Читать книгу Faust & Helena - Claudia Schmölders - Страница 9

ERSTES KAPITEL 1749 bis 1832 Der Komet aus der Antike: Johann Joachim Winckelmann. Liebe in Deutschland, Ärger in Preußen, europäischer Kult. Englands Bildungs-Reiselust. Hellas’ ruiniertes Erbe, beschrieben, gezeichnet und entführt. Byron und Goethe, Faust und Helena, ein Vermächtnis.

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Die Szene ist wahrhaft gut bekannt. Ostern 1754 kaufte Elisabeth Goethe auf der jährlichen Frühjahrsmesse in Frankfurt am Main Töpfe und Geschirr für den wachsenden Haushalt; sie war wieder schwanger und brauchte Nachschub. Zuhause erwartete sie Wolfgang, damals etwa viereinhalb Jahre alt. Alsbald nutzte er einen günstigen Moment, um die Brüder Ochsenstein, seine besten Freunde, zu vergnügen. Erst warf er sein eigenes Puppengeschirr aus dem Vorgarten, und dann auf die brüderlichen Rufe nach Mehr den irdenen Vorrat der Mutter. Es krachte ordentlich, aber folgenlos; er wurde nicht bestraft, alle mussten nur lachen. Mehr als 150 Jahre später deutete Sigmund Freud diese Szene aus »Dichtung und Wahrheit« genussvoll. Er sah darin das Muster der Geschwisterrivalität, fand sogar ähnliche Beispiele bei seinen Patienten und bezog Goethes Reaktion auf die kommende Schwester Katharina Elisabeth, die aber nur wenig länger als ein Jahr leben sollte. Das Thema der Geburt und des frühen Todes, überhaupt die Figur des Kindes hat Goethe bekanntlich nie mehr losgelassen; so wenig wie die Hoffnung auf einen Bruder. Von den sieben Kindern der Mutter Goethe überlebte außer Wolfgang nur die begabte Cornelia, eine Art Bruderersatz; aber auch diese Schwester, selbst melancholisch vor Bruderliebe, starb schon mit 26 bei Geburt ihres zweiten Kindes. Ob Goethe später auf der Suche nach Verwandtschaft, und sei es nur einer platonischen, sehnsuchtsvoll in andere Länder geblickt hat? Ob er womöglich den legendären Dichter Lord Byron aus so einer frühkindlichen Prägung heraus geliebt hat, halb wie einen Bruder, halb wie einen Sohn? Byron wurde um 1800 der berühmteste englische Freund der Griechen, trat aber erst spät in Goethes längst philhellenischen Horizont. Und der wiederum wurde maßgeblich für die deutsche Intelligentsia. Seit und mit Goethe war Griechenland in fast allen deutschen Bildungshäusern das meistgeliebte, und mit des Dichters Hilfe geradezu familiär verehrte alte Volk, von dem man abzustammen wünschte, eben Hellas. »Das Land der Griechen mit der Seele suchend«, wie einst Iphigenie am Strand der heutigen Krim, wurde zur historischen Formel der Philhellenen, wenn auch nicht nur in Deutschland. Seit dem Humanismus, seit Beginn der europäischen Aufklärung standen kultivierte Bürger, Dichter, Künstler, Wissenschaftler, Pfarrer und Priester an einem geistigen Meeresstrand, der räumlich wie zeitlich zur Ausfahrt lockte – dies aber in Deutschland seit 1755 mit einem Fahrtenbuch völlig eigener Art. In diesem Jahr erschien ein Manifest mit dem Titel »Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst«, verfasst von einem unbekannten jungen Kunstforscher namens Johann Joachim Winckelmann. Geboren 1717 in der Hansestadt Stendal, Sohn eines Schusters, hoch begabt, wurde er nach und nach von Lehrern und Priestern entdeckt und gefördert. Die Begegnung mit der griechischen Kultur, vor allem in der großen Bibliothek des Grafen Bünau auf Schloß Nöthnitz, entrückte den Jungen in eine ideale Welt, klimatisch, politisch, ästhetisch, sozial. Auch wenn man es ihm zunächst im kargen Preußen und mit harten Arbeitsbedingungen schwer machte, lernte er unter Entbehrungen Griechisch, befreundete sich mit den alten Autoren und studierte, erotisch bezaubert, die Gestalten der hellenischen Bildhauer in Abgüssen und Bildwerken. Hier herrschte das richtige Leben im falschen, und zwar richtig in jeder Hinsicht. Mit diesem Fazit eröffnete Winckelmann apodiktisch gleich seine erste Schrift. »Der gute Geschmack, welcher sich mehr und mehr durch die Welt ausbreitet, hat sich angefangen zuerst unter dem griechischen Himmel zu bilden. Alle Erfindungen fremder Völker kamen gleichsam nur als der erste Same nach Griechenland, und nahmen eine andere Natur und Gestalt an in dem Lande, welches Minerva, sagt man, vor allen Ländern, wegen der gemäßigten Jahreszeiten, die sie hier angetroffen, den Griechen zur Wohnung angewiesen, als ein Land, welches kluge Köpfe hervorbringen würde.«

Das Echo auf diesen Aufruf in der gebildeten Welt war enorm. Ein Jahr später konnte Winckelmann in einer zweiten Auflage, alsbald auch mit Übersetzungen ins Französische und Englische, seine Devise für zukünftige Jahrhunderte wuchtig verbreiten: »Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten.« Mit diesem paradoxen Ehrgeiz – wie konnte man durch Nachahmung unnachahmlich werden? – setzte sich Winckelmann unvermittelt von der bisher dominierenden französischen Kunstdeutung ab. Ähnlich wie Luther nach den originalen Quellen der Bibel, suchte er nach den originalen Kulturvätern der Deutschen, und diese sprachen Griechisch. Was aus Frankreich kam, war nicht wirklich griechisch inspiriert, sondern lateinisch, römisch und christlich. Er aber liebte das Heidentum, mindestens in Form von Kunst. Nur widerwillig, dann aber doch von der eigenen Leidenschaft verführt, wurde Winckelmann schließlich katholisch, um in das Mekka der Ästheten und Sammler nach Rom zu kommen. Rom galt noch Goethes Vater als geistiges Zentrum der Deutschen; und nach Rom reiste sein Sohn fluchtartig in einer Lebenskrise. Hier machte Winckelmann erstaunlich Karriere. 1763 ernannte ihn Papst Clemens XIII. zum Aufseher der sogenannten »Altertümer« sowie zum scrittore der Biblioteca Vaticana; und mit dem Zugang zu ältesten Manuskripten und Werken, im Umgang mit Kardinälen und Künstlern, schrieb er nun an seiner großen Kunstgeschichte, endlich angekommen in einer südlichen, wärmeren und hellenisch kultivierten Weltstadt.

Italien war damals wie heute ein gigantischer Sammelplatz griechischer Kunstwerke, nicht nur auf, sondern auch unter der Erde. Als Fluchtort während der Renaissance, als die Türken 1453 Konstantinopel eroberten und das hellenistische Byzanz unterwarfen, war das Land samt Vatikan zum Hort der antiken Kulturerbschaft geworden. Italien bedeutete Magna Graecia: Großgriechenland; es war der Vorraum aller späteren deutschen Griechenliebhaber, die nicht in das Land selber zu fahren wagten, wie bis zur Wende um 1900 fast alle deutschen Dichter und Denker. Winckelmanns »Geschichte der Kunst des Altertums«, gespeist und gesättigt aus italienischer Anschauung, oft auch aus zweiter Hand, erschien 1764 und war wieder ein Werk mit wuchtig normativem Anspruch: ein Lehrgebäude sollte es sein. Die Idee der Schönheit war definiert, der Horizont festgesetzt, und die Apotheose auf eine Statue des Gottes Apoll eröffnete eine neue Epoche der Kunstbeschreibung. Es war die Prosa eines Liebenden: »Die Statue des Apollo ist das höchste Ideal der Kunst unter allen Werken des Altertums, welche der Zerstörung derselben entgangen sind. Der Künstler derselben hat dieses Werk gänzlich auf das Ideal gebaut, und er hat nur eben so viel von der Materie dazu genommen, als nötig war, seine Absicht auszuführen und sichtbar zu machen. Dieser Apollo übertrifft alle andern Bilder desselben so weit, als der Apollo des Homerus den, welchen die folgenden Dichter malen. Über die Menschheit erhaben ist sein Gewächs, und sein Stand zeugt von der ihn erfüllenden Größe. Ein ewiger Frühling, wie in den glücklichen Elysien, bekleidet die reizende Männlichkeit vollkommener Jahre mit gefälliger Jugend und spielt mit sanften Zärtlichkeiten auf dem stolzen Gebäude seiner Glieder.«

Das Buch begeisterte Winckelmanns Leser mit Beobachtungsfülle, genauer Darstellung und historischer Kenntnis. Es galt und gilt als die erste Kunstgeschichte Deutschlands, wenn nicht Europas. Ein großer Erfolg wurde es nicht zuletzt, weil Winckelmann das Studium der einzelnen Kunstwerke wichtiger nahm als die biographische Kenntnis der Künstler. Statt die griechische Welt als Ruinenstätte zu betrauern, konnte er jede Statue, selbst jeden Torso, der ihn begeisterte, eindringlich, aber zugleich auch präzise beschreiben. Madame de Staël nannte ihn gar einen Physiognomen, weil Statuen unter seinem Blick zum Leben erwachten; dabei machte sein eigener schrecklicher Tod – er wurde 1768 von einem diebischen Hotelgast in Triest erstochen – ihn vor allem tragisch bekannt.

Vielleicht wegen dieses Todes blieb in der Folge berühmter noch als der Apollohymnus die eherne Kunstformel für die antike Statuengruppe namens »Laokoon« von 1755. Sie zeigte in meisterhafter Ausführung einen Vater mit zwei Söhnen um ihr Leben ringen, weil zwei Schlangen sie zu ersticken drohten. Laokoon war der Name eines Priesters in Troja, und der Eindruck, den der Künstler erweckte, verriet Todesmut. So also hieß es im Manifest über die »Nachahmung der Alten«: »Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt und eine stille Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdrucke. So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, ebenso zeigt der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele.«

Meldete sich hier eine stoische Ästhetik – oder waren diese Sätze dem Priester des Poseidon geschuldet? Denn als Diener des Meergottes war Laokoon durch Vergil bekannt; angeblich hatte er die griechische List erkannt, die hinter dem berühmten Trojanischen Pferd steckte, und die Göttin Athene ließ ihn zur Strafe von zwei Schlangen töten. Wie auch immer, die Allegorese im Namen des Poseidon blieb offenbar Winckelmanns Sternbild. »Der erste Anblick schöner Statuen ist bei dem, welcher Empfindung hat, wie die erste Aussicht auf das offene Meer, worin sich unser Blick verliert« mit diesem Aufatmen eines kunstliebenden Deutschen, der sein Paradies gleichsam an einem Strand findet, bahnte Winckelmann eine europäische Kulturrevolution an, ästhetisch, patriotisch, geopolitisch. Das alte Griechenland bedeutete für ihn eben nicht nur schöne Kunst, sondern glückliches Klima, vorbildlich demokratische Verfassung und unerhörte Philosophie. Es war das Land der Träume für jeden, der in einem kalten, zerspaltenen Land unter einem protestantisch versehrten militärischen Regime, einem ungeliebten Deutschland leben musste. Der junge Friedrich Hölderlin, Deutschlands liebster Lyriker, war begeistert, dass Katharina die Große zur Befreiung des griechischen Landes aus türkischer Herrschaft ansetzte, und das nicht nur aus geopolitischer Raison, sondern ausdrücklich auch im Gedenken an das glanzvolle Hellas. Sein Roman »Hyperion« spielte um 1800 vor diesem Hintergrund und gipfelte in einer schneidenden Kritik an seiner eigenen Heimat, wo »eigentlich das Leben schal und sorgenschwer und übervoll von kalter stummer Zwietracht ist, weil sie den Genius verschmähn, der Kraft und Adel in ein menschlich Tun, und Heiterkeit ins Leiden und Lieb und Brüderschaft den Städten und den Häusern bringt.«

Deutschkritisch heftig reagiert und über penible Kritik sich geärgert hatte zuvor schon Herder, der Völkerphilosoph und Winckelmann-Bewunderer in einem Nachruf im »Teutschen Merkur«: »… in der schrecklichen Einöde alter Nachrichten und Geschichte, da Plinius und Pausanius, wie ein paar abgerissene Ufer dastehn, auf denen man weder schwimmen, noch ernten kann; in einer solchen Lage der Sachen rings umher an eine Geschichte der Kunst des Altertums denken, die zugleich Lehrgebäude, keine Trümmer, sondern ein lebendiges, volkreiches Theben von sieben Pforten sei, durch deren jede Hunderte ziehen; gewiß, das konnte kein Kleinigkeitskrämer, kein Krittler an einem Zeh im Staube. Auch hat es Winckelmann in den letzten Jahren seines abgeschnittenen unvollendeten Lebens bitter gefühlt und beklagt, daß sein Vaterland in manchen ihm zutönenden Stimmen sich nach deutscher Weise an die einzelnen kleinen Fehler des Werkes hielt und die Mühe und den Geist des Ganzen verkannte. Aber so ist es in Deutschland und so wird es bleiben.«

Aber so blieb es nicht, ganz im Gegenteil. Ein unseliger »Geist des Ganzen« ergriff rund 150 Jahre später fast die gesamte Nation, auch in ästhetischer Hinsicht total bis ins Groteske. Hitler als grausamer Graekomane bemächtigte sich in Winckelmann ausgerechnet einer Ikone der »Griechenliebe«; homoerotische Neigung übersetzte man in spartanische Körperzucht, vor allem im Umkreis der Olympiade 1936, künstlerisch monumental von Leni Riefenstahl und Arno Breker erfasst, aber im Kern längst auf Kriegstüchtigkeit ausgerichtet. Wegen seiner Kritik am französischen Stil wurde Winckelmann unter Hitler vorbildlich als Franzosenhasser, der einen »wahren Alexanderzug um Reiche der Seele und des Geistes« vollbracht habe, und der einstige Direktor des Deutschen Archäologischen Instituts in Rom, Ludwig Curtius, nannte ihn 1941 bewundernd gar »einen der geistigen Diktatoren Europas«.

In Wahrheit war die Entdeckung der griechischen Welt um 1750 in ganz Europa im Gang. Während Winckelmann seine Träume träumte, schickte die englische Society of Dilettanti Kunstkenner in das wirkliche Land, um genaue Zeichnungen der verfallsbedrohten Kunstwerke anzufertigen. Das mächtige Werk von James Stuart und Nicholas Revett erschien ab 1762 in drei Bänden: »The Antiquities of Athens, measured and delineated« – und zusammen mit den Beschreibungen des mitreisenden Schriftstellers Richard Chandler sowie den Berichten auch parallel aus französischer Hand ließ sich allmählich der antike Klassiker der Landeskunde, Pausanias, nachvollziehen, konnte man griechischen Boden und griechisches Leben en détail erobern.

Wohl keine fremde Kultur ist derart penibel beschrieben worden wie die hellenische, keine fremdsprachige Literatur derart untersucht, angeeignet und geliebt und keine Kunst aus Stein derart imitiert worden wie die des alten Griechenland. Aber natürlich unterschieden sich die Nationen dabei charakteristisch. Während die Deutschen mit Winckelmanns Werk eine Art Evangelium erhielten, dem sie treu bleiben wollten wie ihrem Homer und ihrem Platon, hielten die Engländer sich an die Wirklichkeit: als Reisende und Zeichner, als Kunsthändler und Seemacht, als Räuber und Politiker. Ein englischer Geistlicher gilt als Begründer der modernen griechischen Archäologie. John Potter, Sohn eines Weißwäschers, war ähnlich begabt und von der Antike begeistert wie Winckelmann; sein zweibändiges Meisterwerk »Archaeologia graeca« von 1697/98 hielt sich als englisches Standardwerk bis zu den berühmten »Dictionaries« von William Smith im Jahre 1842. Potter brachte es bis zum Erzbischof von Canterbury; durch die deutsche Übersetzung seines Buches 1775/78 kam der Ausdruck »Archäologie« überhaupt erst nach Deutschland.

Nachrichten über Griechenland aus englischen Quellen hatten, anders als deutsche, gern etwas Abenteuerliches, wenn nicht Skandalöses an sich. Das begann 1786, als Goethe auf seiner Italienreise den britischen Botschafter im Königreich Neapel, William Hamilton, besuchte und den alten Kunstsammler mit einer jungen schönen Mätresse fand; zusammen hatten die beiden eine neue Kunstrichtung erfunden: griechischen Tanz, griechische Kleidung, lebendig ins Werk gesetzt nach den Vorlagen der hellenischen Vasenkunst, die Hamilton durch die Ausgrabungen von Herkulaneum und über den Kunsthandel in sein Haus brachte. Später verkaufte er seine große Sammlung dem Britischen Museum. Seine junge Frau Emma Hart, aus ärmlichsten Liverpooler Verhältnissen, machte mit Anmut und Geschick steile Karriere, nicht nur als Botschaftergattin, sondern um 1800 auch als Geliebte des Admirals Lord Nelson, zum Schrecken der hohen Gesellschaft diesseits und jenseits des Ärmelkanals. Europaweit umstritten war auch Lord Elgin, um 1800 Botschafter im osmanischen Athen, der große hellenische Architekturen kopieren, vor allem aber auch demontieren ließ. In einem Vertrag mit der türkischen Regierung, der sogenannten »Hohen Pforte«, ließ er sich bescheinigen, dass er nicht nur Abgüsse aus Gips herstellen, sondern sogar originale Stücke abnehmen konnte; schließlich dürfe man herrliche Kunst wie diese nicht verfallen lassen. Elgin barg oder nahm sich mehr als die Hälfte des berühmten Frieses aus dem Athener Parthenon, in dem der größte hellenische Bildhauer Phidias und seine Schüler die Schlacht bei Marathon unerhört modelliert hatten. Elgin verschiffte die Sammlung zusammen mit vielen anderen wertvollen Stücken 1803 nach England; aber wie unter göttlichem Zorn verschwand die Ladung bei einem Schiffbruch teilweise im Meer. Erst nach dreijähriger Arbeit und unter astronomischen Kosten konnten Taucher die Kunstwerke bergen. 1812 landeten schließlich achtzig Kisten mit den sogenannten »Elgin Marbles« in London. Erst vier Jahre später, nach umständlichen Verhandlungen, konnte der Lord sie endlich für 35.000 Pfund Sterling an das Britische Museum verkaufen; die Summe deckte angeblich nur die Hälfte der eigenen Kosten.

Der ganze Vorgang war unerhört. Während Lord Elgin die hellenische Welt partikelweise ins Europa der Christen brachte und damit ein Stück handgreifliche griechische Realität, wurde seine Transaktion heftig kritisiert. Man hielt ihn für einen Räuber; er hatte der griechischen Kultur ein zentrales, wenn nicht das wichtigste Zeugnis einstiger Größe zerstört. Scharfe Worte fand damals auch der skandalumwitterte Dandy Lord Byron, der Griechenfreund, Goetheverehrer und Dichter, dessen Versepos »Childe Harold’s Pilgrimage« im selben Jahr 1812 in zwei Gesängen erschienen war. Es war das romantisch verzweifelte Selbstporträt eines Reisenden ins Osmanische Reich, der natürlich auch bis zum Athener Parthenon kam und Klage erheben konnte.

Auch Goethe, der begeisterte Philhellene, hatte inzwischen mit einer Art Trauerarbeit begonnen. Mit seiner Anthologie über »Winckelmann und sein Jahrhundert« (1805) erinnerte er noch einmal an die grundstürzende Sehnsucht und die Leistungen dieses Kunstphilosophen. Das Buch wurde ein tiefgehender Abschied vom Griechentraum, denn im selben Jahr 1805 starb auch sein Freund Schiller, der mit ihm zusammen so vielfach der Antike gehuldigt hatte. Schon 1788, im Jahr der »Iphigenie«, hatte Schiller das erste ernüchterte Poem über die »Götter Griechenlands« verfasst: »Ausgestorben trauert das Gefilde, Keine Gottheit zeigt sich meinem Blick, Ach, von jenem lebenswarmen Bilde Blieb nur das Gerippe mir zurück«. Gemeint war damit aber nicht die ausgestorbene Kunstszene, sondern die rabiate Vertreibung der heidnischen Götter des Polytheismus durch den einen und einzigen Gott des Christentums. Schiller erntete Kritik und lieferte noch im letzten Lebensjahr eine weniger unchristliche Fassung: Die Pflege des entleerten Himmels war nun Sache der Poesie. Trauerarbeit leistete zur selben Zeit auch Wilhelm von Humboldt, damals Botschafter in der ruinenübersäten Hauptstadt Italiens. 1804 schrieb er an Goethe einen verdeckten Kommentar auf Lord Elgins Aktion: »Aber es ist auch nur eine Täuschung, wenn wir selbst Bewohner Athens oder Roms zu sein wünschten. Nur aus der Ferne, nur von allem Gemeinen getrennt, nur als vergangen muß das Altertum uns erscheinen. Es geht damit wie wenigstens mir und einem Freunde mit den Ruinen: wir haben immer einen Ärger, wenn man eine halb versunkene ausgräbt; es kann höchstens ein Gewinn für die Gelehrsamkeit auf Kosten der Phantasie sein.«

Goethe hatte die Botschaft verstanden; nach Schillers Tod kam er zurück in die deutsche Gegenwart. Fast vierzig Jahre trennten ihn nun von Winckelmann, dem bewunderten, ja geliebten Kunstlehrer von einst, und es waren dramatische, hochpolitische Jahre gewesen. Hinter ihm lag die Französische Revolution, die er hasste, und der Aufstieg Napoleons, den er bewunderte. Im Jahr seiner denkwürdigen Begegnung mit dem französischen Kaiser erschien endlich das deutscheste Werk der deutschen Literatur, »Faust I«, im Druck: es war dieser Faust, seit 1775 als »Urfaust« bekannt, dann weitergeführt als »Faust. Ein Fragment« und als solches 1790 erstmals veröffentlicht. Nun also 1808 »Faust I« zum Abschluss der Werkausgabe beim Verleger Cotta gedruckt: keine Iphigenie mehr und kein Prometheus, sondern sehr zeitgenössisch eine Figur, die Goethe angeblich aus einem Mainzer Puppenspiel kannte, das ihn als Kind so begeistert hatte; nun also ein Mann als Heiratsschwindler und Mörder, ohne weiteren philhellenischen Glanz, dazu ein satanisches Abkommen und die Tragödie einer jungen Frau, verführt, zum Wahnsinn getrieben und schließlich als Kindsmörderin hingerichtet, wenn auch von einem christlichen Gott erlöst.

Lord Byron kannte und verfolgte Goethes Ruhm, konnte aber kein Deutsch und also erst einmal nichts original lesen. Er ließ sich berichten und spiegelte schließlich die Faustgeschichte auf seine Art in dem Versepos »Manfred. A Dramatic Poem« von 1817. Goethe war begeistert. Zwar hatte er schon vorher Gedichte von Byron gelesen, auch ansatzweise übersetzt; aber nun verfolgte er nahezu unaufhörlich das Werk des Jüngeren und notierte monatlich im Tagebuch seine Lektüren bis ins Todesjahr. »Manfred«, ein schuldbeladener, schwermütiger Wanderer in den Schweizer Alpen, der nach Vergessen sucht, zaubert wie Faust Geister heran, aber es sind Naturgeister, die sich nicht materialisieren wollen, allenfalls alle zusammen in einer herrlichen Frau. Sie erscheint, Manfred will sie umarmen, doch sie entschwindet. Das Leiden beginnt. Das Muster einer immer wieder seltsam misslingenden Liebe zu einem blendenden Phantom, bisher nur in der Volksliteratur, in Sagen und in Märchen zuhause, war in der hohen Literatur in England und in Deutschland angekommen.

Der britische Dichter lieferte damals ein Paradestück zur sogenannten schwarzen Romantik. Die Mischung aus Okkultismus, moralischer Selbstqual und individueller Hybris inspirierte selbst Goethe, den Feind aller romantischen Poesie. Und doch dauerte es noch zehn Jahre, bevor er ein Bruchstück seiner Fortsetzung des Dramas zu Faust II unter dem Titel »Helena. Klassisch-romantische Phantasmagorie« (1827) als »Zwischenspiel zu Faust« öffentlich machte. Auch hier gab es nun die Frau als hinreißendes Phantom, als griechische Erscheinung, ja sogar als Erscheinung Griechenlands in begehrenswerter klassischer Gestalt; nicht als teuflisches Blendwerk wie im altdeutschen Puppenspiel. Diese Helena würde schließlich die Figur eines gemarterten Gretchens und aller umgebenden Schuld vergessen lassen; und doch gehörten sie beide zusammen wie die Gesichter einer Herme. Oder womöglich nicht? Wer sich in der griechischen Mythologie auskannte wie der Dichter und viele seiner Leser auch, wusste natürlich zugleich, dass man mit dieser Figur eine sagenhaft schillernde Überlieferung bekam, ein episches Delta, eine personifizierte Verflechtung von Narrationen, die dem Dichter jederzeit Abweichungen und Ausflüge erlauben würde.

Die Arbeit an dem Phantom dauerte lange, der alte Goethe empfand es selber so. Aber sie endete bedeutungsschwer im Jahr der Befreiung Griechenlands, drei Jahre nach Byrons Tod in dieser Mission, 1827. »Wie ich im Stillen langmütig einhergehe werden Sie an der dreitausendjährigen Helena sehen, der ich nun auch schon sechzig Jahre nachschleiche, um ihr einigermaßen etwas abzugewinnen«, schrieb Goethe dem Freund Nees von Esenbeck, einem Meteorologen. Dabei handelte es sich bei seinen neuen Versen um eine ganz aktuelle Liebeserklärung an Byron, den mit Goethes Sohn August fast gleichaltrigen Freiheitskämpfer, der nun im Stück in Gestalt eines Kindes von Faust und Helena erschien: ein Euphorion als leuchtend, flirrend übermütiges Geschöpf mit einem frühen Tod.

Byron selbst hatte diesen Tod in Wirklichkeit auch gesucht; denn er hatte kein allegorisches, sondern ein völlig realistisches Bild von Griechenland. Anders als Goethe engagierte er sich schon früh im Freiheitskampf aus dem Geist von Katharina der Großen. 1823 brach er mit einem gemieteten Schiff namens Hercules von Genua auf, um den aufständischen Griechen beizustehen, die ihren Krieg dann doch erst vier Jahre später unter großen Opfern und mit Hilfe der europäischen Nationen gewinnen konnten. Byron starb bald nach seiner Ankunft 1824 in Missolonghi, dem Hafen einer entscheidenden Schlacht, nicht als Heldenkämpfer, sondern am Fieber. Die Griechen betrauerten ihn außerordentlich. Nicht nur bestattete man sein Herz in Missolonghi und setzte ihm ein Denkmal, der griechische Nationalpoet Dionysios Solomos verfasste sogar ein Gedicht auf ihn, Söhne wurden namentlich nach ihm benannt und selbst eine Stadt nahe Athen. Seine letzte und einzige unmittelbare Botschaft an Goethe war ein ergreifender Dankesbrief vom 23. Juli 1823:

»Erlauchter Herr – Ich kann Ihnen nicht gebührend für die Zeilen danken, die mein junger Freund Sterling mir von Ihnen übersandte, und es würde mir schlecht anstehen, Verse zu tauschen mit dem, der seit fünfzig Jahren der unbestrittene Herrscher über die europäische Literatur ist. – Sie müssen daher meinen aufrichtigen Dank in Prosa annehmen – und noch dazu in eiliger Prosa – denn ich bin wieder einmal auf einer Reise nach Griechenland – und umgeben von Hast und Unruhe, die kaum einen Augenblick selbst der Dankbarkeit und Bewunderung gestatten – Ich segelte vor einigen Tagen von Genua ab – wurde durch widrige Winde zurückgetrieben – bin dann wieder in See gestochen – und traf heute früh hier in (Livorno) ein, um einige griechische Passagiere für ihr im Kampf befindliches Land an Bord zu nehmen. – Hier auch fand ich Ihre Zeilen und Mr. Sterlings Brief vor – und kein günstigeres Omen und keine angenehmere Überraschung hätten mir zuteil werden können als ein Wort von Goethe, geschrieben von seiner eigenen Hand. – Ich kehre nach Griechenland zurück, um zu sehen, ob ich dort nicht irgendwie nützlich sein kann; – wenn ich jemals wiederkommen sollte, will ich Weimar einen Besuch abstatten, um die aufrichtige Huldigung eines Ihrer vielen Millionen Bewunderer darzubringen. Ich habe die Ehre, stets und ergebenst zu sein,

Ew. dankbarer Bew[underer] und D[iener]

Noel Byron«

Eine deutsch-englische Wahlverwandtschaft im Faustgebiet hatte es freilich schon lange zuvor gegeben, wenn auch nie so innig wie zwischen Goethe und Byron. Seit 1600 reisten englische Comedians mit einem Faustspiel durch die Lande, auch durch die deutschen; denn seit 1587 gab es das deutsche Volksbuch mit der »Historia von J. Fausten dem weit beschreyten Zauberer«, gedruckt zu Frankfurt am Main von einem Johan Spies. Zwei Jahre später erschien die »Tragical History of Doktor Faustus« des englischen Autors Christopher Marlowe, ins Deutsche übersetzt allerdings erst 1818 von Wilhelm Müller, einem der bekanntesten Philhellenen seiner Zeit, ein Dichter, der nicht nur Franz Schubert zu seinen Liederzyklen »Die schöne Müllerin« und »Die Winterreise« inspirierte, sondern auch zahllose Lieder für die Freiheitsbewegung schrieb und als »Griechenmüller« bekannt wurde. Goethe hat Marlowes Stück angeblich erst durch Müller kennengelernt; er selbst berief sich immer auf das Puppenspiel seiner Frankfurter Kinderzeit, »wo Faust in seinem herrischen Übermut durch Mephistopheles den Besitz der schönen Helena von Griechenland verlangt«. In beiden Versionen wird Faust für seinen Pakt mit Mephisto bitter bestraft und muss zur Hölle fahren; zur Urform gehören aber auch Faust und Helena als Eltern mit einem Sohn namens Justus, der früh stirbt oder verschwindet, wie dann auch Goethes Euphorion.

Als Goethe von Marlowe hörte, hatte es einen Faust für fromme Bürger schon länger auf deutschen Bühnen gegeben, nur stammte er nicht von Goethe, sondern vom theatererfahrenen August Klingemann, der das Stück im Hoftheater Braunschweig noch vor Goethes Tod zur Aufführung bringen sollte. Als Mitglied einer Theatertruppe nahm sich Klingemann Freiheiten heraus; er sah Faust zwischen einer Ehefrau Käthe und einer teuflisch maskierten Helena zerrieben. Die Uraufführung 1811 in Breslau mit Ludwig Devrient als Mephisto hatte europaweiten Erfolg. Offenbar war es ein Reißer geworden; farbig, grotesk und bombastisch. In London sah ihn auch einer der größten Goetheverehrer Englands, der historische Schriftsteller und Essayist Thomas Carlyle. Er hatte eigens Deutsch gelernt, aus Zuneigung zu den deutschen Denkern, vor allem zu Fichte. In Byrons Todesjahr sandte er Goethe seine Übersetzung von »Wilhelm Meisters Lehrjahre« und begann eine jahrelange Korrespondenz mit dem alten Dichter. Carlyle spielte damals für die deutsche Literatur eine ähnliche Rolle für England wie Madame de Staël für Frankreich, deren Essay »Über Deutschland« von 1813 ein ganzes Kapitel hingerissener Faustlektüre enthielt. Carlyle, von ihr angeregt, besprach und lobte alle möglichen zeitgenössischen deutschen Autoren. Mit größter Hochachtung schrieb er sogar eine Biographie über Schiller, und »Faust I« wie auch die Helena-Phantasmagorie wurden eingehend von ihm gewürdigt.

Goethe starb 1832. Nach seinem erklärten Willen erschien der zweite Teil des Faust, also »Faust II«, erst nach seinem Tode im Druck. Aufgeführt wurde er sogar erst 1856, nach dem Tod seines Gesprächsbruders Eckermann, der bis dahin als Treuhänder des Werkes galt. Goethes letzte Regieanweisung lautete: »Helenes Gewande lösen sich in Wolken auf, umgeben Faust, heben ihn in die Höhe und ziehen mit ihm vorüber.« Diese Helena ist nicht nur keine Hexe, sondern rettet im Gegenteil Faust vor der Verdammnis. In Englands frommer Gesellschaft wurde das immer wieder getadelt. Sollte die griechische Helena mit Faust womöglich die Deutschen retten – und wenn ja: wovor? Entrückung und Versöhnung gelingen hier jedenfalls im Zeichen der Meteorologie, der sich Goethe zum Ende seines Lebens widmete. In einem früheren Entwurf hieß es wahrhaft himmlisch: »Die Wolke steigt halb als Helena nach Süd-Osten halb als Gretchen nach Nordwesten.«

Faust & Helena

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