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Der politische und soziale Jeschu

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Im Rahmen einer Veranstaltung in einer katholischen Akademie beschwerte sich ein älterer Teilnehmer darüber, dass in Vorträgen und Predigten neuerdings die soziale Komponente von Jesus so in den Vordergrund gestellt würde. „Ja, was denn sonst?“, möchte ich fragen. Was hat der stramme Katholik verstanden von dem, was dieser Jeschu in seiner damaligen Welt verändern wollte? Selbst aus den uns bekannten Texten mit all ihren Übersetzungsschwächen können wir zweifelsfrei erkennen: Jesus war ein HerzDenker. Jede Form von Diskriminierung war ihm fremd, er war offen für Andersdenkende, geistig oder materiell Minderbemittelte, für damalige unterdrückte Minderheiten wie „Andersgläubige“, kranke und behinderte Menschen, Frauen oder Kinder. Er stellte sich mutig und konsequent und unter Einsatz seines Lebens gegen das herrschende Regime, um einen tief greifenden Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse herbeizuführen. Wenn wir uns darauf zurückbesinnen, werden wir unweigerlich politisch in unserem Denken und Handeln. Ein Christentum ohne politische Folgen und ohne engagiertes Handeln im Sinne dieses galiläischen Wanderpredigers ist eine Farce. Umgekehrt bin ich überzeugt: Wenn es uns gelingt, die Essenz der jesuanischen Botschaften zu durchdringen und sie auf einfache, aber wirkungsvolle und heilsame Weise auf die Bedürfnisse und Forderungen unserer heutigen Zeit zu übertragen, dann hat das Christentum auch bei nachfolgenden Generationen nicht nur eine Überlebenschance, sondern bietet uns als Gesellschaft die Chance, nicht nur zu überleben, sondern in einem freudvollen und friedlichen Miteinander die uns anvertraute Schöpfung zu bewahren.

Unweigerlich kommt dabei die Frage auf: Wozu brauchen wir da Jesus? Eine ethische Grundhaltung, verbunden mit sozial- und gesellschaftspolitischem Engagement, ist völlig ausreichend. Man kann auch ohne religiöse Einstellung und ohne historisches Vorbild in dieser Welt wirken. Das stimmt. Ich kenne Frauen und Männer, die mit Religion absolut nichts anfangen können, sich als Atheisten verstehen und trotzdem Gutes tun und viel bewegen. Ich selbst war ein Jahrzehnt lang überzeugt, dass jede Religion eine Erfindung von Schwächlingen ist, die ein geistiges und geistliches Geländer brauchen, um im Leben zurechtzukommen. Ich glaube nicht, dass ich in dieser Zeit ein schlechterer Mensch war. Ich weiß jedoch auch, dass mein Leben bei Weitem anstrengender war. Ich fühlte mich orientierungs- und haltloser und oft allein und verloren. In Zeiten der Leichtigkeit und des Frohsinns fällt einem das Fehlen eines Leitsterns vielleicht weniger schmerzlich auf. In meinem Sozialverhalten bemerke ich den Unterschied vor allem in unangenehmen Situationen und wenn es gilt, etwas zu tun, das mir gerade nicht so recht in den Kram passt. Da ist die innere Ausrichtung auf diesen Jeschu doch sehr hilfreich.

Ein Beispiel: Mein Mann und ich unterstützten eine junge Thailänderin in ihrem Kampf gegen ihren übergriffigen und gewalttätigen Ehemann. Wir engagierten uns über längere Zeit nicht nur zeitlich und materiell, sondern vor allem auch emotional. Ich lag viele Nächte wach vor Sorge, wie es für diese Frau weitergehen würde. Nachdem viel geschafft war und für sie alle Ampeln in Richtung „gutes Leben in Deutschland“ auf Grün standen, ging sie zu dem Mann zurück. So viel vergebene Liebesmüh! Es dauerte, bis wir uns von dem Schock erholten. Wir ließen sie von da an los und wünschten ihr Glück, in der Hoffnung, dass die Dinge nicht so kommen würden, wie wir befürchteten. Es kam, wie es kommen musste: Zwei Jahre später ereilte uns der nächste Hilferuf. Diesmal war die Situation noch heftiger eskaliert, mit Polizeieinsätzen und Szenen, die reichlich Stoff für einen spannenden Sonntagabendkrimi geboten hätten. Unser beider erste innere Reaktion: „Nein, nicht alles von vorn! Selbst schuld. Jetzt muss sie sehen, wie sie klarkommt.“ Diese Haltung hätten wir vor uns rechtfertigen können, zumal die Frau diesmal eine professionelle Sozialarbeiterin an ihrer Seite hatte. Ich bin sicher, in unserem Umfeld hätten viele Menschen Verständnis gehabt, wenn wir gesagt hätten: „Nein, wir nicht mehr. Wir haben genug getan.“ Hier kommt für mich dieser Jesus ins Spiel. Ich weiß noch genau, wie es sich anfühlte, als wir die Nachricht auf dem Handy-Display entdeckten. Nach ein paar Minuten Bedenkzeit und zugegebenermaßen genervtem Stöhnen und Augenverdrehen schauten wir uns an und es war klar: Wenn wir uns an diesem Jesus orientieren, der immer und immer wieder nicht nur das Verzeihen und den Neuanfang predigte, sondern selbst durch und durch barmherzig handelte, können wir unmöglich bei unserem inneren „Nein“ bleiben. Dann muss die Tür zu unserem Haus und vor allem zu unseren Herzen wieder aufgehen, so schwer es im ersten Moment auch fallen mag. Das meine ich damit, dass es leichter ist, mit solch einem Vorbild zu leben, weil es einem im richtigen Augenblick in den Sinn kommt und man sich daran orientieren kann, ohne zigmal abwägen und das Für und Wider diskutieren zu müssen.

Nicht, dass mir diese Haltung und Ausrichtung immer gelänge. Mir geht es darum, aufzuzeigen, wie hilfreich es sein kann, diesen Jeschu als Ideal vor Augen zu haben, vor allem bei Fragestellungen und Entscheidungen, bei denen es schwerfällt, den sozial verträglicheren und liebevolleren Weg zu gehen. In dem Moment, in dem ich das Gefühl habe, ich könnte meine Bequemlichkeit, meinen Starrsinn, meine Besserwisserei oder meine Ich-Bezogenheit in den Vordergrund stellen und diese Haltung auch noch vor mir und der Welt rechtfertigen, genügt es oft, mir Jesu Blick vorzustellen. Einfach nur, wie er mich anschaut. Dazu brauche ich nicht einmal den Wortlaut seiner Reden zu kennen. Sein Blick genügt, um mich innehalten und meinen Standpunkt überdenken zu lassen. Anderen Menschen mögen andere Vorbilder dienen oder auch ein innerer Wertekatalog, der ohne personifiziertes Idealbild auskommt. Mir fällt es leichter, wenn ich nicht erst innerlich einzelne Werte „abklappern“ muss, sondern mich be-sinne auf diese Persönlichkeit, die die Liebe ver-körpert und in einzigartiger Weise vorgelebt hat.

So kann dieser Jesus für jede und jeden Einzelnen von uns zum ganz persönlichen Leitstern werden. Unweigerlich muss er das aber sein für all diejenigen, die sich das Etikett „Christ“ auf die Fahnen schreiben. In politischer Hinsicht sind wir davon weit entfernt, sowohl in der Bundesrepublik als auch in dem sich gern einen besonders christlichen Anstrich gebenden Bundesland Bayern, in dem ich lebe. Wenn sich Menschen Christinnen und Christen nennen und zugleich fremdenfeindlich sind, dann passt das nicht nur nicht zusammen, sondern schreit als unauflösbarer Widerspruch zum Himmel. Nichts als fromme Sonntagsreden, Jesus selbst würde in den heutigen christlichen „Tempeln“ einen Wutausbruch bekommen. Wenn wir es als Christen auch nur im Ansatz ernst meinen mit dem, was wir an Attitüde vor uns hertragen, müssen wir so lange auf die Barrikaden gehen, bis sich auch die sogenannten christlichen Parteien wieder ernsthaft auf ihren Religionsstifter besinnen, statt in den Amtsstuben Kreuze aufzuhängen, junge Männer nach Afghanistan abzuschieben oder schärfere Grenzkontrollen sowohl an den EU-Außengrenzen als auch inzwischen sogar innerhalb des Schengenraumes zu fordern.

Der Theologe und Psychologe Eugen Drewermann spricht mir aus der Seele, wenn er sagt: „Allein, dass unsere Bevölkerung ein Wort akzeptiert wie ‚abschieben‘, ist mir unbegreifbar.“14 Angela Merkel hatte 2015 versucht, ihr Christsein zu leben und zumindest im Hinblick auf die zu uns geflüchteten Menschen ihr politisches Handeln daran auszurichten. Was musste sie dafür an Schelte und Häme einstecken! Dabei brachte ihr legendär gewordener Ausspruch „Wir schaffen das!“ die not-wendige Haltung zum Ausdruck: Für menschliches Handeln, das die Not anderer Menschen nicht nur sieht, sondern entschlossen lindern will, braucht es einen klaren Entschluss. Natürlich nutzt die menschlichste Flüchtlingspolitik wenig, wenn wir nicht endlich die Fluchtursachen bekämpfen und weiterhin satte Exportgewinne einfahren vom Geschäft mit in Krisenregionen gelieferten Waffen. Ich bin weit davon entfernt, Angela Merkel als Heilige und Retterin darzustellen. Deutschland ist nicht Helfer, sondern größter Mitverursacher der dramatischen weltweiten Probleme. Trotzdem empfinde ich die Haltung der Bundeskanzlerin in der Situation, in der die Folgen unserer schamlosen und ausbeuterischen Lebensweise auf Kosten von Menschen in ärmeren Ländern unübersehbar wurden, als jesuanisch. Zumindest damals. Dass sie heute wieder einen weichgespülten Kurs fährt, der sich an den Interessen der Wirtschaftslobbyisten mitsamt ihren Wachstumsparolen ausrichtet, ist leider ebenso unübersehbar. Vielleicht könnte auch sie und mit ihr alle anderen Politikerinnen und Politiker ab und an diesem Jesus in die Augen schauen – wenn der Blick in die Augen der ausgebeuteten, hungernden und vom Tod gezeichneten Mitmenschen offenbar nicht genügt, um eine andere Haltung und ein daraus resultierendes verändertes Handeln auszulösen.

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