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Оглавление1. Einleitung – Die Lebensreform als Gegenstand der Kunstgeschichte?
Die sogenannte Lebensreform2 fand als Modell alternativer Lebensentwürfe mit ökologischer und freiheitlicher Prägung in jüngster Vergangenheit vermehrt Aufmerksamkeit in der öffentlichen Wahrnehmung und in den Medien.3 Einige ihrer Fragestellungen hinsichtlich Medizin, Ökologie, Gesundheit, Wohnformen und Ernährung scheinen wieder höchst aktuell zu sein. Das vermeintlich einfache und gesunde Leben gilt hier als Sehnsuchtspunkt einer Zeit, die als rasant, ungesund und überfordernd empfunden wird, was gleichfalls einer der zivilisationskritisch motivierten Auslöser der Lebensreformen um 1900 war. Verspottet als „Kohlrabi-Apostel“4 erschienen die Lebensreformer in wollenen Tuniken in den Großstädten, sie verkündeten ihre Ideen von Vegetarismus, Nacktkultur und einer Rückkehr zur Natur. All dies scheint vorrangig nichts mit Kunst zu tun zu haben, und in den Medien wird häufig reflexhaft das Bild Lichtgebet des Lebensreformers und Künstlers Fidus als Paradebeispiel einer ikonischen Formel der Lebensreform zitiert. Auch in der aktuellen Forschung scheint die Berechtigung der Lebensreform als kunsthistorisches Sujet ein noch umstrittenes Problemfeld zu sein. Allein die Fülle an Forschungsliteratur aus unterschiedlichsten Fachdisziplinen, von denen jedoch der kleinste Teil tatsächlich aus der kunsthistorischen Forschung stammt, spiegelt diese Problematik deutlich wider.
Einigermaßen erstaunlich wirkt daher die These Peter Sloterdijks, der die Lebensreform als originär kunsthistorisches Phänomen lokalisiert. Man müsse sich „vor dem Fehlschluß hüten, das Thema ‚Lebensreform‘, das seit den Romantikern und den Frühsozialisten in der Luft lag, allerdings erst nach 1900 auf den Gipfel seiner Ausstrahlung gelangte, für eine sektiererische Schrulle zu halten“, warnt er in seiner 2014 veröffentlichten Schrift Du mußt dein Leben ändern. Denn vielmehr, so begründet er, sei die Lebensreform das „Renaissanceprogramm selbst, aus der bürgerlichen Kunstgeschichte in die Arena um die Kämpfe um den wahren modus vivendi der Modernen versetzt.“5 Es stellt sich bei dieser Aussage eine Reihe von Fragen, unter anderem, was unter einer „bürgerlichen Kunstgeschichte“ eigentlich zu verstehen sei. Besonders fraglich erscheint aber, in welche Kontexte zur Lebensreform diese sich stellen mag. Sloterdijk liefert kaum Begründungen und Erklärungen für seine These und lässt sie gleichsam im Raum stehen als verstünde sie sich von selbst. Er stellt die Lebensreform in ein äußerst breites ideengeschichtliches Spektrum und legitimiert sie aufgrund ihrer Herkunft zugleich als Gegenstand der kunsthistorischen Forschung.
Auch diese Arbeit basiert auf der Annahme, dass die Lebensreform ein historisches Phänomen ist, das unmittelbar zentrale kunsthistorische Fragen berührt und zumindest partiell daraus entstand. Denn betrachtet man im Sinne Sloterdijks die Lebensreform als eine der vielen Ausprägungen eines eigentlich breiteren Reformwillens, der sich tatsächlich bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts andeutete, so lassen sich zahlreiche Anknüpfungspunkte zur Kunstgeschichte finden. Ohne allzu viel vorwegnehmen zu wollen, lassen sich in vielerlei Hinsicht romantische Wurzeln, beziehungsweise Nachklänge der Romantik in der Lebensreform wiederfinden. Auch im Arts and Craft Movement, im Jugendstil oder in den Kunstschulreformen zeichnet sich ein ästhetischer Wille ab, der, wie im Folgenden noch detailliert ausgeführt wird, in die Lebensreform mit einfloss. Zur Lebensreform zeitlich parallel verlaufende, kunsthistorische Entwicklungen, wie etwa die Gründung des Deutschen Werkbundes oder des Bauhauses zeugen von einem Impetus, das Leben an sich und den Alltag zu reformieren. Kleidung, Wohnen, Alltagsgegenstände sollten von überbordendem Beiwerk befreit werden und einer geschmackvollen Eleganz Platz machen. Mit dem Entwurf von licht-und luftdurchfluteten Wohnräumen reagierten namhafte Architekten auf die Wohnmisere, die in vielen Großstädten herrschte, und die unter anderem einer der Hauptkritikpunkte der Lebensreformer war. Viele Protagonisten diverser Reformbewegungen, ob Künstler, Kunstkritiker, Mäzene, Architekten oder Schriftsteller, standen in engem Austausch zueinander und haben sich in ihrem Bestreben, einer breiten Gesellschaftsschicht zu einem schöneren, einfacheren und gesünderen Leben zu verhelfen, gegenseitig inspiriert.
Sieht sich die Lebensreform in der Forschung immer wieder dem Verdacht ausgesetzt, sie habe sich lediglich der Kunst bedient und mit deren Hilfe eigene Interessen nobilitiert6, so soll dieser Annahme hier deutlich widersprochen werden. Die Lebensreform wird in dieser Arbeit nicht als Phänomen betrachtet, das sich auf einige sektiererische Vegetarier im härenen Gewand kapriziert, sondern vielmehr als unbedingt der Kunst zugehörig. Ziel dieser Arbeit ist es, diese Rolle der Lebensreform für essenzielle Entwicklungen in der Kunst offenzulegen. Dem Desiderat an kunsthistorischer Forschung soll damit begegnet werden, jedoch ohne stilistische oder monografische Ausrichtung, sondern vielmehr in einem breit angelegten Spektrum, das der ideengeschichtlichen Fülle und ikonografischen Vielfalt gerecht wird. Zunächst gilt es jedoch noch einmal einen Schritt zurückzugehen und genau zu definieren, was das Spezifische der Lebensreform ist, und worin sie sich von anderen Reformbewegungen unterscheidet.
1.1 Eingrenzung des Forschungsfeldes und Fragestellungen
Eine der grundsätzlichen Schwierigkeiten der Forschung liegt darin, die Lebensreform zu definieren, ihre inhaltlichen, ideengeschichtlichen und historischen Konturen sowie ihre Auswirkungen klar einzugrenzen. Tatsächlich gab es keine einheitliche Bewegung, die Anzahl der Vereine, Bünde und Gruppierungen, die in Selbst- oder Fremdzuschreibung als lebensreformerisch bezeichnet wurden, waren so mannigfach wie ihre spezifischen Zielsetzungen. Verschiedene Methoden und Praktiken wurden jeweils als die einzig richtige oder besonders zu bevorzugende angepriesen. Darüber hinaus ergaben sich jedoch vielfältige personelle wie ideelle Schnittmengen. Den unterschiedlich gewichteten Definitionen der Forschung lassen sich daher einige verbindliche Parameter entnehmen, die als communis opinio der Forschung gelten.
Primär intendierte die Lebensreform, die Gesellschaft über das Leben jedes Einzelnen in all ihren Facetten zu reformieren. Erst ab etwa 1895 wurde sie erstmals unter diesem vereinheitlichendem Begriff genannt7 und 1907 veröffentlichte Hermann Dames seinen Aufruf zur Begründung eines Bundes allseitiger Lebensreform des gesamten Deutschtums8, ein Entwurf der allerdings nie realisiert wurde. Der Ursprung der Lebensreform liegt in der Naturheilkunde und der Bewegung der Vegetarier um Eduard Baltzer in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.9 Aus deren Ideen und vor dem Hintergrund von zeittypischen Phänomenen, die als unnatürlich und schädigend empfunden wurden, entstand schließlich die Lebensreform. Den zunehmenden Belastungen durch Lärm, Hektik und Luftverschmutzung in den anwachsenden Großstädten, der Industrialisierung und Technisierung, Verwissenschaftlichung und Versachlichung, stellten die sogenannten Lebensreformer Programme, Visionen und Utopien entgegen, die die Menschen wieder zu einer „naturgemäßen Lebensführung“10 zurückführen sollten.
Zur Kritik an äußeren, sozialen Umständen traten ein starkes Gefühl von subjektiv empfundener, innerer Entfremdung und der scheinbare Verlust moralischer und kultureller Werte. Die bislang sichere Orientierung, verankert in Normen und Werten der wilhelminischen Gesellschaft oder geboten durch Institutionen wie der Kirche, verlor zunehmend an Bedeutung und wurde kritisch hinterfragt. Das Bedürfnis nach neuen, sinnstiftenden Werten, Glaubensinhalten und Lebensentwürfen brach sich Bahn. Die Lebensreform bot sich dabei als gnostische11 und mit missionarischem Impetus auftretende Bewegung an.
Wolfgang R. Krabbe legte eine der ersten Definitionen von Lebensreform vor, die in der aktuellen Forschung noch als maßgeblich gilt. Er zählt folgende Bestrebungen als der Lebensreform zugehörig auf: Antialkoholismus, Bodenreform, Gymnastik und Sport, Impfgegnertum, Kleidungsreform, Körperpflege, Nacktkultur, Naturheilkunde, Siedlungsbewegung, Vegetarismus, Vivisektionsgegnerschaft und Wohnungsreform.12 Er unterscheidet die „spezifisch-lebensreformerische Bewegung“ von einem „peripheren Typus“, zu dem es hinsichtlich der Zielsetzungen und Lebenspraktiken diverse Überschneidungen gab. Erstere habe jedoch den Charakter einer „säkularisierten Sekte“ von „quasi-religiöse[r] Mentalitätsstruktur“ gehabt.13 Janos Frécot, Johann Friedrich Geist und Diethart Kerbs zählen außerdem noch die Gruppierungen der Jugendbewegung, Frauenbewegung, Monistenbund, Theosophen sowie Anthroposophen hinzu.14 Gemeinhin gilt, dass in eklektizistischer und synkretistischer Weise unterschiedliche geistige Strömungen und Auffassungen unter dem Begriff Lebensreform vereint wurden.15 Deren Protagonisten entstammten hauptsächlich einer gebildeten, bürgerlichen Gesellschaftsschicht.16
Die vorliegende Arbeit folgt im Wesentlichen der Definition nach Krabbe, sie geht aber insofern darüber hinaus, dass als eines der prägnanten Charakteristika die Fokussierung auf den Körper – als einer der wichtigsten Topoi der Reformen – erachtet wird. Auch der Kunsthistoriker Klaus Wolbert hebt unter all den reformerischen Impulsen die „Rehabilitierung des Leiblichen“ als den „spektakulärste[n] unter den Erneuerungsansätzen der Lebensreform“ hervor, der sich „auf die Konzeption des modernen, mündigen Menschen am nachhaltigsten“ ausgewirkt habe.17 Nachweislich widmete sich ein Großteil der Reformer körperspezifischen Themen, sowohl in pragmatischer als auch weltanschaulich geprägter Weise, wie etwa in Vegetarismus, Diätetik und Abstinenzbestrebungen.
Auffällig ist aber darüber hinaus der starke kulturell-künstlerische Impetus. Es wurde das Bild des sogenannten Neuen Menschen gezeichnet, dem vollendet reformierten Menschen als pars pro toto der gesamten Gesellschaft. Die visuelle Inszenierung war hierbei der wichtigste Impulsgeber, Vermittler und Modulator. In einschlägigen zeitgenössischen Buchtiteln, wie beispielsweise Körperkultur als Kunst und Pflicht18 oder Zeitschriftentiteln wie Kraft und Schönheit oder schlicht Die Schönheit, zeichnet sich der starke ästhetische Impetus der lebensreformerischen Körperbildung ab. In einem reziproken Verhältnis von Körperkultur und Körperkunst prägten sich neuartige Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten in plastischer, mimetischer und bildnerischer Weise heraus und konstituierten ein neues Verständnis vom Körper selbst. Das inszenierte künstlerische Bild – oder vielmehr die Bilder – des Körpers im Kontext der Lebensreformbewegungen, erweisen sich als ebenso vielschichtig und facettenreich wie ihre Botschafter. Stilistisch, ikonografisch sowie formal zeigt sich eine große Varianz, die von Ölgemälden über Skulpturen, Lichtbildern, Grafiken, Zeichnungen und Fotografien bis hin zu Bildpostkarten reicht. Elaborierte Körper- und Kunstkonzepte überhöhten den Körper gleichsam als Gegenstand ästhetischer Vervollkommnung, bezeichneten ihn als Kunstwerk oder verliehen ihm gar einen sakralen Nimbus.
All dies spielte sich vor dem Hintergrund eines stark metaphorischen und verklärten Naturbegriffs ab, der den Nukleus der Reformen bildete. Die Rückkehr zur Natur oder vielmehr Harmonie und Vereinigung des Individuums mit ihr, garantierten aus Sicht der Lebensreformer das Gelingen der Reformen. Unter diesen Vorzeichen entwickelten sich reizvolle Spannungsverhältnisse und Ambivalenzen, die dem Selbstverständnis der Lebensreformer als moderne und emanzipatorische Bewegung oftmals scheinbar zuwiderlaufen.
In dieser Untersuchung wird es insbesondere um den geschlechtsspezifisch ausgerichteten Blick auf den männlichen Körper gehen. Dieser markiert einen Kristallisationspunkt, an dem sich stereotype und emanzipative Ansätze in frappanter Weise überkreuzen. Widmet sich diese Arbeit dem Bild des Mannes im Spiegel der Reformen, reagiert sie in zweierlei Hinsicht auf Debatten und Desiderata der Forschung. Angesicht einer etablierten Genderforschung erstaunt es einigermaßen, dass die ersten Ausstellungen, die sich explizit dem männlichen Akt widmeten, erst in den Jahren 2012/13 und 2014 stattfanden.19 Aspekte der Lebensreform wurden hier zwar angedeutet, jedoch nicht hinreichend vertieft, was sich gerade bei einer körperzentrierten Bewegung wie der Lebensreform als besonders fruchtbar erwiesen hätte. Daher zeigt es sich als überfällig, vor dem Hintergrund dieses historischen Phänomens wesentliche Aspekte des männlichen Bildes in der Kunst zu analysieren.
Es soll im Folgenden den Fragen nachgegangen werden, welche Ideen, Ideale und Normen die Ikonografie des unter lebensreformerischem Einfluss entstandenen maskulinen Körperbildes formten. Die offensichtliche Ambivalenz zwischen Stereotypisierung und Modernisierung soll auf ihre kunstgeschichtlichen und kulturellen Hintergründe und Auswirkungen hin analysiert werden. Dabei soll insbesondere überprüft werden, inwiefern sich eine Zuspitzung des männlichen Bildes hin zu einem vitalistisch aufgeladenen, militanten Typus als Folge des Ersten Weltkrieges verifizieren lässt.20 Tatsächlich spricht einiges dafür, dass sich bereits um 1900 Muster der Funktionalisierung und Stereotypisierung in den Kunst- und Körperkonzepten abzeichnen.21 Erste Darstellungen des sogenannten arischen Idealkörpers speisten sich aus den frühen körperkulturellen Diskursen der Lebensreform. Teilweise parallel oder sogar gleichzeitig entwickelten sich emanzipierte Körperentwürfe neben solchen, die aufgrund ihrer speziellen Ästhetik höchst anfällig für politische Instrumentalisierungen waren.
Körperbilder oder vielmehr -konzepte entwickeln sich stets bezogen auf die jeweiligen gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Hintergründe. Die Grenzen und Möglichkeiten der Darstellung, aber auch die Funktionen und Rezeptionen der jeweiligen Kunstwerke werden wesentlich dadurch bestimmt. Inszenierende sowie selbstinszenierende Motive prägen in auffälliger Weise die Ikonografie des männlichen Bildes im reformerischen Umfeld. Daher sollen hier die Funktionen, die den reformerischen Bildern im Speziellen, der Kunst im Allgemeinen und dem Künstler als spezifischem Typus zugeschrieben wurden, insbesondere vor dem Hintergrund der Rezeptionsmodi analysiert werden.
Ein weiterer zu behandelnder Aspekt wird die Aufladung des männlichen Körpers mit sakralen und sinnstiftenden Motiven sein, bei der die Ästhetik des Körpers gleichfalls zum Gegenstand ideeller und ideologischer Auseinandersetzung geriet. Die substanzielle Aufladung der Physis scheint die Ikonografie des männlichen Körpers in hohem Maße zu betreffen. In zum Teil höchst irrational und abstrus wirkenden Glaubenssätzen wurden verschiedene religiöse22, weltanschauliche oder ideologische Ideologeme synthetisiert. Sie stellen eine spezielle Herausforderung für die wissenschaftliche Analyse dar. Doch es ist davon auszugehen, dass gerade in den irrationalen Motiven das größte Entwicklungspotenzial lag: einerseits in Richtung auf avantgardistische Kunst- und Körperkonzepte und Ikonografien hin, andererseits in Richtung auf ein ideologisch instrumentalisierbares Konzept von Kunst, Körpern und Körperkunst. Daher soll hier besonders den Fragen nach Einflüssen und Auswirkungen der ideengeschichtlichen Hintergründe auf die Entwicklung der Körperbilder und deren Ikonografie nachgegangen werden. Den historischen und geographischen Rahmen dafür bilden sowohl das kaiserzeitliche Deutschland, in dem sich erste Ansätze einer neuen Körperkultur herausbildeten, als auch die Weimarer Republik, in der sich diese schließlich etablieren konnten.23 Obgleich das Panorama, das hier betrachtet wird, sehr weitgefasst erscheint, rechtfertigen die vielfältigen ideellen und künstlerischen Schnittstellen sowie die Netzwerke der beteiligten Protagonisten diesen breiten Blick. Alle angesprochenen Aspekte und Fragestellungen ergänzen und überschneiden sich wechselseitig.
Der Fokus dieser Arbeit liegt sehr stark auf den Lebensreformen, die sich aus einer bürgerlichen Mitte heraus etablierten. Ausgeklammert bleiben daher kommunistisch oder sozialistisch geprägte Lebensformströmungen, die mit Namen wie Adolf Koch, Hans Paasche oder Magnus Hirschfeld in Verbindung zu bringen wären.24 Mit Magnus Hirschfeld wird eine Persönlichkeit benannt, die sich nicht nur als Sexualreformer hervorgetan hat, sondern auch als Mitbegründer der Homosexuellen-Bewegung gilt.25 Homosexualität, wie überhaupt das Verhältnis der Geschlechter zueinander, bildet eine der Problemstellungen, die sich in der Lebensreform durch größte Ambivalenz auszeichnet. Aspekte dieser – für eine emanzipatorische Bewegung erstaunlichen Haltung – werden in dieser Arbeit aufgegriffen. Es wird jedoch darauf verzichtet auf das Thema Homosexualität dezidiert einzugehen, da hierfür der Fokus deutlich stärker auf eine sexualhistorische Richtung gelenkt werden müsste, als es dieser kunsthistorisch grundierten Untersuchung angemessen ist.
1.2 Forschungsstand und -kritik
Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der ehemaligen Künstlerkolonie Mathildenhöhe eröffneten die Stadt Darmstadt und das dortige Institut Mathildenhöhe Darmstadt im Jahr 2001 eine umfangreiche Ausstellung mit dem Titel Die Lebensreform – Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. In mehreren thematischen Modulen, von denen eines dem Thema „Körper“ gewidmet war,26 präsentierte diese Schau eine außerordentliche Vielfalt an Kunstobjekten und Alltagsgegenständen, die teilweise in der Dauerausstellung verblieben sind. Zwei umfangreiche Katalogbände, die auf über tausend Seiten einen reichen Fundus an Texten sowie Abbildungen bieten, begleiteten diese Ausstellung.27 Der bereits im Titel vorgetragene Ansatz, die Lebensreform unmittelbar mit Kunst zu assoziieren, ihr sogar das Potenzial zuzuschreiben, zu einer „Neugestaltung von Kunst“ beigetragen zu haben, blieb für lange Zeit in der Lebensreformforschung einmalig. Abgesehen von einigen monografischen Arbeiten zu einzelnen Künstlern, die sich unmittelbar als Protagonisten der Lebensreform betätigten, zeigt sich die kunsthistorische und bildwissenschaftliche Forschung bis dato eher verhalten.28 Hervorzuheben ist jedoch die Dissertation von Doris Hansmann, in der am Beispiel von Paula Modersohn-Beckers Selbstakten die Wechselwirkungen von lebensreformerischer Nacktkultur und Entwicklungen der Kunst intensiv erörtert werden.29
Dem Mangel an kunsthistorischen Forschungen steht eine außerordentliche Fülle an sozial-, religions- und sportwissenschaftlichen Publikationen gegenüber. Ferner werden in einigen Studien Aspekte der lebensreformerischen Körper- und Freikörperkultur partiell unter ikonografischem und kunsttheoretischem Blickwinkel betrachtet, doch ohne der Lebensreform einen so ursächlich kunstprägenden oder durch Kunst geprägten Charakter zuzugestehen, wie dies Doris Hansmann und die Darmstädter Kuratoren unternahmen.30 Herausragend ist weiterhin eine Publikation von Corona Hepp, die bereits 1986 die Lebensreform in einen breiteren kulturellen Rahmen stellte und mit (künstlerischen) Avantgardebewegungen kontextualisierte.31 Doch erst in jüngster Zeit scheint sich dieser panoramaartige Blick, der die Wechselwirkungen von Kunst, Kultur und Lebensreform analysiert, allmählich zu etablieren.
Christiane Barz, Literaturwissenschaftlerin und Kuratorin der Ausstellung Einfach. Natürlich. Leben. Lebensreform in Brandenburg 1890–1939, die im Jahr 2015 in Potsdam stattfand, beschreibt die Lebensreform als ein genuin zur Entwicklung der Moderne zugehöriges Phänomen, das „neben der Weltanschauung und Lebenspraxis auch die Ästhetik der Zeit“ geprägt habe, und deutliche Spuren in der bildenden Kunst hinterließ.32 Die Kunsthalle Schirn in Frankfurt am Main intendierte im gleichen Jahr mit der Ausstellung Künstler und Propheten. Eine geheime Geschichte der Moderne. 1872–1972 Einflüsse und Auswirkungen der Lebensreform auf moderne und postmoderne Kunst aufzuzeigen.33 Eine Sonderschau zur Jugendbewegung, die das Germanische Nationalmuseum Nürnberg 2013/14 präsentierte, führte die Verknüpfungen von Jugendbewegung und Lebensreform anhand zahlreicher Grafiken, Gemälde und Alltagsobjekten vor Augen.34
Von großem Interesse an der Lebensreform als kulturellem Phänomen zeugen weiterhin einige literaturwissenschaftliche Arbeiten, die die Schriftquellen der Lebensreform vor dem Aspekt ihrer ästhetischen Kontexte analysieren.35 Es scheint überfällig, den von den Darmstädter Kuratoren vor etwa zwei Jahrzehnten angestoßenen Ansatz, die Lebensreform in breitere ästhetische und kulturelle Zusammenhänge einzubetten, weiterzuverfolgen.
Kritisiert wird diese Sichtweise in einer der jüngsten Publikationen zur Lebensreform.36 Bernd Wedemeyer-Kolwe vertritt die These, dass der Lebensreform eine kulturelle Bedeutung übergestülpt wurde, die dieser nicht gerecht würde und als Resultat eine „definitorische Beliebigkeit“ ausgelöst habe.37 Besonders nachdrücklich kritisiert Wedemeyer-Kolwe den thematisch und disziplinär breit angelegten Darmstädter Katalog, implizit den Beitrag Klaus Wolberts sowie sich daran anschließende Forschungsarbeiten, folgendermaßen:
„Wenn Wolbert eine angeblich zentrale Bedeutung der Lebensreform für moderne Kunstströmungen wie Symbolismus, Jugendstil, Expressionismus und Abstraktion konstatierte – alles rücke ‚näher zusammen als dies von der Kunstgeschichte üblicherweise gewollt ist‘ – und 15 Jahre später in einem Katalog zum Thema Brücke und die Lebensreform dann verkündet wird, dass ‚die moderne Kunst in Deutschland grösstenteils im Kontext der Lebensreform entsteht‘ – eine Behauptung, die in ihrer Unbedingtheit zu belegen wäre –, so zeigt sich hier ein fataler Rezeptionsstrang, der aus Unkenntnis entsprechender Quellen und Fachliteratur an historischer Beliebigkeit und sachlicher Ungenauigkeit nicht zu überbieten ist.“38
Wedemeyer-Kolwe verfolgt mit seiner Publikation das Ziel, die Lebensreform wieder auf ein Lebensmodell gesellschaftlicher Außenseiter einzugrenzen, wie er dies den früheren Forschungen, vor allem nach Krabbe, entnimmt. Bildwelten, die in und um lebensreformerische Gruppierungen herum entstanden, seien demnach nur ein Ausfluss beziehungsweise Substitut der Selbstinszenierung. So schreibt er beispielsweise über die Aktfotografien der FKK-Publikationen der Weimarer Zeit, dass diese „im Wesentlichen der Ideologie und Selbstdarstellung geschuldet“39 seien.
Wedemeyer-Kolwes Kritik ist jedoch entgegenzuhalten, dass die Thematik der „Ideologie“ und „Selbstdarstellung“ ganz wesentlich dem kunsthistorischen und bildwissenschaftlichen Forschungsinteresse angehört. Auch lässt sich aus dem tatsächlich nicht immer expliziten Kunstschaffen-Wollen der jeweiligen Protagonisten dennoch nicht schließen, dass Einflüsse aus der Kunst und in die Kunst hinein nicht vorhanden sein können. Darüber hinaus sind Wechselwirkungen zwischen dem, was Wedemeyer-Kolwe als originäre Lebensreform bezeichnet wissen möchte, und tangierenden Bewegungen, die sich mit deren Ideen auseinandersetzen, anhand der textlichen wie bildlichen Quellen durchaus zu belegen. Die Kritik an der zu breiten Definition der Lebensreform mag also weniger das Ergebnis einer sachlichen Ungenauigkeit, als vielmehr die reflektierte Überzeugung ihrer ideengeschichtlichen Wirkungskraft sein. Dass die Lebensreform tatsächlich essenziell auf die Entwicklung moderner Kunstströmungen einwirkte, wie von Wolbert angedeutet, kann und soll insbesondere anhand der Visualisierungen und Inszenierungen von Körperbildern in dieser Arbeit aufgezeigt werden.
Einen ersten Ansatz, die zugrundeliegenden Körperkonzepte der Nacktkultur zu analysieren – allerdings ohne diese explizit in den Bezugsrahmen der Lebensreform einzubinden – legte Maren Möhring mit ihrer Dissertation zu den sogenannten Marmorleibern vor.40 Mithilfe einer diskursanalytischen Methodik, ausgehend von Michel Foucault, Jürgen Link und Judith Butler, unterzieht sie die Körperkonzepte der Nacktkultur einer Analyse, bei der auch geschlechtsspezifische Differenzierungen innerhalb der Praxis und Ästhetik thematisiert werden. Möhring konzentriert sich hierzu auf eines der Körpermodelle, den sogenannten Marmorleib, den sie als „normalisierendes“ und „normierendes“ Konzept beschreibt.41 Der Einsatz von Bildquellen blieb dabei sehr zurückhaltend, was jedoch der gewählten Methodik angemessen ist.
Die Konzeptionen moderner Männlichkeiten wurden ausführlich in der Publikation des Historikers George L. Mosse sowie im Sammelband Männlichkeiten und Moderne, herausgegeben von Ulrike Brunotte und Rainer Herrn, dargestellt.42 Teilweise wurden in diesem Kontext auch Aspekte der reformerischen Körperkultur behandelt.
Eine der beachtlichsten Ausstellungen der Weimarer Republik, die den Körper in ein Diskursfeld von Reformen, Naturwissenschaften, Hygiene und Sport stellte, war die sogenannte GeSoLei43, die im Jahr 1926 in Düsseldorf stattfand. Dieser Ausstellung widmete sich im Jahr 2002 ihrerseits eine Ausstellung, die aus einer Kooperation des Stadtmuseums Düsseldorf mit dem Seminar für Kunstgeschichte der Heinrich-Heine-Universität entstand. Einen wesentlichen Aspekt bildete die Verflechtung von Kunst und Sport beziehungsweise Kunst und Leibesübung.44 Dieses Forschungsprojekt befasste sich in bislang einmaliger Weise mit Aspekten der Körperkultur und Körperkunst der Weimarer Republik.
Im Hinblick auf die Winckelmann-Rezeption untersuchte Esther Sophia Sünderhauf in ihrer Dissertation die Rolle antiker Vorbilder für die Lebensreform. Insbesondere das Modell einer „Überwindung“ antiker Vorbilder, das sie dabei im Verweis auf Wolbert erstellt, bleibt zu hinterfragen, scheint es doch vielmehr so, dass vor allem die Antike bis in die späten 1920er-Jahre hinein eines der einflussreichsten Referenzmodelle war.45
Der Darstellung des Männeraktes vor dem Hintergrund der lebensreformerischen Körperkultur widmete sich ein Segment der bereits erwähnten Ausstellungen in Wien und Paris.46 In diesen wurde der Fokus auf Freilichtakte gerichtet, die zwar eines der wichtigsten Sujets lebensreformerischer Ikonografie repräsentieren, aus deren Vielfalt jedoch nur einen Ausschnitt darstellen.
1.3 Aufbau und Methodik
Die Rückkehr zu einer „naturgemäßen Lebensweise“ war das oberste Ziel aller lebensreformerischen Bestrebungen. Die Gesamtheit der lebensreformerischen Ideen und Ideale spannt sich demnach maßgeblich vor dem zentralen Schlüsselbegriff der Natur auf. Daher ist es zunächst notwendig, den speziellen Naturbegriff im Kontext der Lebensreform zu analysieren. Als zivilisationskritische Bewegung wollte man die Harmonisierung mit der Natur wesentlich über eine Kulturneuschöpfung erreichen. Inwiefern sich der Leitbegriff Natur von dem der negativ besetzten Zivilisation abgrenzt und wie sich die Kultur daraus definiert, soll zunächst anhand einiger Vorüberlegungen dargestellt werden. Daran schließt sich der Hauptteil der Arbeit an, der sich in drei thematische Abschnitte unterteilt.
Die Begriffe „Schönheit“, „Kraft“ und „Jugend“ bezeichnen drei zentrale Eigenschaften, die den Idealtypus des Lebensreformers auszeichnen sollten und anhand derer diese Arbeit inhaltlich gegliedert sein wird. Dabei kommen jeweils verschiedene Facetten der spezifischen Ästhetik der Bilder des Mannes zur Betrachtung. Eine Besonderheit der Lebensreformbewegung war es, dass der Mensch in der modernen Körpergeschichte erstmals unter dem Aspekt der Ganzheitlichkeit betrachtet wurde. Körperliche, seelische und geistige Qualitäten wurden als sich wechselseitig ergänzend betrachtet. Im Rückschluss bedeutete dies, dass Erscheinung, Wesen und Handlungen eines Menschen voneinander abhängig seien. Daraus resultierten Vorstellungen einer Ästhetik, die als Ausdruck einer ausgewogenen Balance dieser drei Qualitäten des Menschen verstanden wurden. Die innerliche und äußerliche Verfasstheit eines Menschen spiegelten sich demnach gegenseitig wider.
Unter dem Aspekt der „Schönheit“ geht es verstärkt um Aktmotive, Körperideale und die daraus resultierende Entwicklung besonderer und neuer Bildsujets. Der Aspekt der „Kraft“ nimmt Bezug auf die substanzielle Aufladung des Körpers. Beleuchtet werden hierbei insbesondere ideengeschichtliche Hintergründe und Vorbilder. Motive der Inszenierung und Selbstinszenierung als besonders charismatisch erachteter Künstler und sogenannter „Propheten“ gehören in den Themenkreis der spezifischen Stärkemetaphern. Mit dem Begriff der „Jugend“ wird schließlich auf die reformspezifische Sehnsucht nach ewiger Jugend und nach einer völlig neuen, frischen Kunst und Kultur eingegangen. Die Jugendbewegung als eine der großen, die Lebensreform tangierenden Erneuerungsbewegungen soll hier hinsichtlich ihrer spezifischen Ästhetik betrachtet werden. Abschließend wird die Sehnsucht nach dem (irdischen) Paradies – dem zentralen Topos reformerischer Utopien –, in dem alle drei behandelten Eigenschaften sich vollkommen vereinen könnten, behandelt.
Die Auswahl der Künstler und Bilder orientiert sich vorwiegend an zeitgenössischen Rezeptionen und Publikationen. Die sogenannten Schönheit-Propheten,47 Künstler, die in lebensreformerischen Publikationen als besonders vorbildlich vorgestellt wurden, werden bevorzugt behandelt. Weiterhin wird der Bereich der Fotografie, implizit der Laienfotografie, die eines der wichtigsten Medien vor allem der Freikörperkultur darstellte, einen breiten Raum einnehmen. Betrachtet werden soll im Folgenden also eine Bildwelt, die sich aus spezifisch historischen und sozialen Kontexten heraus entwickelte. Hierzu bietet sich das Instrumentarium der Ikonografie und Ikonologie als methodisch sinnvoll an.
Die Inszenierungen und Visualisierungen des männlichen Körpers erschienen jedoch nicht nur im Bereich der musealen Kunst, sondern vielfach auch im Alltag in Form von Werbegrafiken, Lichtbildern, Kinofilmen oder Postkarten sowie in Gestalt sich selbst inszenierender Leitgestalten. Die Grenzen von künstlerischem versus nicht-künstlerischem Bild wurden innerhalb lebensreformerischer Publikationen immer wieder neu ausgelotet und verhandelt. Die deskriptive Erfassung dessen, was der männliche Körper oder der Mann an sich sein und darstellen sollte, welche Gestalt und welchen Ausdruck er zeigen und wovon er sich abzugrenzen hatte, leistete eine umfangreiche Zeitschriften- und Ratgeber-Publikation.
Die Einschreibungen und Subtexte, die Verflechtung von Wort und Bild und die ideologischen Aufladungen verweisen auf eine stets unterschwellig wirkende Mythisierung. Dies erfordert die Ergänzung durch ein bildwissenschaftliches Instrumentarium, das diesen Aspekten Rechnung trägt. Insbesondere der Mythos-Begriff nach Roland Barthes’ Definition kommt hierbei zur Anwendung.48 Barthes beschreibt den Mythos als „reines ideographisches System, in dem noch die Formen durch den Begriff motiviert sind, den sie repräsentieren, ohne jedoch auch nur annähernd die Totalität der möglichen Repräsentationen abzudecken.“49 Der Mythos nach Barthes kann sich „jeden möglichen Gegenstand – Mensch, Körper, Geste, Profession, Ding, Gerät, Material, Lebensmittel – zu eigen machen und sprachlich oder bildlich bearbeiten.“50 Insofern ist er eine visualisierte Aussage, die an jeweilige historische und soziale Rahmenbedingungen gebunden ist. Er fungiert als Interpretationsmuster, das ein kollektives Einvernehmen voraussetzt. So verweist beispielsweise der für die Lebensreform zentrale Begriff des „Neuen Menschen“ auf einen Mythos. Der „Neue Mensch“ verkörpert ein Ideal, ein Wunschbild, dem aus spezifischen historischen und sozialen Kontexten heraus mythisierte Eigenschaften eingeschrieben und künstlerisch inszeniert wurden.
2 Warum dieser vereinheitlichende Begriff differenziert zu betrachten ist, wird nachfolgend und vor allem in Kap. 1.1 dieser Arbeit, dargelegt.
3 So gab beispielsweise Die Zeit in ihrer historischen Reihe ein eigens der Lebensreform gewidmetes Heft heraus, vgl. Benedikt Erenz, Volker Ullrich (Hrsg.): Zeit Geschichte. Epochen, Menschen, Ideen. (Anders leben. Wilder denken, freier lieben, grüner wohnen. Jugendbewegung und Lebensreform um 1900), 2 (2013).
4 So lautete einer der Spottnamen mit dem die Lebensreformer in der Boulevardpresse oder Satireblättern belegt wurden, vgl. Jost Hermand: Der Schein des schönen Lebens. Studien zur Jahrhundertwende. Frankfurt am Main 1972, S. 58f.
5 Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Frankfurt am Main 22014, S. 54 (Hervorhebung im Original). Christiane Barz verweist in ihrer Einführung zum jüngsten Ausstellungskatalog zum Thema Lebensreform in verkürzter und unkommentierter Form auf Sloterdijks Titel, vgl. Christiane Barz (Hrsg.): Einfach. Natürlich. Leben. Lebensreform in Brandenburg 1890–1939 (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte Potsdam, Juli bis November 2015). Berlin 2015, S. 14–21, hier S. 14.
6 Dies betrifft insbesondere die reichhaltige Bildwelt der Nackt- bzw. Freikörperkultur, bei der die These einer Instrumentalisierung oder kaschierenden Funktion der Kunst besonders häufig vertreten wird, vgl. beispielsweise Janos Frécot: Die Schönheit. Mit Bildern geschmückte Zeitschrift für Kunst und Leben, in: Kai Buchholz, Rita Latocha, Hilke Peckmann, Klaus Wolbert (Hrsg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900 (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung von Oktober 2001 bis Februar 2002 in zwei Bänden). Darmstadt 2001, Bd. 1, S. 297–301.
7 Vgl. Wolfgang R. Krabbe: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode. Göttingen 1974, S. 12.
8 Hermann Dames: Aufruf zur Begründung eines Bundes allseitiger Lebensreform des gesamten Deutschtums, in: Hellas. Illustrierte Schriftenfolge für Natur und Kultur, Kunst und Schönheit, Wissenschaft und Sozialleben, 1 (1907), S. 15f.
9 Vgl. Christoph Conti: Abschied vom Bürgertum. Alternative Bewegungen in Deutschland von 1890 bis heute. Reinbek bei Hamburg 1984, S. 66–70.
10 Vgl. Eva Barlösius: Naturgemäße Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende. Frankfurt am Main 1997.
11 Der Begriff „gnostisch“ wird in dieser Arbeit in Bezug auf den Gnostizismus verwendet, der alle esoterischen und religiös motivierten Strömungen die nach Erkenntnis des Göttlichen und der Welt streben, umfasst.
12 Vgl. Krabbe 1974, S. 13, sowie: Diethart Kerbs, Jürgen Reulecke (Hrsg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen: 1880–1933. Wuppertal 1998, insbesondere S. 73–154.
13 Vgl. Krabbe 1974, S. 171. Der Begriff der „Sekte“ ist hier jedoch nicht als Beschreibung von sich gesellschaftlich abgrenzenden Gruppierungen zu verstehen. Vielmehr sollte die Reform über jedes einzelne Individuum auf die gesamte Gesellschaft übergehen.
14 Sie verfassten die Biografie des Künstlers Fidus, der sich früh zu lebensreformerischen Praktiken bekannte und sich stark in deren Kreisen publizistisch und künstlerisch betätigte, vgl. Janos Frécot, Johann Friedrich Geist, Diethart Kerbs: Fidus 1868–1948. Zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen. München 1972, S. 19ff.
15 Vgl. dazu einen der aktuellsten Forschungsbeiträge von Marc Cluet, der beabsichtigt, mithilfe des Schalenmodells von Abraham A. Moles die Diversität der Lebensreform zu strukturieren: Marc Cluet: Vorwort, in: Marc Cluet, Catherine Repussard (Hrsg.): „Lebensreform“. Die soziale Dynamik der politischen Ohnmacht. Tübingen 2013, S. 11–48, hier S. 39–48.
16 Vgl. Barlösius 1997, S. 227, sowie Krabbe 1974, S. 171.
17 Klaus Wolbert: Gedankensplitter zur Ausstellung „Die Lebensreform“ – Idee, Konzept, Realisierung, Botschaft. Ausstellung im Gebäude Mathildenhöhe 21. Oktober 2001 bis 10. März 2002, in: Kai Buchholz, Kai Wolbert (Hrsg.): Centenarium. Einhundert Jahre Künstlerkolonie Darmstadt 1999–2001. Darmstadt 2003, S. 125–140, hier S. 138.
18 Fritz H. Winther: Körperbildung als Kunst und Pflicht. München 51923.
19 Die Ausstellung Nackte Männer. Von 1800 bis heute fand vom 19. September 2012 bis 28. Januar 2013 im Leopold Museum Wien statt. Fast zeitgleich, vom 26. Oktober 2012 bis 17. Februar 2013 präsentierte das Lentos Kunstmuseum Linz eine Ausstellung unter dem Titel Der nackte Mann. Die Wiener Ausstellung wurde vom 24. September 2013 bis 2. Januar 2014 unter dem Titel Masculin/masculin. L’homme nu dans l’art de 1800 à nos jours im Musée d’Orsay, Paris, fortgesetzt.
20 Vgl. Maren Möhring: Marmorleiber. Körperbildung in der deutschen Nacktkultur (1890–1930) (Kölner historische Abhandlungen, Bd. 42) [zugl. überarb. Fassung d. Diss. an der Ludwig-Maximilians-Universität München, 2001]. Köln, Weimar, Wien 2004, S. 256 und S. 345, sowie Bernd Wedemeyer-Kolwe: „Der neue Mensch“. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik [zugl. überarb. Fassung d. Habil.schr., Universität Göttingen, 2002]. Würzburg 2004. S. 114f.
21 Bei Klaus Wolbert werden diese als „instinkthaft angelegte männliche Rollen“, die dem „Männlichkeitsideal der Lebensreform“ entsprächen, skizziert, vgl. Wolbert(a): Die Verarbeitung reformerischer Körperkonzepte in der Kunst um 1900, in: Buchholz et al. 2001, Bd. 2, S. 341–368, hier S. 343.
22 Ähnlich dem Begriff der Kunst, entziehen sich die Begriffe des Religiösen bzw. der Religion einer eindeutigen, wissenschaftlichen Definition. Werden diese im Folgenden verwendet, beziehen sie sich auf aktuell verbindliche Definitionen kanonisierter Lexika und Handwörterbücher, wie etwa Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). Verzichtet wird daher auf Begriffe wie „pseudo-“, „proto-“ oder „quasi-religiös“. Vgl. Reinhard Schmidt-Rost: „Religion“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft (hrsg. v. Hans Dieter Betz, Don S. Browning, Bernd Janowski, Eberhard Jüngel; 8 Bd. u. Reg.bd.; ungek. Stud.ausg.). Tübingen 42008, Bd. 7, S. 263–304. Zum Begriff der Esoterik, vgl. Hartmut Zinser: „Esoterik“, in: RGG 2008, Bd. 4, S. 1580f.
23 Lebensreformbewegungen außerhalb des deutschsprachigen Raumes werden in der vorliegenden Arbeit nicht berücksichtigt. Die Schwierigkeit, die Lebensreform inhaltlich und zeitlich einzugrenzen, verdeutlicht weiterhin die Diskussion auf dem vorbereitenden Symposion zur Darmstädter Lebensreformausstellung, vgl. dazu: Was ist Lebensreform. Diskussion eines Ausstellungsthemas, in: Buchholz, Wolbert 2003, S. 118–123.
24 Auch dies bildet ein Desiderat der Forschung, dem jedoch zunächst eine eigenständige Forschungsarbeit zu widmen wäre.
25 Zu Magnus Hirschfeld, vgl. Andreas Seeck (Hrsg.): Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit?: Textsammlung zur kritischen Rezeption des Schaffens von Magnus Hirschfeld (Geschlecht – Sexualität – Gesellschaft, Bd. 4). Münster 2003.
26 Die Titel der weiteren Module lauteten: „Natur“, „Seele“, „Geist“, „Nietzsche“, „Lebenspraxis“ und „Leben“.
27 Vgl. Buchholz et al. 2001. Aufgrund des Umfangs und der breit angelegten Thematik der Katalogbände kann dieser als Kompendium angesehen werden, das einen guten Überblick gewährt, wobei die einzelnen Themen in unterschiedlicher Weise vertieft wurden.
28 Von den Publikationen zum Künstler Karl Wilhelm Diefenbach sowie seinem Schüler Fidus seien hier exemplarisch die ersten Veröffentlichungen genannt: Frécot et al. 1972. Sie legten die erste Monografie zum Künstler und Lebensreformer Fidus vor, jedoch bedauerlicherweise ohne bibliografischen Anhang; weiterhin Hermand 1972. Die Menge an weiteren Forschungsbeiträgen zu einzelnen Künstlern ist zu umfangreich um eine vollständige Aufzählung zu ermöglichen, eine Kontextualisierung mit der Lebensreformbewegung unterbleibt allerdings in fast allen Studien oder wird nur marginal vorgenommen.
29 Vgl. Doris Hansmann: Akt und nackt. Der ästhetische Aufbruch um 1900 mit Blick auf die Selbstakte von Paula Modersohn-Becker [zugl. Diss. an der Universität Köln, 1994]. Weimar 2000.
30 Eine vollständige Aufzählung dieser Publikationen ist zwar weder sinnvoll noch möglich, doch soll an dieser Stelle auf zwei fotografiegeschichtliche Sammelbände hingewiesen werden, die einen vertieften Einblick bieten: Michael Andritzky, Thomas Rautenberg (Hrsg.): „Wir sind nackt und nennen uns Du“: von Lichtfreunden und Sonnenkämpfern; eine Geschichte der Freikörperkultur. Giessen 1984 sowie Michael Köhler, Gisela Barche (Hrsg.): Das Aktfoto. Ansichten vom Körper im fotografischen Zeitalter. Ästhetik, Geschichte, Ideologie (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Stadtmuseum München, Jan. bis April 1985) München 1985. Stellenweise entspricht die Aktualität der einzelnen Beiträge jedoch nicht mehr neuerem Forschungsstand.
31 Corona Hepp: Avantgarde. Moderne Kunst, Kulturkritik und Reformbewegungen nach der Jahrhundertwende (aus der Reihe: Deutsche Geschichte der neuesten Zeit vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart; hrsg. von Martin Broszat, Wolfgang Benz und Hermann Graml in Verbindung mit dem Institut für Zeitgeschichte, München). München 1987.
32 Vgl. Barz 2015, S. 16.
33 Die streng chronologische Anordnung der Ausstellungsobjekte erwies sich dabei zwar als sinnvoll, um dem Besucher zunächst einen einfachen Zugang zum Phänomen Lebensreform zu verschaffen, im Hinblick auf die Intention der Ausstellung wäre eine synoptische Gegenüberstellung jedoch an mancher Stelle hilfreicher gewesen. Sehr erhellend wirkt dagegen der Katalog zur Ausstellung: Pamela Kort, Max Hollein (Hrsg): Künstler und Propheten. Eine geheime Geschichte der Moderne 1872–1972 (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Schirn Kunsthalle Frankfurt, März bis Juni 2015; National Gallery Prag, Juni bis Okt. 2015). Köln 2015.
34 G. Ulrich Großmann, Claudia Selheim, Barbara Stambolis (Hrsg.): Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Sept. 2013 bis Jan. 2014). Nürnberg 2013.
35 Hervorzuheben sei hier folgende Aufsatzsammlung, die einen guten Überblick über die Schriftquellen und Literaturgeschichte bietet: Thorsten Carstensen, Marcel Schmid (Hrsg.): Die Literatur der Lebensreform. Kulturkritik und Aufbruchstimmung um 1900. Bielefeld 2016.
36 Vgl. Bernd Wedemeyer-Kolwe: Aufbruch. Die Lebensreform in Deutschland. Darmstadt 2017.
37 Vgl. ebd., S. 17–20.
38 Ebd., S. 18f. Wedemeyer-Kolwe bezieht sich auf folgende Beiträge: Klaus Wolbert: Die Lebensreform. Anträge zur Debatte, in: Buchholz et al. 2001, Bd. 1, S. 13–21, hier S. 13 sowie Kai Schupke, in: Kai Schupke, Daniel J. Schreiber (Hrsg.): Brücke und die Lebensreform (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Buchheim Museum der Phantasie Bernried, Juli bis Okt. 2016). Feldafing 2016, S. 22.
39 Wedemeyer-Kolwe 2017, S. 108.
40 Vgl. Möhring 2004.
41 Vgl. ebd., insbesondere S. 11–51 zur Definition der diskursanalytischen Begriffe.
42 Vgl. George L. Mosse: Das Bild des Mannes: zur Konstruktion der modernen Männlichkeit (aus dem Amerikan. v. Tatjana Kruse), Frankfurt am Main 1997 und Ulrike Brunotte, Rainer Herrn (Hrsg.): Männlichkeiten und Moderne (Gender Codes, hrsg. von Christina von Braun, Volker Hess, Inge Stephan, Bd. 3). Bielefeld 2008, hier insbesondere: Birgit Dahlke: Proletarische und bürgerliche Jünglinge in der Moderne. Jugendkult als Emanzipationsstrategie und Krisenreaktion um 1900, S. 111–130.
43 Die Abkürzungen stehen für: „Gesundheit“, „soziale Fürsorge“ und „Leibesübungen“.
44 Vgl. Hans Körner, Angela Stercken (Hrsg.): Kunst, Sport und Körper. GeSoLei. 1926–2004 (Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung des Stadtmuseums Düsseldorf in Kooperation mit dem Kunsthistorischen Seminar der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf im Jahr 2002). Bd. 1, Düsseldorf 2002.
45 Vgl. Esther Sophia Sünderhauf: Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840–1940 [zugl. überarb. Diss. mit dem Titel: Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Griechenideal in Wissenschaft, Kunst und ‚Leben‘ 1840–1940, Humboldt-Universität Berlin, 2002]. Berlin 2004, hier insbesondere: S. 183–190 sowie Wolbert(b): ‚Unbekleidet‘ oder ‚ausgezogen‘, in: Buchholz et al. 2001, Bd. 2, S. 369–386 und Wolbert(c): Das Erscheinen des reformerischen Körpertypus, in: Buchholz et al. 2001, Bd. 1, S. 215–222.
46 Vgl. hierzu Anm. 19 dieser Arbeit sowie Ulrich Pohlmann: Entre Studio et Jardin d’Eden, in: Masculin/Masculin. L’homme nu dans l’art de 1800 à nos jours (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Musée d’Orsay Paris, Sept. 2013 bis Jan. 2014; hrsg. vom Musée d’Orsay Paris). Paris 2013, S. 173–181, sowie Xavier Rey: Im [sic] Natur, ebd., S. 182–205.
47 Das fehlende Fugen-s entspricht der originären, zeitgenössischen Schreibweise.
48 Es wird die folgende Ausgabe verwendet: Roland Barthes: Mythen des Alltags (Vollständige Ausgabe; aus d. Franz. v. Horst Brühmann). Berlin 2010. Zur Diskussion der Aktualität und Anwendbarkeit von Barthes’ Mythosbegriff für die gegenwärtige Analyse kulturwissenschaftlicher Phänomene vgl. Mona Körte, Anne-Kathrin Reulecke (Hrsg.): Mythen des Alltags – Mythologies. Roland Barthes’ Klassiker der Kulturwissenschaften (Literaturforschung, Bd. 22). Berlin 2014.
49 Barthes 2010, S. 275.
50 Mona Körte, Anne-Kathrin Reulecke: Einleitung: Intellektuelle Korrespondenzen. Roland Barthes’ Mythen des Alltags – Mythologies, in: Körte, Reulecke 2014, S. 7–24, hier S. 9.