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Eine neue Texttradition: das Chanson des 20. Jahrhunderts

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Paolo Zedda (1995) betont ausdrücklich die Eigenheiten des französischen Chansons: „Le chant français est un chant d’articulation!“ Der französische Gesang beruht auf der Artikulation, und das heißt vor allem, auf der deutlichen Aussprache der Konsonanten. Die große Ähnlichkeit der beiden vokalen Ausdrucksarten, Sprache und Gesang, wird dabei in anderen Bereichen als dem des Operngesangs fruchtbar eingesetzt. Besonders im Chanson après guerre ist diese Verbindung dadurch gekennzeichnet, dass die Musik im Dienste der Aussage des Textes steht. Laut Herbert Schneider (2016) zielen die Chansonsänger und Sängerinnen in der Regel auf „eine möglichst enge Zusammenführung des sprachlichen und des musikalischen Elements [ab], sodass sich eine Symbiose ergibt. Die Einheit von Text und Musik ist die beste Garantie für seinen Erfolg.“ Mit wenigen Ausnahmen verwenden die Sänger und Sängerinnen keine literarischen Gedichte, sondern bevorzugen in einem familiären Sprechstil geschriebene Texte (Rey et al., 2007: 418-419).

Textverständlichkeit wird durch die Komposition selbst, aber auch durch die Stimmbehandlung garantiert. Die Übergänge vom Singen zum Sprechgesang werden nunmehr häufig als Ausdrucksmittel genutzt. Stellenweise sind diese Übergänge so fließend, dass die Unterscheidung, ob es sich um die Sprech- oder die Gesangsstimme handelt, nicht einfach ist (vgl. Kapitel 1, Tabelle 1). Céline Chabot-CanetChabot-Canet, Céline (2008: 129) konnte anhand einer Studie von 27 langen Chansons Léo FerréFerré, Léos1 die Bedeutung der Verwendung der Sprechstimme und der Übergangsregister zeigen: In Chansons mit einer Länge von 10 bis 15 Minuten sind im Durchschnitt nur gut 10 %2 wirklich gesungen. Bei ca. 25 % ist hauptsächlich die Gesangsstimme verwendet, mindestens eine Strophe (oder mehr) ist allerdings gesprochen. Weitere 25 % verwenden beide Stimmen gleichberechtigt und knapp 40 % sind sogar ausschließlich gesprochen.3

Die Arbeitsweise Léo FerréFerré, Léos, wie er sie in einem Interview 1975 in der Radiosendung Grand Echiquier anreißt, erinnert übrigens stark an diejenige Lullys: „Man muss improvisieren, es muss von alleine in die Tasten kommen, die Hände müssen im selben Augenblick sprechen, da die Augen die Poesie lesen.“4

Der Wechsel zwischen verschiedenen Arten stimmlicher Äußerung erlaubt eine Vervielfachung klanglicher Effekte. Chabot-CanetChabot-Canet, Céline (2008: 131) konstatiert für Léo FerréFerré, Léo die hauptsächliche Verwendung der Sprechstimme für polemische Themen und diejenige der Gesangsstimme für affektive, zärtliche, traurige oder melancholische Inhalte. Die Sprechstimme erlaubt in besonderer Weise eine differenzierte Aussprache der Konsonanten mittels Hervorhebung oder Nivellierung ihrer akustischen Eigenschaften (Stimmhaftigkeit, Timing der Okklusion, Affrikation oder Friktion…). Die im Gesang bevorzugte regelmäßige Melodiekurve weckt die Erinnerung an zärtlich gesprochene Worte. Hauchen, Flüstern und Schreien geben, so Chabot-CanetChabot-Canet, Céline (2008), ein zusätzliches dynamisches Register, aber sobald sich ein skandierter, an einen stark akzentuierten Gedichtvortrag erinnernder Rhythmus einstellt, ist der Übergang zu musikalischen Deklamationsformen erreicht.

Die Musik der Sprache

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