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Religion als Wurzel allen Übels?

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Anders als zu Luthers Zeiten brauchen wir heute keine ausschweifenden 95 Thesen, um den Kern einer erneuerten Religion zu beschreiben. Es genügen wenige markante Eckpunkte, die für Menschen auf der Suche nach einer lebbaren Spiritualität in Gemeinschaft als Anhaltspunkte fungieren können. In kleineren oder größeren Gruppierungen können Suchende die Kernaussagen dieses Büchleins diskutieren, abwandeln und mit Leben füllen. Ich träume von Gemeinschaften, die ihre ureigenen Formen und Rituale leben, sich aber zugleich mit Menschen überall auf der Welt verbunden fühlen, die sich ebenfalls auf den Weg gemacht haben, um miteinander die Essenz der christlichen Tradition herauszuarbeiten und in für sie passenden Formen zu praktizieren und im Alltag zu leben.

Wir brauchen eine grundlegende Reformation, müssen aber das während des Luther-Jahres 2017 überstrapazierte Wort dafür nicht bemühen. Vielleicht braucht Religion, wie sie heute praktiziert und vielfach missbraucht wird, ohnehin eher eine Revolution als eine Reformation. Ganz sicher brauchen wir eine Transformation. Dennoch: Re-formation im Wortsinn bedeutet, etwas Bestehendem eine neue Gestalt zu geben. Mit meinen 9,5 Vorschlägen möchte ich die Ursprungsidee dieses großartigen Jesus von Nazareth aufgreifen und so wiederbeleben, dass ihr tiefer Sinn und ihre heilsame Wirkung wieder erfahrbar werden. In unserer heute oft von Angst, Habgier und gnadenlosem Egoismus bestimmten Gesellschaft mit den daraus resultierenden fundamentalistischen Tendenzen erscheint mir das wichtiger denn je.

Angesichts der immer deutlicher zutage tretenden Missstände in den großen christlichen Kirchen und ebenso in anderen Religionsgemeinschaften werden Rufe nach Abschaffung jedweder Religion lauter. In unserer ohnehin säkularisierten westlichen Welt heißt es schnell, der Missbrauch von Macht wäre systemimmanent. Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man das meinen. Nachdem ich den ebenso erschütternden wie großartig gemachten Kinofilm „#female pleasure“2 zum ersten Mal gesehen hatte, dachte ich auch: Ja, das Problem sind die Religionen an sich. In allen Kulturen und Weltreligionen werden Frauen im Namen einer wie auch immer ausgeprägten übergeordneten Macht missbraucht und gedemütigt. Ich schaute den Film ein zweites Mal an und fand meine Klarheit wieder: Nein, nicht Religion an sich ist das Problem, sondern der Missbrauch von Religion zum Zweck der Unterdrückung und Machtausübung. Das, was Menschen und leider vorwiegend Männer aus Religion machen und wie sie sie für ihre Zwecke einsetzen und missbrauchen, ist das eigentliche Problem. Es mag sein, dass ein religiöses System, das auf Autoritäten baut und zugleich eine metaphysische Komponente beinhaltet, besonders leicht entstellt und zweckentfremdet werden kann. Doch genauso werden andere Systeme zum Zweck der Machtausübung missbraucht. Am augenfälligsten ist es sicher in der Politik; aber auch in Wirtschaft, Bildung oder Gesundheitswesen werden Menschen systematisch unterdrückt, kleingehalten, belogen und betrogen. Seltsamerweise käme niemand auf die Idee zu sagen, Bildung an sich sei schlecht oder Gesundheit, wenn die Systeme abdriften, in denen diese immateriellen Güter entwickelt, verwaltet oder bewegt werden. Keiner würde sagen, wir müssen Bildung abschaffen, wenn das Bildungssystem zu wünschen übriglässt. Plötzlich können wir differenzieren zwischen dem Gut oder dem Wert an sich, den Menschen, die darin beschäftigt und dafür verantwortlich sind, und dem Gesamtsystem. Warum gelingt uns das bei Religion nicht? Ich bin überzeugt, dass wir Religionen brauchen, dringend sogar und vielleicht notwendiger denn je. Aber eben mit anderen Vorzeichen und so, wie sie ursprünglich gedacht waren: als Transportgefäße für Werte, an denen wir uns orientieren können, und als hilfreiche Lotsen beim Erforschen einer Wirklichkeit, die unserem Alltagsbewusstsein nicht immer unmittelbar zugänglich ist. Religion, definiert als Schnittstelle zwischen Immanenz und Transzendenz, als Geländer, das sowohl Leitlinie sein kann im Umgang mit meinem Nächsten und der Schöpfung als auch Wegweiser hin zu einer nicht greifbaren und doch erlebbaren Wirklichkeit, ist etwas zutiefst Beglückendes und ein Segen für die Menschheit. Wenn wir das Rad der Perversion und Entgleisung zurückdrehen und Religion neu erfinden, bereinigt um Macht, Gewalt und Herrschaftsanspruch, können wir andere drängende gesamtgesellschaftliche Probleme nicht nur leichter bewältigen, sondern deren Lösung ergibt sich ganz von selbst. Wer die Verbundenheit von allen mit allem spürt, sich seinen eigenen Schatten und Dunkelheiten stellt und sich ehrlich an einem Leitstern orientiert, der Gewaltfreiheit, eine nicht wertende Haltung und umfassende Liebe nicht nur gepredigt, sondern vor-bildlich gelebt hat, wird auch dankbar und respektvoll mit dieser Schöpfung umgehen und damit unser aller Lebensgrundlage bewahren.

Gerade junge Menschen sind oft verzweifelt auf der Suche nach einem tragenden Grund. Sie spüren: Schule, Ausbildung, Studium, ein guter Job, dann vielleicht Familiengründung, ein liebenswerter Freundeskreis und ein spannendes Freizeitleben, all dies sind wohltuende immaterielle Güter und erstrebenswerte Lebenssituationen. Doch irgendwann kommt der Punkt, an dem viele von ihnen spüren: Das kann nicht alles sein, es muss noch etwas „hinter den Dingen“ geben. Immer wieder erlebe ich in Beratungssituationen junge Erwachsene, die von einer unbestimmten Traurigkeit geplagt werden bis hin zu tiefer Verzweiflung. In ihrer Biografie finden sich keine Anhaltspunkte für die Wurzeln dieser hartnäckigen und offenbar tief sitzenden Störgefühle, die manchmal bis hin zur Lebensmüdigkeit reichen. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es ganz in der Tiefe um die Sinn-Frage geht. Das meint nicht die Frage nach dem „Warum“. Die ist schnell beantwortet, wenn sich ein junger Mensch eine Existenz aufbauen muss, um im Außen ein einigermaßen gelingendes Leben zu führen. Tiefer gehend ist die Frage nach dem „Wozu“. Wozu mache ich das alles? Wohin führt es mich? Gibt es ein übergeordnetes großes Ganzes, auf das ich zulaufe und an dem ich zugleich gestaltend mitwirke? Bis hin zu der Frage: Kann es sein, dass dieses übergeordnete „Wozu“ nicht einmal durch meinen physischen Tod ad absurdum geführt wird? Ich glaube, das sind die Fragen, die das Leben an uns stellen möchte, wenn wir sie denn zulassen, statt sie auszublenden, indem wir uns mit allem möglichen Firlefanz beschäftigen, uns bis ins hohe Alter mit Arbeit zuschütten oder uns von früh bis spät in digitalen Parallelwelten verlieren.

Die Aufgabe von Religion bestünde darin, Menschen dabei zu begleiten, ihre eigenen Antworten auf existenzielle Fragen zu finden. Religion, die vorgefertigte Antworten gibt, ist fundamentalistisch und erkennt nicht die Größe und Genialität jedes einzelnen Geschöpfs an. Das ist einer der zentralen Widersprüche, in den Kirche sich verstrickt hat: Wir alle sind von Gott geliebte Wesen, ein jedes nach seiner oder ihrer Fasson, aber Kirche meint genau zu wissen, wie wir zu sein und was wir zu tun haben. Für alle gelten die gleichen oft lebensfeindlichen Vorschriften und Regeln. Kirche gibt Standardantworten, statt die richtigen Fragen zu stellen. Dabei hat Jesus uns das anders vorgelebt. Sogar den Blinden fragt er: „Was soll ich dir tun?“ Die Frage wirkt fast lächerlich angesichts des Leids des nicht sehenden Menschen. Aber Jesus ist eben nicht übergriffig, indem er meint zu wissen, was der Mann doch offen-sichtlich braucht. Vielmehr appelliert er mit der Frage an dessen eigene innere Wirklichkeit, an seine Sehnsüchte und Wünsche, und damit an seinen Lebenswillen und das Vertrauen, dass dieser große Wunsch „wirk-lich“ werden und sich erfüllen kann: „Ich möchte wieder sehen können!“ (Mk 10,51).

Leider gelingt es nur wenigen Menschen, Religion, Glaube und christliche Spiritualität losgelöst vom kirchlichen Machtapparat zu sehen. Die meisten, zumal christlich Sozialisierten, werfen alles in einen Topf und versehen es mit dem Etikett: „Ungenießbar. Haltbarkeitsdatum abgelaufen“. Das ist nicht verwunderlich, denn was sollen wir machen, wenn das alte Transportgefäß für einen guten Inhalt nicht mehr taugt, aber weit und breit kein neues in Sicht ist? Wie komme ich denn zu diesem lebensspendenden Saft, wenn es kein brauchbares Gefäß mehr dafür gibt? Daher rührt doch die angestrengte Suche vieler: in anderen Religionen (– erweisen sie sich als tragfähiger? –), vermeintlich moderneren Meditationstechniken mit hippen englischen Bezeichnungen (– alter Wein in neuen Schläuchen? –) und bei selbsternannten Speaker-Gurus, die mit ihren Lebensweisheiten via Youtube die Bildschirme und Kopfhörer fluten (– ein Schelm, wer dabei an die Verkaufszahlen ihrer den Buchmarkt überschwemmenden Lebensratgeber denkt? –).

Warum kommt mir dieser Inhalt plötzlich so bekannt vor? Richtig: Das ist das Ende meines 2018 erschienenen Buches, nur in etwas anderen Worten. Das Manuskript von „Feuer der Sehnsucht. Spiritualität einfach leben“3 schrieb ich im Jahr 2016. Damals hatte ich noch mehr Hoffnung auf eine echte und tief greifende Wandlung von Kirche. Papst Franziskus war erst seit kurzer Zeit im Amt und ich wollte noch glauben, er ginge mit seiner Reformbewegung vorsichtig zu Werke, um sein Pontifikat nicht zu gefährden oder gar sein Leben aufs Spiel zu setzen. (Nein, das ist nicht übertrieben. Kriminalität und Vatikan sind leider keine Gegensätze.) Noch vor Erscheinen des Buches zwei Jahre später relativierte ich meine Hoffnung, inzwischen habe ich sie begraben, Auferweckung unwahrscheinlich. Zumindest von oben her wird Kirche sich nicht so fundamental erneuern, dass sie wieder glaub-würdig wird. Damit aber der gute Inhalt wieder weitergegeben werden kann, brauchen wir dringend neue, attraktive Transportgefäße für lebendigen Glauben und eine alltagsrelevante, lebensbejahende Spiritualität.

Die nachfolgend dargelegten Thesen mögen als Diskussionsgrundlage dafür dienen und hoffentlich einen Beitrag zu einem freudvollen Neuanfang leisten. Die „Fridays For Future“-Bewegung bringt in ihren Demonstrationen und Protestmärschen die Dringlichkeit ihrer (und übrigens unser aller!) Anliegen laut und unbequem zum Ausdruck. Einer der im Wechselgesang skandierten Slogans der Klimaaktivist*innen lautet: „What do you want?“ – „Climate justice!“, „When do you want it?“ – „Now!“. Mit voller Überzeugung unterstütze ich die Forderung dieser großartigen jungen Menschen nach dem sofortigen Umsetzen ernst zu nehmender Maßnahmen für eine klimagerechte Welt. Darüber hinaus übertrage ich ihren Schlachtruf auf meine Vision von einem lebendigen, zukunftstauglichen Christentum: „What do you want?“ – „A new religion!“, „When do you want it?“ – „Now!“.

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