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ZWEITES KAPITEL 1832 Der Staat als Ziel. Philhellenische Hilfe: Katharina II., die Grafen Orlow und Kapodistrias. Die Schweizer und Jean-Gabriel Eynard. Die Engländer und Lord Byron. Die Bayern und Otto I. Die Heimholungen Griechenlands im Roman, in Architektur und Kunst. Goethes Faust II als Oper.
ОглавлениеIm Mai 1832, zwei Monate nach Goethes Tod und elf Jahre nach Beginn des Freiheitskampfes, erhielten die Griechen einen Staat. Zum ersten Mal seit der Antike sollte es wieder ein eigenes Land griechischer Sprache geben, zum ersten Mal seit mehr als einem Jahrtausend wäre es nicht mehr Teil eines christlichen Großreiches, sondern ein selbständig christlicher Staat, wenn auch mit langer nichtchristlicher Vorgeschichte, die immer noch kulturell alles zu überragen schien, was seit dem Römischen Reich mit der hellenischen Erbschaft geschehen war. In diesem Jahr 1832 wurde nach dem Beschluss der Großmächte Russland, England und Frankreich der Sohn des bayerischen Königs Ludwig I., der achtzehnjährige Otto I. inauguriert. Er durfte sich »König von Griechenland« nennen, nicht aber »König der Griechen« oder gar »der Hellenen«. Im Dezember reiste er von Brindisi in die vorläufige Hauptstadt Nauplion; die Regierung konnte er allerdings nur volljährig übernehmen, und erst 1841 war das Schloss in Athen überhaupt bezugsfertig. Es war das heutige Parlamentsgebäude, damals vom bayerischen Baumeister Friedrich von Gärtner errichtet.
Das Vorspiel zu dieser ganzen Inthronisierung, der griechische Freiheitskampf zwischen 1821 und 1827, war blutig verlaufen und keineswegs in Harmonie beendet worden. Er verdankte sich außer der russischen Initiative aus den 1770er Jahren unmittelbar dem Aufruhr der Französischen Revolution, deren Folgen vom Wiener Kongress unter Metternich nur mühsam und widerwillig mit nationalen Zugeständnissen gebändigt wurden. Aber die gebildete Welt stand aufseiten der Griechen, wenn auch durch einen Trugschluss vom alten Hellas auf das inzwischen osmanisch verwahrloste Land. Seit 1814 gab es mit Filiki Eteria und dem Verein der Philomusen aktive Geheimbünde einflussreicher Russen und Griechen in Odessa und Athen, teils politisch, teils nur kulturell aktiv, daneben aber auch unablässige Fürsprachen aus ganz Europa. Nicht nur Byron, der erstmals schon 1809 nach Griechenland gesegelt war, auch prominente Franzosen wie Benjamin Constant und Chateaubriand verlangten mit dringlichen Aufrufen öffentliche Teilnahme; deutschsprachige Philhellenen strömten heran, vor allem aus der Schweiz und aus Bayern und sogar aus den USA. Es waren Kämpfer und Ideologen, Christen und Sektierer, reiche und arme Leute, Abenteurer, Legionäre und gescheiterte Existenzen. Einer der Mitwirkenden, Wilhelm Barth aus Süddeutschland, hat ein penibles Verzeichnis mit biographischen Daten von rund 300 Teilnehmern aus Europa und den USA bis zum Jahr 1831 hinterlassen; es wurde allerdings erst 1961 im Institut für Auslandsbeziehungen in Stuttgart sorgfältig ediert und gedruckt.
Aus der Schweiz kamen damals besonders tätige Helfer wie etwa der Zürcher Redakteur Johann Jakob Meyer, der an der Seeschlacht von Patras teilnahm, in Missolonghi eine Apotheke eröffnete und mit der Ellinika Chronika die erste Zeitung in Griechenland begründete, finanziert von Lord Byron, wenn auch widerwillig, denn er meinte, in einem Land von Analphabeten könne eine Zeitung nicht wirklich nützen. Schweizerische Philhellenen wirkten nachhaltig auch aus der Heimat; es gab Aufrufe und enorme Spenden vor allem von Kirchenleuten – denn Griechenland stand ja mit seiner alten Sprache für das Neue Testament und die Korintherbriefe des Paulus, die Vorlagen der volkssprachlichen Übersetzungen von Luther und Zwingli. In dieser hellenischen Sprache wiederum konnten die Manuskripte, wie auch ihre Auslegung, dann in der byzantinischen Orthodoxie und in Konstantinopel seit dem 6. Jahrhundert überdauern. Selbst als die Türken 1453 diese Stadt eroberten und das Osmanische Reich entstand, verschwand das griechisch-orthodoxe Christentum keineswegs; man hatte schließlich jahrhundertelang im ganzen Gebiet Klöster gebaut, Mönche erzogen, Gemeinden gepredigt, Menschen getauft, verheiratet und begraben. Für die Hohe Pforte waren diese Bildungszentren und Priester Werkzeuge der Verwaltung. Christen, die in festen Gemeinden lebten, ließen sich zur Steuer zwingen, ebenso wie die Juden mit ihren Handelsplätzen.
Aber nicht nur Christenmenschen halfen dem griechischen Aufstand, sondern, fast wichtiger, Finanziers. Der junge Staat brauchte Geld in jeder Hinsicht. Nachdem ein erster Kredit aus England 1824 im Umfang von 800.000 Pfund Sterling höchstens zur Hälfte in Griechenland ankam, wegen grassierender Korruption auch bei den Gebern, und ein zweiter wenig später ebenfalls versickerte, verschaffte man dem Land 1834 erneut 60 Millionen französische Goldfrancs, von denen freilich allein 12 Millionen der Hohen Pforte gezahlt werden mussten. An irgendeine Rückzahlung in solcher Höhe war kaum zu denken. Die Zinssätze lagen zu hoch, ebenso die Ausgaben, Einkünfte waren zu spärlich. Die Parteien versuchten ohnehin sich zu bereichern, mit einigem Recht natürlich auch die bayerische Regierung in Athen, die ihre Beamtenschaft installieren musste und dabei die Kosten einer würdigen Repräsentation nicht scheute. Untadelig und denkwürdig blieb damals der wichtigste Finanzier des werdenden Griechenstaates, Jean-Gabriel Eynard, ein Bankier aus Genf, der 1841 die Griechische Staatsbank gründete und wie Byron und später Ottos Vater, der bayerische König Ludwig I., mit hohen privaten Summen einsprang.
Das ganze idealistische Unternehmen war von Anfang an mehr als riskant. Zwar herrschte unter den Freiwilligen zunächst Begeisterung, aber nur wenige Kämpfer konnten durchhalten. Geld, Leben und Gesundheit waren der hohe Einsatz; und viele, wenn nicht die meisten Nachrichten klangen bedenklich. Süddeutsche Zeitungen erhielten Berichte oder veröffentlichten Privatbriefe; manche lobten die Griechen, andere tadelten ihre Rohheit, manche hielten sie für bildungsfähig, andere für bockig oder feige. Soldaten ärgerten sich, dass »selten ein Grieche den Mut hat, eine Kanone abzufeuern, viel weniger sie zu richten versteht«, während andere verhältnismäßig zufrieden konstatierten: »Wir bekommen Brot, Fleisch und Wein von der Einwohnerschaft, müssen aber selbst kochen. Kleidung haben wir nicht erhalten; wir tragen unsere eigene immerwährend fort. Geld will uns der Gouverneur zu den notwendigsten Bedürfnissen, als Tabak, Wäsche, u. s. w. geben.« Aber nicht Lohn gab es, sondern immer mehr Ärger und Streit, auch aus sprachlichen Gründen, denn natürlich konnten die wenigsten Ausländer sich mit den Einheimischen verständigen. »Damals strömten die Freiwilligen aus allen Gauen Teutschlands zahlreich zu König Ottos Fahnen […] Mit Freude verliess man sein Vaterland, um nur auf dem Boden wandern zu können, der durch so mächtig erhabene Erinnerungen aus der Vorzeit geheiligt ist. […] Ein Jeder von uns trug den Keim irgendeiner Hoffnung im Herzen, und nach Werbenderart versäumte man nicht, diesen Keim durch Versprechungen zu hegen und zum Treiben zu bringen: Daher die Täuschung so vieler Philhellenen, daher das damit verbundene Heimweh so Vieler, das schrecklich langsam, aber sicher würgende Gift einer unheilbaren Gemüthskrankheit«, resümierte schließlich ein Jakob Keyer.
Enttäuschung musste es schon aus mehreren Gründen geben. Zum Kampf gekommen waren und geworben hatte man unvorbereitete, unausgebildete und schlecht ausgerüstete Freiwillige. Die Verantwortlichen zuhause und vor Ort hatten zwar vielleicht Homer gelesen, aber keine Ahnung von Topographie und Klima, geschweige denn von medizinischer Versorgung. »Die Sterblichkeit unter den Soldaten ist sehr groß«, schrieb ein Medizinstudent seinem Bruder; »Täglich ein, oft auch zwei Leichenbegängnisse … Wir haben kein Spital, das nur einigermassen eingerichtet wäre, keine Fornituren für unsere Kranken, und was noch das allerschlimmste, keine Mittel und keinen Weg, darin Änderung und bessere Einrichtungen zu treffen.« Tatsächlich starben die meisten Opfer wie Lord Byron an Krankheiten und nicht im Kampf.
Das eigentliche Hindernis einer Staatsgründung aber, stellte sich mehr und mehr heraus, war die griechischerseits oft fehlende, weil niemals verlangte Idee einer wirklich städtischen Gesellschaft mit Willen zur Kooperation oder gar mit Sinn für eine zentrale Verfassung; selbst die gemeinsame Sprache war ja kein wirklich soziales Band. 400 Jahre osmanischer Herrschaft hatten außer der kirchlichen Hierarchie wenig mehr als lokale Chefs, Clans und sogenannte Klephten, also Briganten hinterlassen. Das Unternehmen wirklich vorantreiben konnten damals – wie wohl noch heute – nur die Griechen in der Diaspora, die Auslandsgriechen, zahlenmäßig ohnehin den Einheimischen überlegen, in jedem Fall aber besser gebildet und wohlhabender als die Inländer. Aber selbst diese Anstrengungen wären ohne den aufstürmenden, internationalen intellektuellen Philhellenismus der Epoche vergebens geblieben. Katharina die Große hatte 1768 den ersten Aufruf verfasst und später im Testament sogar ihren Enkel Konstantin zum griechischen König bestimmt; Voltaire hatte eine Ode für sie und ein wütendes Stück gegen die Türken geschrieben. Die große Enzyklopädie von Diderot und d’Alembert widmete seit 1754 zahlreiche Artikel der griechischen Antike, wenn auch vielleicht noch mehr der römischen, die in Gestalt Italiens und mit Rom eine echte translatio imperii hinter sich hatte, was Griechenland natürlich unerreichbar war.
Tatsächlich hatte die Ideengeschichte zu diesem ganzen politischen Aufruhr schon lange zuvor mit Humanisten wie Martin Crusius und Erasmus Fahrt aufgenommen und sich um 1700 beschleunigt in dem bekannten Pariser Streit zwischen den Alten und den Modernen (Querelle des Anciens et des Modernes). Ging es hier meist noch um stilistische Fragen, wie etwa das Stilideal der simplicité, von Winckelmann später mit »edle Einfalt« übersetzt, wurde auf höherer Ebene schon mit andern Waffen gefochten. Alles Denkbare war an der griechischen Antike vorbildlich, und nicht zuletzt die staatliche Verfassung. Der Erzieher des Dauphin höchstpersönlich, François Fénélon, verfasste damals eine Satire, die Ludwig XIV. mit der Entlassung des Autors quittierte. Der Roman »Les aventures de Télemaque« von 1699 wurde zu einem europäischen Bestseller und unverzüglich ins Deutsche übersetzt. »Die seltsamen Begebenheiten des Telemach. Ein Staatsroman« erzählt in einem pseudohistorischen und zugleich utopischen Plot vom Sohn des Odysseus und dessen Lehrer Mentor (hinter dem sich die Göttin Athene verbirgt); die beiden reisen zusammen durch diverse Staaten, die meist durch Schuld ihrer von Schmeichlern und falschen Ratgebern umgebenen Herrscher zugrunde gehen: ein Spiegelbild für das kriegsverstrickte und verarmende Frankreich des ausgehenden 17. Jahrhunderts. Mentor weiß aber Rat, indem er friedlichen Ausgleich mit Nachbarn empfiehlt, Wachstum und Förderung der Landwirtschaft anregt sowie Minderung der Luxusgüter. Ludwig XIV. verbot das Buch sofort nach Erscheinen, aber es kam in anderen französischen Ausgaben auch nach Brüssel und Den Haag und eroberte sich als Mischung zwischen Fürstenspiegel und Bildungsroman sein oft jugendliches europäisches Publikum.
Ähnlich graekophile Geschichten folgten in Deutschland und inspirierten die griechischen Freiheitskämpfer ihrerseits. Goethes »Werther« (1774) fühlte und handelte zwar ganz zeitgenössisch deutsch, konnte aber dennoch von Homer wie von einem Großvater schwärmen; während Christoph Martin Wielands »Geschichte des Agathon« (1767–1777) in einem fiktiven Hellas spielte und tatsächlich 1814 vom Direktor der Smyrna-Schule, Konstantin Kumas, ins Neugriechische übersetzt wurde. Ein Jahr vor der Revolution erschien dann in Frankreich »Die Reise des jungen Anachasis in Griechenland« (1788) des Archäologen Jean-Jacques Barthélemy, begonnen 1757 und 1819 ebenfalls ins Griechische übersetzt. Auch und gerade dieser Bericht hat sich europaweit verbreitet und wurde bis 1893 ununterbrochen aufgelegt. Noch im 20. und 21. Jahrhundert wurde der Plot von Künstlern und Dichtern erwidert, zuletzt 2014 von Marlene Streeruwitz: »Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland«, nun also erstmals von einer Frau geschrieben und von einer Frau handelnd. Im Original ging es dabei um einen sogenannten »edlen Wilden«, einen jungen Skythen, Sohn des berühmten skythischen Philosophen Anacharsis, der durch ganz Hellas reist und rückblickend die Gebräuche, die Regierung, die Kunstwerke, die Sprache, Dichtung und das ganze ihm eigentlich fremde, nun aber gegenwärtige Land schildert, um zeitgenössischen Lesern eine mehrschichtige Kenntnis zu liefern. Es wurde eine Art Sachbuch; eine spätere Ausgabe enthielt sogar noch genaue Karten für Zeitreisende zum 4. Jahrhundert vor Christus. Auch dieses Buch traf mit seinem revolutionären Horizont ins Herz des griechischen Aufstands, denn der wichtigste Anführer, Rigas Velestinlis, lieferte eine neugriechische Übersetzung des vierten Bandes mitsamt persönlichen Anmerkungen. Doch wurde der Autor von der Zensur erfasst, verhaftet und in Bukarest hingerichtet.
In diesen Jahren konnten deutsche Leser also, neben dem immer noch unübertroffenen antiken Pausanias, ganz reale Ortsbeschreibungen des antiken Hellas wie auch des gegenwärtigen Griechenland von Autoren wie Pierre Guys und Richard Chandler lesen; und wenn Goethes Werther von seiner Homerlektüre schwärmt, galt das nicht unbedingt einer originalsprachlichen. Auch den herrlich illustrierten Reisebericht von Gabriel de Choiseul-Gouffier, einem Diplomaten und Althistoriker, konnten die von Winckelmann aufgeweckten Geister schon 1782 studieren, jedenfalls den ersten Band seiner »Voyage pittoresque de la Grèce«, um sich mit den dort beschriebenen Zuständen des gegenwärtigen Landes unter osmanischer Herrschaft zu befreunden, sie mindestens zur Kenntnis zu nehmen, wenn das nicht schon Chandler ein paar Jahre zuvor gelungen war. Choiseul-Gouffier war Botschafter an der Hohen Pforte von 1784 bis 1791; mit der Französischen Revolution, die er erbittert bekämpfte, verlor er den Posten und seine Besitztümer. Er floh nach Russland, wo man ihn zum Direktor der Akademie der Künste und der kaiserlichen Bibliothek ernannte. Katharina die Große schenkte ihm Ländereien in Litauen; 1802 kehrte er nach Frankreich zurück, 1809 erschien der zweite Band, und als der dritte 1822 posthum erschien, war der Freiheitskampf der Griechen schon in vollem Gang.
Im Dezember 1821 nämlich war in Nea Epidauros eine erste griechische Nationalversammlung zusammengetreten; und im selben Jahr exkommunizierte das Patriarchat von Konstantinopel auf Befehl der Hohen Pforte alle Aufständischen. Auf welche Tradition wollten die aufsässigen Griechen sich jetzt berufen? Nicht nur die politische Abspaltung eines Landes aus einem Großreich, auch der Konflikt zwischen einer heidnischen Antikenverehrung und einer über tausendjährigen christlichen Orthodoxie im byzantinischen Reich war unausweichlich. Tatsächlich nahm die Kirche in Konstantinopel ihre Glaubenskinder erst nach Ottos I. Abdankung 1863 wieder zurück; dabei hatte eine 1833 eigens einberufene Synode von Athen ohnehin die griechische Kirche für autokephal erklärt und damit die Freiheitsbewegung gestärkt. Es war eine plausible Maßnahme, denn nur so war die Zustimmung der Landbevölkerung zu erreichen. Allein die Propaganda eines idealistisch gebildeten, womöglich sogar protestantischen Philhellenentums hätte die ungebildeten Einwohner auf dem Lande und in den Bergen niemals wirklich beeinflusst. Eindruck gemacht hätte hier allenfalls das griechische Militär mit seiner Hoffnung auf Wiedergewinnung des alten byzantinischen Reiches mit Konstantinopel am Horizont; man sprach hier von der sogenannten »Megali Idea«, von dem großgriechischen Reich, die das politische Handeln des neuen griechischen Staates dann bis 1922 teils glücklich, teils desaströs tatsächlich bestimmen sollte.
Doch vorerst trugen Klephten und Clans ihre Streitigkeiten trotz fremder Mächte weiter aus wie bisher und wollten sich keiner Zentralgewalt unterwerfen. Nach einer katastrophalen Niederlage in Missolonghi 1826 kam es im Oktober 1827 zur entscheidenden Schlacht im Hafen von Navarino; die europäische Flotte versenkte fast alle Schiffe des ägyptischen Sultans Mehmet, der dem Osmanischen Reich noch einmal zu Hilfe gekommen war. Ein Protokoll hielt die Kapitulation der Türkei fest, und im April wurde schließlich Graf Ioannis Kapodistrias aus Korfu, ein erfahrener Politiker in russischen Diensten, Mitglied von Filiki Eteria und Gründer des Vereins der Philomusen, zum ersten Präsidenten einer ersten Verfassung gewählt. Mit zahlreichen Maßnahmen versuchte er eine Zentralverwaltung gegen die widerspenstigen Provinzherren durchzusetzen, wurde aber 1831 von griechischen Clanchefs ermordet. Gerüchte kursierten, es sei ein englischer Hinterhalt gewesen, um Russland keinen zu großen Einfluss auf das griechische Geschick zu lassen; andere Gerüchte besagten im Gegenteil, er sei das Werkzeug Russlands geblieben, und wieder andere verdächtigten ihn, selbst König werden zu wollen. Lulu Gräfin Thürheim, die ihn 1817 in Karlsbad kennenlernte, beschrieb ihn jedoch in ihren Erinnerungen ungemein beeindruckt: »Es ist dies ein bescheidener Mann, dessen Charakter und Verstand ihm jedoch die Herrschaft über alle geben, mit denen er verkehrt; sein durchdringender und schwermütiger Blick offenbart von Haus aus die Seele eines Philosophen, der über alles nachgedacht und erkannt hat, dass nichts auf dieser Welt großen Wert besitzt. Sein griechischer Akzent (er ist Korfe) verleiht seiner Aussprache etwas Fremdes und Graziöses, das mit der Ruhe seiner Bewegungen, seiner originellen Beredsamkeit und der Harmonie in seinem ganzen Wesen übereinstimmt und ihn in meinen Augen ganz anders erscheinen lässt, wie die übrigen Leute von Geist, mit denen ich bisher zusammentraf. Nichts verrät an ihm den Günstling. Capo d’Istria wäre vollkommen liebenswert, wenn er um zehn Jahre älter wäre, denn mit seinen kaum vierzig Jahren und seinem reizenden Lächeln und Augen, wie ich sie noch nie so schön gesehen habe, könnte er etwas weniger ernst und mehr jung sein.«
Trotz oder wegen andauernder Spannungen im Lande einigten sich die Großmächte in einem zweiten Londoner Protokoll nun auf den jungen bayerischen Kronprinzen Otto von Wittelsbach, der von seinem Vater ohnehin schon in leidenschaftlicher Griechenverehrung erzogen worden war. Mit Otto kamen an die sechstausend Helfer ins Land, teils Soldaten, teils Beamte, teils einfach Abenteurer oder gebildete Freunde des Landes, von denen viele später ebenfalls zu Beamten erhoben wurden. Es wurde eine erste Begegnung der Deutschen mit der griechischen Realität in sozialer, politischer und kultureller Hinsicht; und es wurde eine oft zermürbende, teils von rücksichtslosem Herrschaftswillen, teils aber auch von großem Idealismus getragene Koexistenz. Faust und Helena, mochte man meinen, versuchten sich endlich in einer Ehe, deren Stifter inzwischen gestorben war. Um dem antiken Ideal näher zu kommen und das Land mit Verstand zu regieren, brauchte man Juristen, Soldaten, Lehrer, Architekten, Dichter und Maler. Verwaltung, Bildung, Militär, Rechts- und Sozialwesen mussten eingerichtet werden; und das Leitbild gab dabei natürlich der bayerische Staat unter Ludwig I. ab, dessen Griechenliebe schon bis ins »y« im Landesnamen von Bayern hineingereicht hatte. Zu den bekanntesten deutschen Kulturhelfern der neuen Athener Regierung zählten damals neben dem Pädagogen Friedrich Thiersch, dem engagierten Lehrer von Otto, auch der Architekt Friedrich Wilhelm von Gärtner, Erbauer des Athener Schlosses und Kollege von Leo von Klenze. Klenze galt wie Gärtner als Ludwigs Hofarchitekt; mit seinen zahlreichen Bauten in München sollte und wollte er ein zweites Athen herstellen; selbst die sogenannte Walhalla in Regensburg spiegelte trotz ihres germanischen Namens das Parthenon. Klenze war zwar stärker als Gärtner hellenistisch inspiriert, aber dennoch kein verträumter Griechenfreund wie sein größter Konkurrent aus Preußen, Karl Friedrich Schinkel. Dieser glanzvolle Baumeister und schließlich sogar Oberbaurat des gesamten Landes war Philhellene durch und durch, dazu ein begabter Maler und Bühnenbildner, auch wenn fast die Hälfte seiner Entwürfe blieben, was sie waren. 1825 widmete er sein letztes großformatiges Gemälde namens »Blick in Griechenlands Blüte« dem griechischen Freiheitskampf; es zeigte halbnackte junge Männer beim Tempelbau nach den Regeln griechischer Architektur. Und nun, anlässlich des bayerischen Regierungsantritts, entwarf er auf Anregung des preußischen Kronprinzen einen Palast, der eine Akropolis völlig umgestalten sollte, die Schinkel selber nie gesehen hatte. Die Ruinen von Parthenon, Propyläen, Erechtheion und Niketempel sollten abgeräumt und in Gärten integriert werden. Erwartungsgemäß kritisierte Leo von Klenze die umfangreichen Pläne heftig und erfolgreich als »Sommernachtsträume« und meinte, die welthistorische Athener Akropolis dürfe allein Sache der Archäologen sein.
Wirklich gehörte Schinkel, wie die meisten preußisch protestantischen Philhellenen im 19. Jahrhundert, zu den Auslandsfreunden, die sich aus zweiter und dritter Hand über die leibhafte Wirklichkeit Griechenlands informierten. So etwa hatte er ausgiebig das Werk der Engländer Stuart und Revett studiert, das für die Zwecke eines Architekten wie geschaffen war, da es die genauesten Maßangaben und Zeichnungen einschließlich der antiken Grundrisse enthielt und damit ohne weiteres in architektonische Lehrbücher und Sammlungen architektonischer Entwürfe eingehen konnte. Europäische Baukunst war für Schinkel gleichbedeutend mit griechischer Baukunst, im Sinne Winckelmanns und nach der Devise, »das Notwendige der Construction schön zu gestalten«. Aber Schinkel begeisterte sich eben auch für phantastische Architektur; an die vierzig Bühnenbilder stammen von ihm. 1816 hatte er mit seiner Berliner Ausstattung von Mozarts »Zauberflöte« Goethe für sich gewonnen; es waren zwölf herrlich orientalisierende Bühnenbilder, darunter das sternenübersäte Pantheon für den Auftritt der »Königin der Nacht«.
Keinen anderen Opernkomponisten hat Goethe in Weimar so häufig aufgeführt wie Mozart; zwischen 1791 und 1813 wohl fast dreihundertmal; darunter die Zauberflöte mit 82 Aufführungen am häufigsten. Dass Goethe selber eine Fortsetzung zu der Oper verfasst hat, ist fast vergessen, dabei gab es schon seit 1795 erste Entwürfe, die auch gedruckt, aber nie aufgeführt wurden. Angeblich fand Goethe keinen Komponisten dafür; angeblich hatte Mozarts Librettist, Emanuel Schikaneder, eine eigene Fortsetzung gedichtet. Goethes »Zauberflöte II« hatte seltsamerweise nur ein Thema: das Kind, das Pamina und Tamino sich wünschen und gezeugt haben, und das schließlich nach einer Irrfahrt als »Genius« aus einem Sarg gerettet wird, während die Kinder von Papageno und Papagena aus drei Vogeleiern schlüpfen. Das Motiv des bedrohten, geraubten, verschleppten oder gar getöteten Kindes gehörte zu Goethes Schlüsselphantasien. Seit der realistischen Kindsmordepisode aus »Faust I« stand das nahezu alchemistisch gezeugte Knäblein Otto aus den »Wahlverwandtschaften« von 1808 in seinem Horizont, und präsent war Goethe natürlich beständig auch das Knäblein Justus aus dem faustischen Puppenspiel in Frankfurt. Das Geschöpf, welches später als Euphorion in »Faust II« abenteuerlich umhertanzt, ähnelt dem Schicksalskind aus der Zauberflöte II bedeutsam. Denn auch diese Zauberflöte II durchzieht ein Hauch von paradoxer, weil mythologischer Naturwüchsigkeit, wenn der Nachwuchs vom Vogelfänger, der ja selber kein Vogel ist, aus Eierschalen springt. Es war eine Anspielung auf Helena, die nach der Sage von einem schwangestaltigen Zeus gezeugt und von der Mutter Leda in einem Ei geboren wurde, zusammen mit Zwillingen, den Dioskuren. Zugleich wird in diesem Libretto auch höhere Weisheit bemüht, die Weisheit der Freimaurer, die schon Mozarts Komposition erfüllt. Der Mythos von Isis und Osiris steht hinter den Zeilen und den erahnten Noten; das Kind dieser beiden ist kein anderer als Horus, das Götterkind, der oberste Gott der ägyptischen Religion. Gab es also hinter Faust und Helena ein hochkulturelles, orientalisches Muster, ein Muster, das zwar nicht auf Erlösung, wohl aber auf Versöhnung der Gegensätze aus war? So wollten es spätere Erben der goetheschen Spätwelt verstanden wissen, als es um den Grundstein der sogenannten »Anthroposophie« gehen sollte; so hat es auch seit 1956 dann Katharina Mommsen dokumentiert, die dem Herzstück der west-östlichen Goetheforschung ein Lebenswerk gewidmet hat.
Dass auch Goethe sich seinen »Faust« überhaupt als Oper vorstellen konnte, ja ausdrücklich wollte, ist bekannt; auch und gerade »Faust II« erfüllt ja nach den Regieanweisungen die Liebeshöhle des Hohen Paares mit Komposition: »vielstimmige Musik« erklingt zur Geburt des Euphorion. Das musikalische Publikum und die Komponisten folgten der Anregung. Noch zu Goethes Lebzeiten gab es ein halbes Dutzend Vertonungen, in Frankreich wie in Deutschland, auch unter Goethes Mitwirkung. Bis hin zu Thomas Manns Dr. Faustus, dem Tonkünstler, war Goethes Drama eben auch Tonkunst, ergötzendes Klangschauspiel, mit den ausschweifenden Möglichkeiten der Verskunst und den harmonischen Möglichkeiten eines wohltemperierten Systems – und damit also auch mit den Hoffnungen auf eine erlösende Koexistenz von Faust und Helena und allem, was sie an scharfen Kontrasten eigentlich personifizierten.