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6. BILD

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Kaum hat es sich der Mann mit Liegestuhl im warmen Lichtspot unmittelbar neben der blinkenden Baustelle gemütlich gemacht, höre ich ein Schlurfen. Durch das Dunkel nähern sich Schritte. Leises Murmeln setzt ein, und noch ehe ich dem beschwörenden Ton verfallen könnte, ist es wieder still.

Am Rand des Lichtkegels steht ein alter Mann. Er trägt Arbeitskittel und Wissenschaftskoffer. Konzentriert „hm-end“ und „oh-end“ beginnt er, den Kreisumfang entlangzugehen, immer weiter und weiter und weiter. Das nervt den umkreisten Mann im Liegestuhl. Deshalb schimpft dieser auch, bittet den Alten, sein Kreisen auf der Stelle einzustellen. Aber der Alte sieht und hört ihn nicht, als wäre er nicht anwesend. Da kann der Mann in seinem Liegestuhl noch so toben und schreien.

Dafür hört er das blinkende Licht an der Baustelle. Ich höre es auch, bezweifle aber, dass es tatsächlich das Licht ist. Die Stimme ist überall. Dieselbe Stimme, die vorhin auf mein Goethe-Zitat geantwortet hat, ruft dem Alten zu:

„Transcendere, mein Sohn, transcendere.“

Und so zieht der alte Mann mit einigen weiteren „Ohs“ und „Hms“ seine Gerätschaften aus dem Wissenschaftskoffer. Sein Sternrohr legt er behutsam auf die Seite, mit dem Lineal vermisst er grübelnd den mehrmals abgegangenen Kreis und blickt sich schließlich nach allen Himmelsrichtungen um.

Dann holt er eine Trillerpfeife aus seinem Koffer, atmet tief ein und tiriliert:

„Da ins Zentrum kommt der Markt, und jede Straße führt schnurstracks vom Mittelpunkt geradeaus nach allen Winden.“

Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet. Zum Markt wollte ich aber ohnehin.

„Wie praktisch“, denke ich und beiße in meinen Gedanken schon in einen saftigen Apfel.

Sofort durchtappen die vielen emsigen Schritte des Bautrupps das Dunkel. Unter der Führung des Bauleiters tragen die Blaumänner eine Glasscheibe, die auf Anweisung des alten Vermessers direkt vor dem Mann im Liegestuhl aufgestellt wird.

Der Mann liegt mit einem Mal nicht mehr nur in seinem Liegestuhl im Lichtspot, sondern außerdem hinter der gerade aufgestellten Glasscheibe, die durch seine Anwesenheit dahinter sofort zum Schaufenster wird. Er liegt also in der Auslage, dort, wo alle ihn sehen können, na ja, fast alle, denn der Alte sieht ihn immer noch nicht. Für mich, den Bauleiter und seinen Trupp ist der Mann nun ausgestellt, fast nackt.

„Was für ein Albtraum“, denke ich. „Da hilft auch kein gestreifter Liegestuhl.“

Kaum gedacht, fährt der Mann aus diesem hoch und klopft verärgert an die Scheibe, laut, wieder und wieder.

Der Bauleiter wirft einen belustigten Blick in die Auslage, bevor er dem Bautrupp auf Wunsch des Alten den Aufbau zweier rechtwinklig aufeinandertreffender Straßen befiehlt. Dann schnappt er sich den Lichtspot und hängt ihn als kreisrunde Sonne hoch oben ans Firmament.

Ich trete aus der schmalen Gasse in die taghelle Szenerie.

Die Blaumänner arbeiten fleißig.

Der Alte läuft aufgeregt durch das Bild, immer wieder an mir vorüber.

Ich schaue zu, wie das Schaufenster in die zweistöckige Fassade eines – den rechten Winkel bestimmenden – Eckhauses integriert wird, das nunmehr den linken Abschluss der Straße bildet. Rechts neben dem Schaufenster wird eine Glastür in die Fassade eingehängt, über dem Schaufenster eine knappe Markise und über dem Eingang ein Schild montiert: Schauraum Am Eck.

Daran anschließend zieht der Bautrupp rechter Hand eine Häuserzeile hoch, allesamt eher niedrige, aber durchaus pittoreske Fassaden, die nach einigen Metern aus dem rechten Bildrand hinauslaufen. Der Häuserzeile entlang verläuft ein schmaler Gehsteig.

Eine ähnliche Ansicht bietet die gegenüberliegende Häuserzeile. Statt eines Schauraums richten die Blaumänner im Eckhaus ein kleines Straßencafé ein: Runde Bistrotische mit einzelnen Blumen in improvisierten Gefäßen und gemütliche Korbstühle sorgen für ein beschauliches Ambiente und laden mich zum Verweilen ein.

Ich setze mich und beobachte weiterhin das emsige Treiben.

Gerade bepflastert der Bautrupp die Fahrbahn und beschildert das Straßeneck mit dem rot-weiß-roten Einbahnrund. Sehr zu meiner Freude ist auch das sichtstörende Parken in dieser schaubaren Gasse verboten. Ich kann also ungestörten Blicks den Mann in der Auslage auf der gegenüberliegenden Straßenseite beobachten.

Der Alte überprüft mit seinem Lineal den rechten Winkel dieser Gasse mit der im Bild links nur kurz angedeuteten zweispurigen Querstraße.

Ich bestelle bei der freundlichen Bedienung einen Kaffee, überprüfe, ob ich noch genug Geld eingesteckt habe, denn eigentlich wollte ich vor dem Markt noch welches abheben, und als ich beruhigt wieder hochschaue, überprüft der Bauleiter gerade die Sicherheit der Baustelle, die im Bild am Straßeneck links neben dem Schauraum eingebaut wurde und mit ihrem einem mal einem Meter die rechtwinklig angelegten Gehsteigkanten säumt.

An der Baustelle blinkt weiterhin das Licht. Drumherum sammelt sich langsam der Trupp und trippelt schließlich geschlossen unter der Führung des Bauleiters die Querstraße hinauf aus meinem Blickfeld.

Der Alte betrachtet zufrieden sein Werk und freut sich, hier, an dieser Stelle, den Anstoß gegeben zu haben. Mit einem Blick auf das Licht versichert er sich dessen Zustimmung. Dann geht er mitsamt seinem Wissenschaftskoffer die Gasse hinunter und verschwindet bald aus dem Bild.

Eingerahmt und ausgestellt schaut der Mann nun durch das Schaufenster des Schauraums in die Gasse hinaus, zu mir herüber ins Café.

Ich winke ihm freundlich, doch er zeigt mir nur die kalte Schulter und versucht, es sich erneut in seinem Liegestuhl gemütlich zu machen.

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