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Wenn das nicht Flirten ist …

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»Hast du noch ein Taschentuch?«, frage ich schluchzend meine israelische Freundin Sharon. Ich sitze heulend an ihrem Küchentisch. Sharon holt eine neue Kleenex-Box, die alte ist leer. So leer, wie es in mir drin aussieht, denke ich. Die Tränen laufen weiter über mein Gesicht. Ich versinke in Selbstmitleid.

»Claudia, du brauchst einen Mann. Einen guten Mann«, ruft Sharon aus dem Flur. »Und ich habe genau den richtigen Mann für dich!«

»Von Männern habe ich jetzt erst mal die Nase gestrichen voll«, rufe ich mit jammeriger Stimme zurück. Dabei ziehe ich wütend ein weiteres Tuch aus der Box.

Heute morgen wurde ich von einer SMS meines englischen Lovers geweckt. Mit knappen Worten beendete er unsere scheinbar vielversprechende Romanze: Ich als Berlinerin sei einfach zu weit weg und seine hübsche Exfreundin viel zu nah.

Seit ein paar Jahren schon scheinen das männliche Geschlecht und ich kein Glück miteinander zu haben. Einen Trottel nach dem anderen habe ich an Land gezogen.

Am Ende blieb nur mein zerbrochenes Herz übrig. Und eine große Einsamkeit.

Ich schnäuze mir die Nase. Vor meinem inneren Auge sehe ich mich als alte Jungfer in die ewigen Jagdgründe eingehen. Doch lieber das, als meine Lebenszeit mit irgendwelchen Idioten zu vergeuden! Ja, genau, von Männern werde ich erst mal die Finger lassen! Ich werfe resigniert einen ganzen Berg verrotzter Taschentücher in den Abfalleimer.

Mit entschlossenen Schritten kommt Sharon zurück in die Küche und baut ihren Laptop vor meinem verheulten Gesicht auf. Durch den Tränennebel sehe ich alles ganz verschwommen. Sharon öffnet eine Facebook-Seite und klickt auf ein Bild.

»Claudia, schau mal, hier!« Ich wische mir über die Augen. Sharon zeigt auf das Foto eines dunkelhaarigen Mannes, der einen Taktstock in der Hand hält. »Das ist Shaul. Ein toller Typ!«

»Hmm …«, murmle ich.

»Wie gefällt er dir?«, fragt Sharon ermutigend.

»Ganz nett«, gebe ich zu.

»Guck ruhig genauer hin.« Sharon stemmt die Hände in die Hüften. »Claudia, du sollst genauer hingucken!«

»Tue ich doch!«

»Tust du nicht!« Sharon klickt noch mal auf dem Touchpad rum. »Jetzt, dieses Bild zum Beispiel, schau!«

Ich sehe einen Mann, der bei einem Konzert auf dem Kontrabass spielt. Neugierig lehne ich mich nach vorn, um den Bildschirm besser sehen zu können. Schöne Augen hat er. Tiefe, warme Augen.

»Und?« Sharon fixiert mich.

»Ja, der sieht ganz nett aus …«, brumme ich und lehne mich dann mit verschränkten Armen zurück.

»Und weiter?« Sharon bleibt hartnäckig.

»Was, und weiter? Ja. Nee. Du willst doch nur dieses Schi… Schi… Schibuch …«

»Schi-duch. Es heißt Schi-duch«, korrigiert mich Sharon.

»Ja, genau: Schiduch machen. Das kannst du gleich vergessen. Kommt nicht infrage! Verkuppeln, so ein Quatsch!« Ich tippe mir entrüstet gegen die Stirn.

Sharon lächelt mich nachsichtig an. Ich schaue noch mal schnell auf das Bild. Diese Augen …

Mit einer zackigen Bewegung klappe ich den Laptop zu. »Ja, ganz nett. Aber nein, danke! Ich habe kein Interesse!«

Sharon zieht eine Schnute und trägt enttäuscht ihren Computer aus dem Zimmer.

Ein halbes Jahr später produzieren Sharon und ich eine One-Woman-Show für ein Theater in Berlin. Sharon führt Regie und ich spiele. Wir sind auf der Suche nach einem Komponisten, der mich auch auf der Bühne musikalisch begleiten kann. Gemeinsam sitzen wir in einem Café in Neukölln und besprechen, wer infrage käme. Sharon macht einen neuen Vorschlag: »Ich kenne da jemanden aus Israel«, sagt sie. »Ein toller Komponist und Musiker, spielt Mandoline und Kontrabass – er heißt Shaul.«

Ich runzle die Stirn. Den Namen habe ich doch irgendwo schon mal gehört. So langsam dämmert’s mir. »Shaul? Aaah, der schon wieder«, stöhne ich auf. »Sharon, bitte! Kannst du das mal mit dem Schi… Schi… – wie heißt das noch mal?«

»Schi-duch. Es heißt Schi-duch«, sagt Sharon und unterstreicht mit ihren Händen die Betonung.

»Genau. Schiduch. Kannst du das bitte sein lassen? Es nervt wirklich! Und Mandoline und Kontrabass, was sind das bitte schön für Instrumente! Die passen doch überhaupt nicht zum Stück! Komm, nehmen wir Wolfgang: Der spielt Klavier. Und er ist schwul«, erwidere ich sichtlich gereizt.

Sharon holt ihr Handy aus der Tasche, tippt darauf herum und hält es sich gegen das Ohr. Wen ruft sie da jetzt an? Wolfgang etwa? »Claudia, Shaul ist ein großartiger Künstler. Er ist der beste Mann für den Job. Wenn er zusagt, dann ist das ein großer Glücksfall für uns.«

Sie ist die Regisseurin und hat das letzte Wort.

Zwei Monate später stehe ich tatsächlich vor Shauls Haustür in Berlin-Mitte und klingle.

Mit einer schnellen Bewegung öffnet ein dunkelhaariger Mann die Tür. Er lächelt mich freundlich an. »Hallo, Claudia, komm doch herein.«

Etwas schüchtern folge ich ihm ins Wohnzimmer und nehme auf seinem blauen Sofa Platz. Wir begegnen uns heute zum ersten Mal, um über die Inszenierung zu sprechen. Ein Arbeitstreffen. Ohne große Umschweife kommen wir auch gleich zur Sache: In dem Stück geht es um eine junge Frau, die durch das Singen einer Arie Selbstmord begehen möchte. Die Arie ist bekannt dafür, dass sie so geballt mit Liebe ist, dass sie das Herz der Person, die sie singt, zum Stillstand bringen kann. Doch statt sie in den Tod zu treiben, schenkt die Arie der jungen Frau ein neues Leben. Shaul und ich haben nun die Aufgabe, diese kraftvolle und gleichzeitig tödliche Arie der Liebe zu kreieren. Ich soll den Liedtext schreiben und Shaul die Musik dazu – und er soll sie gemeinsam mit mir einstudieren.

Shauls Stimme ist ganz sanft, sein Akzent ist unge­wöhnlich – irgendetwas zwischen Französisch, Italienisch und Deutsch. Er macht sofort den Eindruck, ein angenehmer Zeitgenosse zu sein. Ein sehr angenehmer Zeitgenosse.

Bei der Besprechung lernen wir uns näher kennen. Shauls Verhalten erinnert mich irgendwie an mich selbst. Bei allem, was ich sage, hakt er immer wieder nach, weil er alles bis ins kleinste Detail wissen möchte. Dabei wirkt er sehr ernst und gewissenhaft und dennoch hat er etwas Komisches an sich, das mich immer wieder zum Schmunzeln bringt. Diese Ähnlichkeit zu mir irritiert mich. Ich habe fast das Gefühl, ich rede mit meinem Spiegelbild.

Irgendwann ertappe ich mich dabei, dass ich Shaul nur noch anschaue und ihm zuhöre, ohne den Inhalt zu verstehen – wie ich seinen Gesten und Bewegungen folge und mein Kopf sich dabei ausschaltet. Hallo, was passiert hier mit mir?

»Ich kann dir einen Cappuccino machen«, unterbricht er sich selbst in seinem Redefluss. »Und möchtest du ein Stück von meinem selbst gebackenen Käsekuchen probieren?« Da bin ich doch gleich wieder ganz da und sage nicht Nein. Der Kuchen schmeckt wirklich lecker und der Cappuccino ist der beste, den ich jemals getrunken habe. Ein musikalischer Leiter, der auch noch leckeres Essen komponieren kann. Das gefällt mir.

»Wow, was hast du denn für eine Kaffeemaschine?«, frage ich Shaul beeindruckt. »Der Kaffee ist köstlich!« Ich schaue ihn etwas länger an als gewöhnlich. Mit diesem Mann werde ich gut zusammenarbeiten, denke ich. Und als hätte er das gehört, lächelt er mich auf einmal von der Seite an. In meinem Bauch wird es ganz heiß. Unangenehm heiß. Ich zapple nervös auf dem blauen Sofa hin und her. Ein kleiner Schwall Cappuccino tropft auf meine Hose. Shauls Lächeln wird breiter. »Ich glaube, das war’s«, sage ich und stelle abrupt die Tasse ab. »Oder gibt es noch mehr zu besprechen?« Ich schaue auf die Uhr. »O Mann, so spät ist es schon. Ich muss jetzt ganz dringend los!« Wie stelle ich mich denn hier gerade an? Es ist höchste Zeit für mich zu gehen, bevor ich mich noch total zum Affen mache. Arbeitsbesprechung hin oder her. Die Augen dieses Mannes bringen mich einfach total aus der Fassung.

»Über eine Sache müssen wir noch reden«, sagt Shaul da und setzt sich neben mich auf die Couch.

»J-j-ja? Über w-w-was denn?« Jetzt fange ich auch noch an zu stottern. Wie peinlich.

Shaul grinst mich an. »Warum bist du so nervös?«

Kaum bin ich aus der Tür raus und auf dem Weg zur U8 an der Bernauer Straße, rufe ich Sharon an und jammere wie ein aufgescheuchtes Huhn: »Sharon, das geht nicht mit diesem Shaul! Wir brauchen Wolfgang. Bitte!«

»Jetzt mal ganz mit der Ruhe, Claudia. Was ist denn los?«

»Das geht nicht mit dem. Das spüre ich jetzt schon. Wirklich, bitte!« Ich höre mich an wie ein kleines, nörgelndes Kind.

»Was ist denn passiert?«

Ich muss schlucken. »Ich glaube, der flirtet mit mir.«

Sharon bekommt am anderen Ende der Leitung einen lauten Lachanfall. Ich halte mein Handy einen halben Meter von meinem Ohr weg. »Claudia, er ist Israeli! Wir sind einfach lockerer als ihr Deutschen. Nimm’s nicht so ernst! Warum bringt er dich so aus dem Konzept?«

Ja, wenn ich das nur selbst wüsste.

Eine Woche später ist unsere erste Musikprobe. Diesmal sitze ich nicht auf Shauls blauem Sofa, sondern stehe neben seinem Klavier. Ich bin von Kopf bis Fuß angespannt. Schuld sind die Arie und Shauls schöne, dunkle Augen. Ich gebe mein Bestes, um die hohen Töne zu treffen. Doch es hört sich eher so an, als würde man Singvögel abknallen, die dann vom Himmel stürzen. Ich schüttle frustriert den Kopf. Shaul ist sehr geduldig. Dennoch bleiben mir die Töne im Hals stecken. Schließlich steht Shaul von seinem Klavierstuhl auf, holt einen weiteren Hocker und stellt ihn neben seinen. O Gott, jetzt nimmt er auch noch meine Hand!

»Komm, Claudia, setz dich für einen Moment neben mich«, sagt er.

Ich hocke neben ihm wie ein Häufchen Elend. Nur nicht in seine Augen gucken, denke ich – dann ist alles okay. Warum hält er meine Hand immer noch fest? Ich fange an zu schwitzen. Hoffentlich lässt er meine Hand gleich los.

»Claudia, es ist alles in Ordnung«, sagt er. »Du hast eine schöne Stimme, ein sehr gutes Gehör und du bist ein Mezzo­sopran – nur glaubst du es selbst noch nicht. Deine Angst vor den hohen Tönen hält dich zurück.«

Ich schaue auf den Boden und nicke. Shaul scheint mich zu lesen wie ein offenes Buch.

»Wovor genau hast du Angst?«

»Weiß ich nicht.«

»Du bist sehr angespannt.«

»Ich weiß.«

»Zum Singen musst du locker sein.«

»Ich weiß. Bin ich aber gerade nicht.«

»Komm, dreh dich um, ich massiere dich.«

Ich bekomme einen Hustenanfall. Habe ich da richtig gehört? Er will mich massieren?

Shaul bringt mir schnell ein Glas Wasser. Ich nehme einen tiefen Schluck. Dann klopft er mir auf den Rücken.

»Danke.« Ich schaue ihn an. »Es geht schon wieder.«

Sein Klopfen wird zu einem Streichen auf meinem Rücken. »Darf ich?«, fragt er. Ich nicke. Er fängt an, meinen Nacken zu massieren. »Du bist tatsächlich sehr verspannt.«

»Ich w-w-weiß. Aua!«

»Du musst beim Atmen loslassen.«

»W-w-weiß ich doch!«

Shauls Hände massieren tiefer. Vom Nacken zu meinen Schulterblättern. Als seine Finger meinen BH-Verschluss berühren, hält er erschrocken inne. Dann prusten wir beide vor Lachen los.

»Das war sehr unprofessionell«, rügt mich Sharon. Als ich ihr später von der ersten Musikprobe erzähle, ist sie so gar nicht begeistert. »Claudia, du bist keine 13 mehr. Reiß dich zusammen. In acht Wochen haben wir Premiere!« Warum ist sie auf einmal so streng? Hat sie Angst um das Stück? Sharon, es gibt in meinem Leben doch gerade nichts Wichtigeres als die Premiere.

Ein paar Tage später spüre ich ein Kratzen im Hals und es fühlt sich an, als ob Elefanten in meinem Kopf Samba tanzen: Mein Schädel dröhnt vor Schmerz. Ich schreibe Shaul eine SMS, um die heutige Musikprobe abzusagen. Daraufhin antwortet er: »Das tut mir leid zu hören. Soll ich bei dir vorbeikommen und eine Suppe für dich kochen?«

Das geht jetzt eindeutig zu weit. Ich rufe Sharon an. »Nun, glaubst du mir jetzt, dass er mit mir flirtet? Er hat geschrieben, dass er bei mir vorbeikommen und eine Suppe für mich kochen kann!«

Sharon stöhnt auf. »Claudia?«

»Ja?«

»Das ist bei uns so.«

»Was ist bei euch so?«

»Na, bei uns Israelis. Wenn jemand krank ist, kochen wir ihm eine Suppe.«

»Aber wir kennen uns doch noch gar nicht! Da kann er doch nicht einfach vorbeikommen und eine Suppe für mich kochen!«

»Claudia?«

»Ja?«

»Mach dich mal locker, es spielt keine Rolle, wie gut man jemanden kennt oder nicht. Wenn jemand krank ist, kümmert man sich und kocht eine Suppe. Punkt.«

Ich überlege. »Okay. Und warum hast du bisher noch nicht angeboten, bei mir vorbeizukommen und eine Suppe für mich zu kochen?«

Sharon stöhnt wieder auf. »Claudia!«

»Was denn?«

»Statt dir darüber den Kopf zu zerbrechen, ob Shaul mit dir flirtet oder nicht, werde lieber wieder gesund und noch viel wichtiger – denk an das Stück!«

»Okay.«

»Er ist Israeli und wir sind einfach direkter im Umgang! Das hat nicht unbedingt was zu bedeuten.«

»Okay!«

»Er flirtet nicht mit dir!«

»Ja, ja – ich habe es verstanden, danke!«

Eine Woche später findet unsere zweite Musikprobe statt. Dass ich allein zu Hause geübt habe, hat sich ausgezahlt.

»Sehr gut, du wirst mutiger«, lobt mich Shaul. Ich laufe rot an.

In der Pause bietet er mir wieder einen Cappuccino und ein Stück von seinem selbst gebackenen Orangenkuchen an. Oh, dieser Mann kann backen! Während wir in der Küche sitzen, unterhalten wir uns über Israel. Was mich mit dem Land verbindet, behalte ich noch für mich. Dennoch brennt mir eine Frage auf den Lippen: »Sag mal, Shaul, warst du eigentlich in der Armee?«

Er steht von seinem Stuhl auf. »Das ist eine längere Geschichte«, antwortet er, macht mir einen weiteren Cappuccino und beginnt zu erzählen:

Ich sitze im Wartezimmer des Armeepsychologen, mit meiner Mandoline im Arm. Ich bin 17 Jahre alt und soll wie alle anderen israelischen Jungen und Mädchen zum Militär. Drei Jahre dauert der Dienst an der Waffe. Alle gehen zur Armee. Deine Eltern waren in der Armee, deine Geschwister, deine Freunde – wirklich alle. Mein Onkel ist sogar ein angesehener Offizier beim Militär. Wir brauchen die Armee, damit Israel existieren kann – so wird es immer gesagt. Da fast die gesamte israelische Bevölkerung in der Armee ausgebildet wurde, lassen sich bei einem Krieg innerhalb von wenigen Stunden Abertausende Reservisten rekrutieren. Wenn man einmal Soldat in der Armee war, bleibt man bis zu seinem vierzigsten Lebensjahr Reservist und muss jedes Jahr fast einen Monat Dienst leisten. Sollte man den Wehrdienst aus politischen Gründen verweigern, landet man im Gefängnis und gilt für den Rest seines Lebens als schwarzes Schaf.

Ich will nicht zur Armee. Als ich den Brief zur Musterung erhalte, ist meine Reaktion: »Wenn ihr mich einzieht, dann bringe ich mich um.« Das ist mein Ernst. Ich bekomme sofort einen Termin beim Armeepsychologen. Dort bin ich heute schon zum vierten Mal. Stundenlang werden Tests mit mir gemacht, mir werden unendlich viele Fragen gestellt.

»Ich bin Musiker. Ich kann nur meine Mandoline in den Händen halten – keine Waffe«, sage ich.

Der Psychologe schaut mich lange schweigend an. »Warum spielst du nicht mal was auf deiner Mandoline?«, fragt er mich testend.

Ich fange an zu spielen, ganz langsam.

Nach ein paar Minuten versucht der Psychologe mich zu unterbrechen: »Das reicht jetzt, danke!«

Ich spiele weiter, immer lauter.

»Jetzt ist mal genug, danke«, sagt der Psychologe.

Ich spiele immer schneller. Er steht auf und verlässt den Raum. Ich will nicht aufhören zu spielen. Ich spiele so lange weiter, bis der Psychologe zurück in den Raum kommt und mir ein Blatt Papier unter die Nase hält. Darauf steht: »Untauglich fürs Militär.«

Ich habe mich aus der Armee herausgespielt. Mit der Partita Nummer zwei in d-Moll von Johann Sebastian Bach.

Ich halte die leere Cappuccino-Tasse in meinen Händen und versuche mir nicht anmerken zu lassen, dass ich tief beeindruckt bin. Dass Shaul nicht beim Militär war, macht ihn für mich noch interessanter. Jetzt wäre eigentlich der passende Moment, um ihm zu erzählen, welche Erfahrungen ich mit Israel und dem israelischen Militär gemacht habe. Doch es ist schon dunkel geworden, Shaul schaut auf die Uhr: »Claudia – unsere Pause hat ganz schön lange gedauert, es ist schon so spät!«

»Ups, das dürfen wir auf keinen Fall Sharon erzählen«, antworte ich schnell. Ich komme mir vor, als würde ich nicht über die Regisseurin sprechen, sondern über einen Anstandswauwau. Shaul und ich gucken uns an und fangen im gleichen Moment an zu lachen.

»Ich kann uns Abendessen machen, wenn du magst«, schlägt er vor.

»Bloß nicht«, erwidere ich. »Ich meine: danke! Das ist sehr nett von dir. Doch ich sollte jetzt wirklich nach Hause gehen, schließlich bin ich schon seit Stunden hier.«

Shaul begleitet mich zur Tür. »Hast du morgen Abend schon was vor?«

»Ähm, nein, ich glaube nicht. Vielleicht doch. Bin mir nicht sicher … Wieso?«

»Morgen Abend ist Rosch ha-Schana, das jüdische Neujahrsfest.«

»Neujahr mitten im September?«, frage ich erstaunt.

»Ja, im hebräischen Kalender beginnt das neue Jahr im Herbst. Ich lade ein paar Freunde zum Abendessen ein, um zu feiern. Hast du Lust, auch vorbeizukommen?«

»L-l-lust? Äh ja, schon …«

»Gut, dann bis morgen Abend, 18 Uhr geht es los.«

Sharon erzähle ich lieber nichts von der Einladung – Shaul flirtet ja sowieso nicht mit mir …

24 Stunden später stehe ich also schon wieder vor Shauls Haustür und klingle. Von drinnen ertönt eine gewaltige Geräuschkulisse. Ich bin gespannt. Eine mir unbekannte Person öffnet die Tür. »Hallo, ich bin Tom! Du musst Claudia sein? Komm rein!« Tom nimmt mir meine Jacke ab und bringt mich ins Wohnzimmer. Eine lange Tafel ist festlich gedeckt und es stehen Schüsseln mit diversen Salaten auf dem Tisch. Immer mehr Leute kommen in das Zimmer. Wir sind zu zehnt. Ich kenne hier niemanden außer Shaul. Doch der ist nicht zu sehen.

»Shaul ist noch in der Küche und bereitet den Hummus vor. Er hat mich gebeten, mich um dich zu kümmern.«

»Äh, das ist sehr nett, danke.«

»Komm, setz dich. Hast du schon mal Rosch ha-Schana gefeiert?«

»Nein, das ist mein erstes Mal.«

»Und das erste Mal auch allein unter Juden?«

»Ähm, bitte was?«

»Also ich an deiner Stelle hätte Angst, die einzige Deutsche unter zehn Juden zu sein! Wer weiß, was wir mit dir machen!« Tom schaut mich sehr ernst an. Ich muss schlucken. Da haut er mir kräftig auf die Schulter und lacht laut auf. »Du solltest jetzt mal deinen Gesichtsausdruck sehen! Entspann dich, ich mache nur Spaß mit dir!«

Ich muss auch lachen. »Dann ist gut, für Spaß bin ich natürlich immer zu haben.«

Tom legt seine Hand auf meine Schulter. »Aber tatsächlich bist du die einzige Goja hier.«

»Und das ist ganz wunderbar! Schalom, Claudia«, ruft Shaul, der gerade ins Zimmer gekommen ist, und stellt den Hummus auf dem Tisch ab. »Nimm Platz, ich hole noch das restliche Essen. Du siehst übrigens sehr hübsch aus!«

»D-d-danke«, stottere ich.

»Das heutige Abendessen wird uns beiden sehr gut tun.« Was meint er denn bitte schön damit?

Inzwischen sitzen auch alle anderen Gäste am Tisch. Es wird viel gelacht und geht sehr herzlich zu. Tom erklärt mir die Bedeutung des jüdischen Neujahrsfestes und zeigt auf den Teller mit den Apfelstücken und dem Honig. Das isst man in der Hoffnung, dass das neue Jahr süß wird. Gemeinsam tauchen wir die Obststückchen in den Honig.

Jeder, der mag, sagt nun reihum, was er sich für das neue Jahr wünscht. Einige sprechen ihren Wunsch laut aus, andere behalten ihn für sich. Als Shaul an der Reihe ist, sagt er: »Mein Wunsch ist ein sehr persönlicher. Den halte ich geheim.« Hat der Rotwein meine Wahrnehmung getrübt oder schaut Shaul tatsächlich mich dabei an? Halluziniere ich schon? Nein. Shaul hebt sein Glas und zwinkert mir zu.

Die Runde am Tisch hat sich mittlerweile aufgelöst und sich auf die restliche Wohnung verteilt, in die Küche und auf den Balkon. Tom ist losgezogen, um noch mehr Rotwein zu kaufen. Ich stehe am Fenster und rauche mit einer Frau namens Noam eine Zigarette. Shaul gesellt sich dazu. »Woher kennt ihr euch eigentlich?«, fragt mich Noam mit Blick auf Shaul.

»Ähm … wir arbeiten nur zusammen und …«

»Und jetzt lernen wir uns immer besser kennen«, antwortet Shaul. »Und das ist sehr schön.« Dabei lächelt er mich so intensiv an, dass es mir eiskalt den Rücken runterläuft. Wenn das nicht Flirten ist, dann weiß ich auch nicht mehr!

Der Rotwein ist alle, die Flaschen sind ausgetrunken und alle anderen Gäste sind nach Hause gegangen. Nur ich bin noch da. Ich helfe Shaul, die Teller und Gläser wegzuräumen, als mein Blick auf ein Foto an der Wand fällt. Shaul bemerkt, wo ich hinschaue. »Das sind mein Opa und ich.«

»Das ist ein schönes Bild.«

»Ja, ich mag es auch sehr.«

»Ist dein Opa in Israel geboren?«, frage ich.

»Nein, in Rumänien. Im Jahr 1929 oder 1930 – das weiß man leider nicht so genau.«

»Dann hat dein Opa also … also er hat den …«

»Ja, mein Opa hat den Holocaust überlebt.«

Ich schaue noch mal genau auf das Bild und frage mich, was seine Großeltern damals wohl erlebt haben.

Meschugge sind wir beide

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