprach, betonte er, dass diese Ziele nur mithilfe anderer Nationen erreicht werden könnten.

Obama beendete seine Rede, indem er Merkel gegenüber seine Bewunderung zum Ausdruck brachte und sie abermals als „Freundin“ bezeichnete: „Es ist ein großes Vergnügen, erneut hier mit meiner Freundin zu sein, die ich gerne für intelligente Analysen aufsuche und mit der ich Klartext reden kann.“24 Obwohl Merkel immer noch nicht dazu in der Lage war, offen über ihre persönliche Beziehung oder ihre Gefühle gegenüber Obama zu sprechen, machte Obama keinen Hehl aus seiner Affinität zur Kanzlerin – und das nun schon zum zweiten Mal und öffentlich.

Aus den nachfolgenden Fragen der Presse war jedoch Skepsis darüber herauszuhören, ob Obamas Kommentare tatsächlich aufrichtig oder nur „Show“ für die Medien waren. Denn mit der ersten an den Präsidenten gerichteten Frage ging es um „wilde Spekulationen“ in Bezug auf seinen Kurzbesuch in Deutschland und sein angeblich angespanntes Verhältnis zur Kanzlerin. Hierbei waren die Kameras auf Angela Merkel gerichtet, deren ernster Gesichtsausdruck sich plötzlich entspannte und ein kleines Lächeln trug. Obama beteuerte, es wären tatsächlich nur „wilde Spekulationen“, und schließlich wären auch simple Faktoren wie Reiseplanung oder sehr enge Zeitpläne zu berücksichtigen.25 Oder, anders ausgedrückt, die Presse würde zu viel in seinen Kurzbesuch hineininterpretieren.

Mit den nun folgenden Worten sollte er weltweite Aufmerksamkeit erhalten und diejenigen amüsieren, die zu jenem Zeitpunkt präsent waren: Obama sagte der Presse, sie solle aufhören, über Probleme zu reden, die nicht existieren. Dann hob er den Journalisten zugewandt seinen Zeigefinger und forderte: „Also, bitte aufhören, alle von Ihnen. Ich weiß, dass Sie etwas finden müssen, worüber Sie berichten können. Aber wir haben genug Probleme und brauchen nicht noch hausgemachte.“26 Leider waren die Kameras in jenem Moment auf Obama gerichtet, sodass man Merkels Reaktion nicht sehen konnte. Das Lachen des Publikums war jedoch überwältigend.

Die Kanzlerin wartete bis Obama mit seiner Antwort fertig war, um dann mit Nachdruck zu kommentieren: „Erlauben Sie bitte, wenn ich einmal sagen darf, dass es sehr viel Spaß macht, mit dem amerikanischen Präsidenten zu arbeiten, weil sehr ernste, tiefe analytische Diskussionen uns oftmals zur gleichen Schlussfolgerung bringen. Und ich denke, dass wir das in London bewiesen haben, wir haben das auch in den Meetings davor bewiesen. Ich denke, das ist ein Teil unserer Aufgabe, nicht wahr, dass wir unsere Ansichten austauschen, auch andere Ansichten, die man vielleicht hat. Und wo immer es nötig ist, kommen wir zu einer gemeinsamen Lösung. Von daher freue ich mich auf eine zukünftige Zusammenarbeit.”27 Dies war ein kühnes Statement von einer sonst doch eher reservierten Kanzlerin. Ihre Worte ließen erkennen, dass nun auch sie Hoffnung in ihn setzte, so wie viele ihrer deutschen Mitbürger auch. Sie hat lange genug mit Obama gearbeitet um zu erkennen, dass hinter seinen Worten tatsächlich Taten standen.

Als ein Reporter das heikle Thema Guantanamo aufbrachte – Obama hatte versprochen, bei seinem Wahlsieg das Lager einzustellen – bestätigte der Präsident die Komplexität der Angelegenheit und dass er mit Merkel und anderen europäischen Politikern in Bezug auf die Schließung gesprochen habe. Obama stellte klar, dass die Kanzlerin hierbei keinerlei Einsatzbereitschaft zeigte, er jedoch auch keine von ihr verlangt habe. Obama fügt hinzu: „Die Kanzlerin ist sehr offen, mit uns darüber zu diskutieren […] ich bin über Offenheit sehr dankbar, nicht nur über Merkels, sondern auch über die Tatsache, dass andere europäische Länder mit uns zusammenzuarbeiten wollen. […] Ich schätze die konstruktive Art, mit der Merkel dieses Thema angeht.“28

Als die Kanzlerin diese Frage beantwortete, gab sie zu, dass Deutschland, und insbesondere ihre Regierung, sehr stark die Schließung befürworte und dass Verhandlungen zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten stattfinden. Die Schließung dieser Einrichtung war ein Punkt, auf den sich Obama und Merkel von Beginn an einigen konnten. Auch dominierte diese Angelegenheit viele Diskussionen in der Anfangszeit, aber leider musste sie wegen fehlender Unterstützung seitens des US-Kongresses auf spätere Treffen vertagt werden. Merkel bekräftigte: „Ich bin sehr davon überzeugt, dass wir eine gemeinsame Lösung finden werden.“29

Bei einer anderen Pressefrage ging es um die andauernde Krise zwischen den Israelis und Palästinensern im Mittleren Osten. Hier bekräftigte Obama, dass insbesondere nach einer jahrelangen Sackgasse die Hilfe aller Nationen wichtig sei und betonte dabei die Rolle von Merkel im Verhandlungsprozess: „Ich schätze sehr die Bereitschaft von Kanzlerin Merkel, Prestige und Ressourcen der deutschen Regierung hinter die gleiche Sache zu stellen. Ich denke, dass die gesamte internationale Gemeinschaft eine Verantwortung darüber hat, diesen Parteien dabei zu helfen, einen hart erkämpften Frieden zu erreichen, was letztlich im Sinne der Sicherheitsinteressen aller ist.“30

Bei ihrer Antwort ergriff Merkel die Gelegenheit, dem Präsidenten zu danken. Sie erklärte, dass Obamas Worte und Taten eine neue Dringlichkeit in dieser Angelegenheit zeigten – eine Sache, von der sich die vorherige Administration abgewandt hatte. „Ich glaube jetzt, dass mit der neuen amerikanischen Regierung, mit Präsident Obama, eine einzigartige Gelegenheit existiert.“31Sie stimmte dem zu, dass Israel und Palästina bereit sein müssten, die von Obama umschriebenen Schritte zu gehen. Wenn dies passiere, dann könnten sich beide Nationen sowohl auf die Unterstützung Deutschlands als auch der USA verlassen.32 In Bezug auf Israel hegte Merkel Schuldgefühle über die Dinge, die den Juden während des Holocausts angetan wurden. Die Juden zu schützen war daher ein wichtiger Bestandteil ihrer Agenda.33 Sie war fest davon überzeugt, dass ein Zweistaatensystem die sicherste Lösung für beide Länder war, um friedlich nebeneinander zu leben. Der Schutz von Frieden und die Sicherheit Israels gehörten zu den Eckpfeilern von Merkels Außenpolitik. Die Tatsache, dass auch Obama bereits sehr früh in seiner Amtszeit diese Angelegenheit als Top-Priorität behandelte, könnte ebenfalls dazu beigetragen haben, dass sich eine gute Beziehung zwischen Obama und Merkel entwickelte.

Von einem Reporter auf seinen bevorstehenden Besuch im Konzentrationslager Buchenwald angesprochen, erklärte der Präsident dies geschähe im Zusammenhang mit seiner Kurzreise in die Normandie, wo er den 65. Jahrestag der Landung der alliierten Truppen würdigte. Zudem hätte er noch nie ein Konzentrationslager besucht. Obama hatte ganz speziell Buchenwald gewählt, da sein Großonkel Charles Payne zu den Truppen gehörte, die damals das Lager befreiten.34 Als Merkel das Wort ergriff, betonte sie, dass es viele Politiker abgelehnt hätten, einen so grausamen Ort der deutschen Geschichte überhaupt aufzusuchen. Sie hingegen unterstütze den Besuchswunsch des Präsidenten und nannte dies eine Ehre: „Ich bin sehr davon ergriffen, einen amerikanischen Präsidenten, in diesem Fall Barack Obama, als Besucher in Buchenwald zu sehen. Er hat von seinem persönlichen Bezug dazu gesprochen. Sehen Sie, Buchenwald ist eines dieser schrecklichen Konzentrationslager, die von amerikanischen Truppen befreit wurden.“35 Merkels Worte zeigten, dass sie sich der Bedeutung von Obamas Buchenwald-Besuch bewusst war – nicht nur in Bezug auf den Präsidenten persönlich, sondern auch auf die diplomatische Beziehung der beiden Länder zueinander.

Zum Abschluss der Pressekonferenz gaben sich beide Politiker die Hand, lächelten einander an und schienen sichtlich entspannter als noch 40 Minuten vor dem Treffen. Merkel war zwar noch nicht so weit, Obama als einen „Freund“ zu bezeichnen, aber sie zeigte zum ersten Mal sehr offen Respekt für den neuen Präsidenten.

* * *

Im Anschluss an die Pressekonferenz begleitete Merkel den Präsidenten bei der gut 200 km langen Fahrt von Dresden zur Gedenkstätte Buchenwald. Merkel, die zuvor einen knalligen gelbgrünen Blazer trug, wechselte hierfür ihre Garderobe und erschien in einem schwarzen Hosenanzug, der die Dunkelheit desjenigen Ortes demonstrierten sollte, der als Nächstes auf ihrer Agenda stand. Zwei ehemalige Buchenwald-Häftlinge, Elie Wiesel und Bertrand Herz, begleiteten die beiden Staatsführer. Es war ein historisches Ereignis, zumal Präsident Obama der erste amerikanische Präsident war, der ein ehemaliges Konzentrationslager besuchte und zudem eine persönliche Verbindung damit hatte. Er wollte die schrecklichen Dinge aus nächster Nähe sehen, über die sein Großonkel gesprochen hatte, als dieser als junger Soldat im April 1945 Buchenwald sowie ein zu Buchenwald gehöriges Außenlager in Ohrdruf befreite.

Die Zeitschrift Der Spiegel kommentierte das Ereignis mit „Es ist März-Wetter im Juni“36, eine wahrlich gut gewählte Metapher für den Besuch eines Ortes mit solch düsterer Vergangenheit. Vor Beginn der Tour legten Obama, Merkel, Wiesel und Herz eine weiße Rose auf eine Gedenktafel zu Ehren der 50 000 Menschen, die hier ihr Leben ließen. Anschließend sprachen Merkel, Obama und Wiesel über den Horror in Buchenwald und seine historische Bedeutung. Merkel war sichtlich berührt. Sie erklärte, dass die Deutschen die Pflicht und Verantwortung hätten, an einer Welt frei von Xenophobie, Rassismus, Anti-Semitismus und rechtsradikalem Extremismus zu arbeiten, um zu verhindern, dass sich die Gräueltaten des Zweiten Weltkrieges wiederholten.37 Ähnlich wie Präsident Obama die Verantwortung über die Finanzkrise auf dem Londoner G20-Gipfel übernahm, bekannte sich Merkel zu der Brutalität des Zweiten Weltkrieges. „Dieser Appell der Überlebenden fordert eine Verantwortung, mit der wir Deutschen uns unserer Geschichte stellen müssen.“38 Merkel endete abschließend damit, sich nicht nur bei Obama für seinen Besuch zu bedanken, sondern auch ihre Dankbarkeit gegenüber den Vereinigten Staaten für die jahrelange Hilfe auszudrücken: „Wir Deutschen werden nicht vergessen, dass wir die Chance zum Neuanfang, zu Frieden und Freiheit nach dem Krieg der Entschlossenheit, dem Einsatz und ja, auch dem Blutzoll der Vereinigten Staaten und all derer zu verdanken haben, die an ihrer Seite als Alliierte oder Widerstandskämpfer standen.“39

Auch Präsident Obama war sichtlich berührt, als er zu seiner Rede ansetzte. Er bekundete, dass „dieser Ort im Laufe der Zeit nichts von seinem Horror verloren hat.“40 Gedenkstätten wie Buchenwald würden die Menschen daran erinnern, sich nicht in einer falschen Behaglichkeit zu wiegen, dass das Leiden anderer nicht auch ihr Problem sei. Zudem erinnere Buchwald an die Verpflichtung, sich denjenigen zu widersetzen, die andere für ihre eigenen Interessen unterjochen.41 Merkels Körpersprache zeigte bei Obamas Worten sichtliches Unbehagen. Die Kanzlerin, die direkt neben dem Präsidenten stand, verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Ihre Arme und Hände waren unruhig und es liefen Tränen aus ihren Augen.

Obama wies auf die enorme Widerstandskraft der Gefangengen hin. Dem Publikum zugewandt erklärte er, dass die Häftlinge, die hier auf diesem Gelände so viele Jahre gelitten hatten, sich nicht vorstellen konnten, dass es später einmal ein Museum und ein Denkmal geben würde und dass die Turmuhr für immer 3 Uhr 15 anzeigen würde – dem Moment der Befreiung, für alle zukünftigen Generationen sichtbar.42 Er fügte hinzu: „[…], dass man damals noch nicht wissen konnte, dass Israel einmal aus dem zerstörerischen Holocaust emporsteigen und ein starkes, beständiges Bündnis zwischen dieser großen Nation und meiner eigenen entstehen würde. Und sie konnten nicht wissen, dass eines Tages ein amerikanischer Präsident diesen Ort besuchen und über sie sprechen würde und dass er dabei Seite an Seite mit der deutschen Kanzlerin in einem Deutschland stehen würde, das jetzt eine lebendige Demokratie und wertvoller Verbündeter Amerikas ist.“43

Obamas für ihn untypische, strenge, aber emotionale Haltung reflektierte seine Dankbarkeit, in Solidarität neben der Staatsführerin einer Nation zu stehen, die ein ehemaliger Widersacher war. Obama teilte mit Merkel die Ansicht, dass es eine Verpflichtung gegenüber den Überlebenden sei zu versichern, dass so etwas nicht noch einmal geschehen würde. Er argumentierte: „Es liegt an uns, der Ungerechtigkeit, Intoleranz und Gleichgültigkeit zu widerstehen […] und sicherzustellen, dass diejenigen, die wir hier verloren haben, nicht umsonst starben. Es liegt an uns, diesen Glauben zu rehabilitieren. Es liegt an uns, dies zu bezeugen; all diejenigen zu erinnern, die überlebten und die umkamen, und sie nicht als Opfer zu erinnern, sondern als Individuen, die genau wie wir hofften und liebten und träumten.“44

Zum Schluss dankte er Merkel dafür, die Verantwortung für eines der dunkelsten Kapitel der modernen Geschichte zu übernehmen: „Ich möchte meinen besonderen Dank Merkel und dem deutschen Volk aussprechen, da es nicht leicht ist, auf diese Weise in die Vergangenheit zu schauen, sie anzuerkennen und etwas daraus zu machen; den Entschluss, dass sie sich gegen Taten wie diese stellen werden, damit so etwas nicht nochmal passiert.“45

Der Besuch des Konzentrationslagers hatte sicherlich einen anderen Charakter als ein traditioneller Staatbesuch in Berlin, aber er war ohne Frage gleichermaßen lehrreich und informativ für beide Staatsführer. Aus persönlicher Sicht konnte Obama direkt die Eindrücke von jenem Ort mitnehmen, der seinem Großonkel über viele Jahre ein Ort des Horrors gewesen war. Aus professioneller Sicht sah Obama mehr von dem „Mensch“ Angela Merkel, da sie ihre Vorbehalte nun abgelegt hatte und sich im Gegensatz zu ihrem sonst sehr reservierten Charakter auch von ihrer emotionalen Seite zeigte. Zudem hatte Obama die Gelegenheit anhand ihrer Worte und Taten die Charakterzüge zu erleben, die er so sehr an ihr bewunderte – nämlich ihre Ehrlichkeit und ihre Stärke.

Ähnlich wie Obama sich auf dem Gipfel in London für die Rezession verantwortlich zeigte, machte sich Merkel die Grausamkeiten des Holocausts zu eigen. Auch für Merkel war dieses Treffen ein Schlüsselerlebnis. Wie bereits erwähnt, hatte sie zu Beginn arge Bedenken gegenüber dem Präsidenten – er würde nur reden und nicht handeln. Jedoch ließ seine Bereitschaft bzw. sein Insistieren, nach Buchenwald zu gehen, ihre Befürchtungen zunichtewerden.

Wenn aus diesem Besuch eines deutlich wurde, dann war es die Tatsache, dass auch ohne eines traditionellen Staatsbesuchs Allianzen erneut bekräftigt, politische Maßnahmen diskutiert und Partnerschaften gestärkt werden können. Oder anders formuliert: Zwei bereitwillige Parteien sind wichtiger als Orte und Traditionen.

Lieber Barack: Die außergewöhnliche Partnerschaft zwischen Angela Merkel und Barack Obama

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