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Оглавление2. Vorüberlegungen zum lebensreformerischen Begriff der Natur
Das wichtigste Leitprinzip der Lebensreformen war es, sich wieder in Einklang mit der Natur zu bringen. Die Fragen, was dies bedeutet und wie die Natur auf den Menschen und sein quasi natürlichstes Element, den Körper, bezogen wird, wie der überaus weit interpretierbare Begriff der Natur verstanden und eingegrenzt wurde, ist vorab in Grundzügen zu klären. Ohne allzu viel vorweg zu nehmen, sollen hier nun grundlegende Parameter vorgestellt werden, anhand derer der Naturbegriff der Lebensreformer als strukturelle Konstante sichtbar und damit für die Analyse nutzbar gemacht wird.
2.1 Natur als vitalistischer Topos
Zunächst fand die Auseinandersetzung mit der Natur auf einer somatischen und pragmatischen Ebene statt. Sich in Einklang mit der Natur zu bringen bedeutete, sich körperlich, geistig und seelisch mit den Elementen auseinanderzusetzen und sich deren Wirkungskräfte als heilende Instanzen zunutze zu machen. In diesem Ansatz erkennt man die Vorläufer der Lebensreform, die Naturheilkunde und insbesondere die Hydrotherapie, die Eingang in breitere Gesellschaftsschichten gefunden hatten. Um der weit verbreiteten, sogenannten Neurasthenie zu begegnen, empfahl sich die Badekur, bei der mithilfe körperlicher Stimulation eine allgemeine Stärkung und die Heilung von der physischen, psychischen und geistigen Erschöpfung erwartet wurde.51
Die Natur und ihre Elemente galten den Lebensreformern gleichsam als Sitz des Lebens, das seine vitale Kraft im menschlichen Körper entfalte. Diese Aspekte der Lebensreform beispielsweise über vegetabile Ernährung, Wassertherapie sowie Licht- und Luftbäder anzuwenden, hieß, aus der als Quelle des Lebens verstandenen Natur zu schöpfen.52 Auf ihren heilsamen und stärkenden Aspekt wird insbesondere in Publikationen der Nacktkultur in Form von Texten und Bildern angespielt. Einer der frühesten und populärsten Vertreter der Nacktkultur war der Künstler Fidus53, der mit seinen diversen Ausgestaltungen von Sonnenanbetern eine der zentralen Bildformeln kreierte.54 Hier sei exemplarisch auf eine seiner Grafiken, den Sonnenjüngling von 1905, verwiesen, deren bildliche Aussagekraft mit dem auffordernden Titel Bade in Licht, Luft und Sonne plakativ zugespitzt wurde (Abb. 1). Die für die Nacktkultur werbende Botschaft erfuhr eine künstlerische Transformation in der Figur des Sonnenjünglings, der nicht nur im Œuvre Fidus’ eine zentrale Stellung einnahm, sondern auch als vorbildhaft für die sich im Umfeld der Nacktkultur etablierende Aktfotografie gelten kann. Die aus dem gleichen Entstehungsjahr (1905) stammende Aktfotografie (Abb. 2) bildet in nahezu identischer Pose das Motiv des Menschen ab, der seinen nackten Leib in freier Natur an Licht und Luft stärkt. Die Pose des angewinkelten Armes unterstreicht das Moment des kraftvollen und vitalen Auftritts des Bildprotagonisten. Fotografien wie diese finden sich in stilistischer Varianz in großer Vielzahl in Publikationen der verschiedenen Lebensreformorgane und visualisieren unter ästhetischen Prämissen die zentralen Anliegen der Reformen. Ebenso bereicherte dieses Bildsujet die klassischen Gattungen und Formate der bildenden Künste.
Abb. 1: Fidus: Bade in Licht, Luft und Sonne. Sonnenjüngling auf Titelblatt der Zeitschrift Kraft und Schönheit (1905)
Abb. 2: Aktfotografie in der Stellung des Sonnenjünglings von Fidus, 1905, Fotograf unbekannt
In der Lebensreform wurde also, wie bereits angedeutet, ein Bild vom Menschen entworfen, das diesen als ganzheitliches und in die Natur eingebettetes Wesen betrachtet. Folgerichtig konnte er nur dann in Harmonie mit der Natur als äußerer Instanz, aber auch mit seiner individuellen, innerlichen Natur stehen, wenn Körper, Geist und Seele gleichermaßen berücksichtigt wurden. Der Mensch sollte nicht einem einzelnen Segment, dem Körper, dem Geist oder der Seele Vorrang einräumen, sondern ein harmonisches Gleichgewicht aller Aspekte fördern.
Ein publizistischer Klassiker dieses Ansatzes ist das umfangreiche Handbuch Die Natur als Arzt und Helfer des Mediziners und Lebensreformers Friedrich Wolf.55 In einer für Laien gut verständlichen Sprache legte er damit ein Kompendium an medizinischem Grundlagenwissen und naturheilkundlichen Methoden vor. Neben der „Erziehung zur Gesundheit“, in der alltagspraktische Aspekte wie Wohnen, Kleidung, Familienleben und Arbeitswelt besprochen werden, bietet er eine Fülle an heilenden und kräftigenden Methoden durch die Nutzung von Licht, Luft, Erde und Heilkräutern dar. Mit Fotografien, auf denen er selbst als Künstlermodell56 oder bei diversen körperlichen Ertüchtigungen zu sehen ist, belegt er sowohl die gesundheitliche als auch die ästhetische Wirksamkeit der „naturgemäßen“ Lebensweise. Wolf ließ sich gegen Ende der 1920er-Jahre ein Haus in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung erbauen, das aufgrund der Architektur seine Vorstellungen einer ganzheitlichen Lebensweise ermöglichte. Auf dem eigens dafür geschaffenen Balkon konnte er zu jeder Jahreszeit nacktgymnastische Übungen an frischer Luft ausführen, bei denen er sich ablichten ließ (Abb. 3).57
Abb. 3: Friedrich Wolf bei der Gymnastik, 1930, Fotograf unbekannt
Der Aspekt der Ganzheitlichkeit lässt sich ebenfalls besonders deutlich in der Tanz- und Rhythmikbewegung erkennen, die in der gelungenen Bewegung den Ausdruck einer vollkommenen Harmonie der geistigen, seelischen und körperlichen Ausdruckskräfte sieht.58 Sowohl Leiblichkeit als auch Geist und Psyche wurden dabei als essenziell zur menschlichen Natur zugehörig erachtet und sollten idealerweise in gleichem Maße gepflegt werden. Besonderes Augenmerk richtete man darauf Einseitigkeiten zu vermeiden. So sollte sich der reformierte Mensch weder einer ungezügelter Sinnlichkeit noch einem reinen Intellektualismus hingeben. Diese beiden Extreme, die vermeintlich die bürgerlich-wilhelminische Gesellschaft prägten, stellten die Hauptkritikpunkte der Lebensreformer dar. Die Ausgewogenheit von Körper, Geist und Seele sollte sich beispielsweise in der Aktfotografie oder beim Tanz in Form einer harmonisch geformten, schönen Gestalt und einer entsprechenden Ausdrucksqualität zeigen.
In der sogenannten Zivilisation sah man hingegen eine Gefährdung für das ganzheitliche Wesen des Menschen, da diese entweder einen Intellektualismus ohne Bezug zu Leib und Seele fördere oder aber eine Körperlichkeit begünstigte, die ohne Mäßigung durch Geist und Seele ins Triebhafte entarte. Speziellen Wissensbereichen, wie den Naturwissenschaften oder der Medizin sowie den Institutionen der Bildung, respektive der akademischen Ausbildung der Künstler, sah man besonders skeptisch entgegen. Man warf ihnen eine rein materialistische und seelenlose Haltung vor, die den Menschen moralisch, geistig und körperlich schädige. Als besonderen Beleg der sittlichen Verrohung, die einem fehlgeleiteten oder vielmehr fehlenden Bezug zum Körper als natürlichem Element zugeschrieben wurde, erachtete man insbesondere die gesellschaftlichen Zerstreuungen und Vergnügungen. Genussmittel wie Alkohol und Nikotin, aber auch Pornografie und Erotik wurden als omnipräsente Zeichen einer „degenerierten“ Zivilisation angeprangert. Ferner bildeten die moralisch begründete Verfemung des nackten Leibes, die Zugeknöpftheit der Mode, das Korsett der Frau und die generell körperfeindliche Gesellschaftsmoral wesentliche Kritikpunkte der Lebensreformer. Es sei dies eine Lebensweise, die den natürlichen Menschen deformiere und ihm in seinem ganzen Wesen schade.
Im Verweis auf den Bezugsrahmen Natur legte die lebensreformerische Bildpublikation nach eigenem Verständnis Zeugnis vom ganzheitlichen Menschen ab, der sich in der Interaktion mit der Natur als gleichsam naturhaft erweise. Befreit von Hüllen, jedoch ohne erotisierenden Impetus, sollte sich der Mensch der wesenhaften Natürlichkeit des nackten Leibes wieder bewusst werden. Aus dem ganzheitlichen Ansatz der Lebensreform folgte die Forderung, dass die Pflege und Übung des Körpers gleichrangig neben der Pflege der inneren Kräfte stehen sollte. Mit den Mitteln der Reform sollte jeder Mensch seine innere Natur, sein Wesen vervollkommnen und zum Ausdruck bringen. Diese innere Natur stand demnach nicht nur in Abhängigkeit von individueller Ausprägung, sondern zeigte sich auch in einem biologistischen Sinne als geschlechtsspezifisch geprägt. So ging man davon aus, dass das biologische Geschlecht seine jeweilige innere männliche beziehungsweise weibliche Natur ausforme. Eine naturgemäße Lebensweise konnte demzufolge nur vollumfassend gelingen, wenn die geschlechtsspezifische Natur in ihren Eigenarten berücksichtigt und gepflegt wurde. Insbesondere den vermeintlich offensichtlich wahrnehmbaren Extremen der Effemination beziehungsweise der Verrohung des Mannes sei dabei entschlossen entgegenzuwirken.
Der spezifische Naturbegriff der Lebensreformer entwickelte sich also vor dem Hintergrund einer Zivilisationskritik, die sich dezidiert auf die als krankmachend empfundenen Faktoren und Lebensweisen der zeitgenössischen Gesellschaft richtete. Die daraus resultierenden Reformen sollten den individuellen Menschen als ganzheitliches Wesen und seine gesamte Lebensführung erfassen und darüber hinaus die Gesellschaft neu prägen. Da man die negativ konnotierte Zivilisation als Gegenpol und sogar Widersacher der Natur deklarierte, sich selbst hingegen als kulturelle Bewegung definierte, die durchaus einen ästhetisch-künstlerischen Anspruch vertreten konnte, bedurfte es einer neuerlichen Ausdifferenzierung der beiden Faktoren Natur und Kultur.
2.2 Natur als Schöpferkraft und Basis der Kultur
Die Begriffe der Natur und der Kultur sind, wie Maren Möhring für den Nacktkulturdiskurs ausführt, „komplex miteinander verschränkt“59. Diese Verschränkung bildet ein identitätsstiftendes Strukturmerkmal aller Lebensreformströmungen, die sich körperkulturellen Themen widmeten. Die Definition des Körpers – vornehmlich des nackten Körpers – als eigentlich natürlich und dessen Rückkehr zur Natur konnten nicht nur, sondern mussten vielmehr auf kulturellem Wege vonstattengehen.60 Die Kultur wurde als Ausdruck geistiger, seelischer und körperlicher Kräfte definiert und als unmittelbar zum natürlichen Wesen des Menschen gehörend. So heißt es in einem zeitgenössischen Artikel zur Körperkultur: „Und doch umfasst ja das Wesen der Kultur alle Lebensäußerungen des Menschen – auch die körperlichen.“61
Die Pflege des Körpers war nach reformerischem Verständnis ein kultureller Akt, dem die bildliche, künstlerische Verarbeitung unmittelbar angehörte. Die Darstellungen des Sonnenjünglings (Abb. 1 und 2) legen davon Zeugnis ab, indem sie den Menschen als eine Synthese von natürlichem und kulturellem Wesen erscheinen lassen. Wollte sich der Mensch, im reformerischen Duktus gesprochen, zum „Vollmenschen“62 entwickeln, musste er Kultur und Natur miteinander versöhnen und harmonisieren. Der sogenannten Zivilisation warf man vor, diese Wechselbezüge durchbrochen zu haben. Eine Beschreibung zum Figurenprogramm des Künstlers Fidus verdeutlicht, dass man den Ausdruck größtmöglicher Natürlichkeit auch dort verwirklicht sehen konnte, wo es sich um eine höchst artifizielle und stilisierte Gestaltung handelt, wenn es heißt:
„Die Gestalten, wie sie Fidus zeichnet, sind Menschen, wie wir welche werden wollen: von der Sonne gebräunt, von der Luft gestählt, vom Wandern und Arbeiten sehnig, von Idealen hellblickend! Er stellt sie nackt vor uns hin, wie er sie mit seinem inneren Auge sieht. Und dabei haben wir nie das Gefühl von Zweideutigkeiten. Fidus belebt und beseelt alles mit seiner unbedingt reinen Künstlerauffassung. Bis in die gespannten Muskeln seiner Menschenbilder hinein glauben wir die Regungen der Seele vernehmen zu können. Auch der Leib ist ihm heilig, der Seele gleichwertig. Er räumt endlich mit dem schauderhaften Märchen auf, daß der Menschenleib immer ein mehr oder weniger unwürdiges und schmutziges Gefäß für die göttliche Seele sei. Seine Gestalten leben in innigstem Verhältnis mit der Natur.“63
Fidus wird als Künstler vorgestellt, dem es gelungen sei, dem reformerischen Naturgedanken in seinen Körperdarstellungen in herausragender Weise Ausdruck verliehen zu haben. Dazu bedurfte es keines Naturalismus oder Realismus, sondern vielmehr sollte die Art der Darstellung das reformerische Natürlichkeitsideal widerspiegeln.
Der neue Ansatz der Lebensreform verfolgte nicht nur das Ziel, die traditionellen Dichotomien von Körper und Geist zu durchbrechen, sondern begründete mit Verweis auf den Naturbegriff zugleich ein neues Verständnis von Kultur. Man fügte Kultur und Natur zu einem Begriffspaar, das als zueinander gehörig bezeichnet wurde. Damit wich man vom bislang üblichen Schema des Dualismus von Natur und Kultur ab. Nun ergänzten sich die Konzepte von Natur und Kultur und wurden als voneinander abhängige Entitäten verstanden. Die Zivilisation, die bislang als eher positiv gedeuteter Teil der Kultur betrachtet wurde, wurde zum Antagonisten der neu definierten Pole Natur und Kultur. Neben diese neue Definition tritt also eine Neugewichtung hinzu, nach der Natur auf Kultur einwirken könne und vice versa. Die Natur erfährt in diesem Kontext eine deutliche Aufwertung, die Andrea Seier folgendermaßen beschreibt:
„Produktiv wird an dieser Stelle die Konzeption eines spezifischen Natur-Kultur-Verhältnisses, das […] beide Elemente nicht als Gegensatz, sondern Kultur vielmehr als Vollendung dessen konzipiert, was die Natur vorgesehen hat und in ihr bereits enthalten ist.“64
Diesem Naturverständnis, das die Natur als eine Kraft versteht, die in allem Sein wirkt, liegt eine durchweg positive, teleologische Interpretation zugrunde. Die Natur wurde entelechisch als Entität gedeutet, die das Vollkommene, Gute und Authentische in sich berge. Man schrieb ihr ebenso einen eigenen Gestaltungs- und Ausdruckswillen zu, der nach Vollkommenheit strebe. Sie wurde als schöpferische Urkraft verstanden, die aus sich heraus vollkommene Harmonie erzeuge. Stünde man im Widerspruch zum Gesetz der Natur und bringe sich nicht in Einklang mit ihr, resultierten daraus Krankheiten, Makel und Deformationen.
Die Aussage von Cornelia Klose-Lewerentz: „Der ‚natürliche Körper‘ der meisten Menschen gilt als Abweichung von der aufgestellten Norm und muss ‚repariert‘ werden“65 ist daher insofern etwas missverständlich, als sie nicht dem reformerischen Verständnis vom „natürlichen Körper“ folgt. Es galt nicht den „natürlichen Körper“ zu reparieren, sondern den als natürlich erachteten Körper von seinen zivilisatorischen Schlacken zu befreien und zum vollkommenen Urzustand zurückzuführen. Der „vollkommene Körper“ wurde zur Norm erhoben, weil man ihn als eigentlich natürlich erachtete. Da der Körper der meisten Menschen dieses Ideal freilich nicht erfüllte, wie man allenthalben wahrnehmen konnte, bot sich die lebensreformerische Körperkultur geradezu als Vademekum an. Sie verhalf dem Übenden, das Vollkommene, das die Natur bereits in ihm angelegt habe, aus sich herauszuarbeiten. Gleich einem Künstler sollte man seinen Körper innerlich wie äußerlich modellieren, um ihn wieder zu seiner wesenhaften Natur zurückzuführen. So forderte beispielsweise der Mediziner Dr. Heberlin:
„Wem Kunst der Ausdruck der Natur ist, wer diesen Ausdruck pflegt, um das rein und gesund zu erhalten oder zu erlangen, was er ausdrückt – der muß neben unserm Höchsten, der Geisteskultur, auch die Edelhaltung des Körpers, der die Seele trägt, als eine Aufgabe seiner Kultur erkennen.“66
Für die biologistisch determinierte männliche Natur bedeutet dies, dass sie durch kulturelle Faktoren entweder beeinträchtigt oder zur Vollendung gebracht werden konnte.
Zusammenfassend ist also festzuhalten, dass der Naturbegriff zunächst der sogenannten Zivilisation antithetisch gegenübergestellt wurde. Traditionelle Dichotomien, die Natur und Kultur als bipolar betrachteten, wurden zugunsten einer Emulgierung und wechselseitigen Abhängigkeit aufgelöst. Die Natur selbst wurde als basale und schöpferische Urkraft mythisiert, die gleichsam eine Voraussetzung der menschlichen Kulturschöpfung darstelle. Die Wiederherstellung einer natürlichen Körperlichkeit, insbesondere die Ausformung geschlechtsspezifischer Eigenschaften, nahm sich nun als kulturelles Anliegen aus.
Die Kunst, die in diesem Sinne als „Ausdruck der Natur“ definiert wurde, konnte gleichermaßen ausdrückend wie vorbildhaft für die neue Körperkultur wirken. So entwickelte sich aus diesem spezifischen Natur- und Kulturverständnis heraus ein ästhetischer Diskurs, der die Gestalt und das Bild des natürlichen Körpers visuell eingrenzen und aufzeichnen sollte. Unter dem Primat der Natürlichkeit kam der Entwicklung von körperlicher Schönheit eine besondere Bedeutung zu.
Nachfolgend soll zunächst eine Einbettung des Schönheitskultes der Lebensreformen in seine historischen und kulturellen Kontexte erfolgen, der sich sodann die Analyse der Entwicklung und Inszenierung des Konzeptes vom schönen Körper anschließt.
51 Bis hin zu Kaiser Wilhelm II. vertraute man der Heilkraft der Badekur, der sich bekanntermaßen auch etliche namhafte Künstler, wie beispielsweise Franz Kafka, anvertrauten. Zum Phänomen der Neurasthenie als kulturellem Epochenphänomen vgl. Joachim Radkau: Zeitalter der Nervosität: Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München 1998, sowie Ursula Muscheler: Möbel, Kunst und feine Nerven. Henry van de Velde und der Kultus der Schönheit 1895–1914. Berlin 2012, S. 154f. Muscheler beschreibt den Kuraufenthalt Henry van de Veldes im vornehmen Sanatorium Bellevue, das in Kreuzlingen am Bodensee unter der Leitung Ludwig Binswangers stand. Die Neurasthenie, als allgemeines Erschöpfungssyndrom, galt dort bis 1908 als häufigste Diagnose der Patienten, die sich vorwiegend aus höheren Gesellschaftsschichten, Finanzwelt, Diplomatie und Adel rekrutierten.
52 Sehr aufschlussreich hinsichtlich der medizinhistorischen Hintergründe, auf denen diese Empfehlungen basieren, ist eine Publikation über eine der seinerzeit renommiertesten Kurstätten in Deutschland, das Sanatorium Dr. Lahmann in Dresden (Weißer Hirsch), vgl. die Publikation: Dr. Lahmanns Sanatorium Bad Weißer Hirsch bei Dresden. Von der Blütezeit bis zur Legende – vom Verfall zu neuer Nutzung (hrsg. vom Verschönerungsverein Weißer Hirsch/Oberschlowitz e. V.). Dresden 2015. In dessen Patientenlisten lassen sich etliche Namen bekannter Persönlichkeiten aus Adel, Politik, Wirtschaft und Kultur finden, wie beispielweise Prinz Waldemar von Preußen, der Bruder Kaiser Wilhelms II., Thomas Mann, Rainer Maria Rilke, Theodor Fontane, Emil Nolde, Lotte Wertheim, Kurt Gerron sowie Mitglieder der russischen Zarenfamilie. Ab 1933 wurden diese Listen unrühmlich ergänzt durch die Namen Hermann Göring und Joseph Goebbels, nebst Familien, vgl. ebenda den Artikel von Marina Lienert: „Feuer, Wasser, Luft und Erde soll besiegen die Beschwerde!“ Patienten im Lahmann-Sanatorium, S. 109–120.
53 Der bürgerliche Name lautet Hugo Höppener. Den Namen „Fidus“, den er als Pseudonym verwendete, verlieh ihm sein Lehrer Karl Wilhelm Diefenbach.
54 Fidus’ Werk, insbesondere die Ikonografie der Lichtanbeter, wird nachfolgend diskutiert.
55 Vgl. Friedrich Wolf: Die Natur als Arzt und Helfer. Das neue naturärztliche Hausbuch. Stuttgart 1928. Wolf war überdies als Dramatiker sehr erfolgreich und er bekannte sich zum Kommunismus. Dass er trotz seiner politischen Ausrichtung dennoch Eingang in diese Arbeit findet, liegt vorwiegend darin begründet, dass seine politische Haltung auf anderen Feldern deutlich zum Ausdruck kommt und für die vorgestellten Beispiele nicht von Relevanz ist.
56 Wolf stand 1908 gemäß seiner Publikation als Tübinger Student Modell für August von Frorieps Lehrbuch Anatomie für Künstler. Er veröffentlichte hierzu eine Fotografie, die ihn in der Pose des klassischen Muskelmanns zeigt und angeblich in Frorieps Anatomiebuch einging. Tatsächlich gab es 1908 keine Auflage des Anatomiebuches. In der 1913 erschienenen vierten Ausgabe und in den nachfolgenden damit identischen, befinden sich weder ein Muskelmann noch andere Bilder, die Wolfs Angabe belegen. Die darin enthaltenen ganzseitigen Bildtafeln entstanden sämtlich vor Wolfs Geburt. Allerdings werden auf der Rückseite der vierten Auflage Lehrtafeln beworben, die explizit für den Aktsaal des Anatomieprofessors August von Froriep angefertigt wurden. Möglicherweise spielt Wolf auf diese an, vgl. Wolf 1928, S. 197 sowie August Froriep: Anatomie für Künstler. Kurzgefasstes Lehrbuch der Anatomie, Mechanik, Mimik und Proportionslehre des menschlichen Körpers (in der vierten und fünften Auflage). Leipzig 1913 und 1917.
57 Vgl. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung: Zuteilungsreif. Bausparergeschichten aus dem Südwesten (anlässlich der Ausstellung im Haus der Geschichte Baden-Württemberg, von Dez. 2005 bis Juli 2006; hrsg. vom Haus der Geschichte Baden-Württemberg). Stuttgart 2005, S. 14–17.
58 Auch dieser Aspekt wird nachfolgend eingehend behandelt, so dass an dieser Stelle ein kurzer Hinweis genügen soll.
59 Vgl. Möhring 2004, S. 25.
60 Die um 1900 virulente Debatte um die Kultur, die als Kulturkrise benannt den historischen Hintergrund bildet, hat Anteil an dieser Neukonstituierung der Termini. Hier sollen die spezifisch lebensreformerischen Antwortmodelle aus der wesentlich umfassenderen Thematik herausgehoben werden.
61 [Vorn. unbek.] Heberlin: Körper-Kultur, in: Der Kunstwart. Halbmonatsschau über Dichtung, Musik, Theater, bildende und angewandte Künste 17, 2 (1904), S. 409–414, hier S. 409, in: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/kunstwart17_2/0499 (zuletzt abgerufen am 27.09. 2018).
62 So beispielsweise zu lesen bei Hermann Dames: Aufruf zur Begründung eines Bundes allseitiger Lebensreform des gesamten Deutschtums, in: Hellas. Illustrierte Schriftenfolge für Natur und Kultur, Kunst und Schönheit, Wissenschaft und Sozialleben 1 (1907), S. 15f.
63 Fritz Winz: Fidus und die Gegenwartskunst, in: Junge Menschen. Blatt der deutschen Jugend. Stimme des neuen Jugendwillens, 2 (1921), S. 85f., hier S. 86, zitiert nach Conti 1984, S. 112.
64 Andrea Seier: „Überall Cultur und kein Ende“. Zur diskursiven Konstitution von ‚Kultur‘ um 1900, in: Hannelore Bublitz, Christine Hanke, Andrea Seier: Der Gesellschaftskörper. Zur Neuordnung von Kultur und Geschlecht um 1900. Frankfurt am Main 2000, S. 112–178, hier S. 145. Seier verweist auf die These Georg Simmels, der die Kultivierung als Vollendungsprozess beschrieb, vgl. dazu Georg Simmel: Vom Wesen der Kultur, in: Österreichische Rundschau, 15 (1908), S. 36–42, hier S. 38. Der Soziologe Norbert Elias definierte etwa dreißig Jahre später die Unterscheidung der Begriffe „Zivilisation“ und „Kultur“ als Phänomen, das sich sprachlich und inhaltlich nur im deutschen Kulturraum finden lässt. Auch er spricht von einem Vollendungsprozess, bei dem die Zivilisation jedoch die Vorstufe zur Kultur bildet, vgl. Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Wandlungen des Verhaltens in der weltlichen Oberschicht des Abendlandes, Bd. 1. (Norbert Elias. Gesammelte Schriften, hrsg. v. Heike Hammer, Johan Heilbron, Peter-Ulrich Merz-Benz, Annette Treibel, Nico Wilterding, Bd. 39). Amsterdam 1997, hier insbes.: S. 89–98 und S. 400f.
65 Cornelia Klose-Lewerentz: Der „ideale Körper“ und seine „Herstellung“ – Körperdiskurse der Lebensreformbewegung zwischen Utopie und Normativität, in: Cluet, Repussard 2013, S. 147–159, hier S. 154.
66 Heberlin 1904, S. 414.