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2.2 Konzepte der Politik versus Konzepte der politischen Bildung

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Das GPJE-Kompetenzmodell aus dem Jahr 2004 (siehe Abbildung 1) war ein Konsensmodell, allerdings ging der Konsens auf Kosten der Differenziertheit. Daher war zu erwarten, dass sich vor allem bei der konkreten Ausgestaltung von Kompetenzbereichen – insbesondere beim Fachwissen – Gräben von unterschiedlicher Tiefe auftun würden. Seit der GPJE-Tagung 2006 versuchte man zunächst, einen Minimalkonsens hinsichtlich des fachlichen Kerns der politischen Bildung zu finden, doch seither sind vor allem zwei Autorengruppen mit höchst unterschiedlichen Positionen – und dies nicht nur in Bezug auf den Bereich des Wissens – in den Vordergrund der politikdidaktischen Diskussion gerückt: 2010 präsentierten vier Autoren und eine Autorin1 ein Konzeptmodell politischer Bildung, das sie in der Schrift «Konzepte der Politik – ein Kompetenzmodell» (Weißeno et al. 2010) veröffentlichten. Diese Publikation löste eine heftige Reaktion von zwei Autorinnen und vier Autoren2 aus. In der Streitschrift «Konzepte der politischen Bildung» stellen sie dem Wissensmodell von Weißeno et al. ein offenes Modell von sechs Basiskonzepten entgegen (zur Kontroverse siehe auch Henkenborg 2012; Goll 2013; Meyer 2013; Fröhlich 2014; Oeftering 2014).

In «Konzepte der Politik – ein Kompetenzmodell» steht die Frage des Fachwissens im Zentrum. Obwohl «das Wissen nicht die einzige Kompetenzdimension der Politikkompetenz» (S. 17) ist, spielt es für die politische Bildung eine zentrale Rolle, denn sowohl Meinungen wie auch Beteiligung setzen Wissen voraus (S. 7). Daraus ergibt sich die Notwendigkeit der Bestimmung von content standards als Lerninhalte für den Unterricht. Ausgehend von einem engen Politikbegriff wird ein Kompetenzmodell des Fachwissens vorgestellt, das sich in Basis- und Fachkonzepte aufgliedert (siehe Abbildung 6). Nach dieser aus den Fachdidaktiken der Naturwissenschaften übernommenen «Struktur zur Systematisierung der in der Schule zu erwerbenden Konzepte» (S. 11) sind Basiskonzepte «zentrale Prinzipien beziehungsweise Paradigmen der Domäne, also Grundvorstellungen des jeweiligen Fachs. Sie repräsentieren das Spezifische einer Domäne für den Unterricht» (S. 48). Basiskonzepte müssen durch Fachkonzepte weiter ausdifferenziert werden. Diese, so argumentieren die Autoren in Anlehnung an Anderson (2001) weiter, ermöglichen das Abrufen von bedeutungs- und wahrnehmungsbezogenem Wissen.

Die Inhalte des Modells (siehe Abbildung 6) kommen alle aus der Domäne Politik:


Abbildung 6: Kompetenzmodell des Fachwissens (Weißeno et al. 2010, S. 12)

Lernpsychologisch orientiert sich das Modell am Verständnis von literacy als ein Stufenkonzept für die Politikkompetenz. Danach umfasst civic literacy vier Stufen (S. 19):

1.Politische Themen, Namen und Wörter werden gewusst, aber falsch verstanden.

2.Begriffe werden korrekt verwendet und Faktenwissen ist vorhanden.

3.Zentrale politische Konzepte und die Bedeutung politischer Verfahren werden verstanden, und es können Beziehungen zwischen Fakten, Begriffen und Prinzipien hergestellt werden.

4.Es besteht ein Verständnis der Besonderheiten politischen Denkens, und wirtschaftliche, soziale und kulturelle Zusammenhänge können eingeordnet werden.

Das Stufenkonzept findet jedoch noch in anderer Form Eingang in das Modell: In der Konkretisierung der einzelnen Fachkonzepte werden für die einzelnen Altersstufen «konstituierende Begriffe» definiert. Für das Fachkonzept Öffentlichkeit zum Beispiel sind dies (S. 132):

•Primarstufe: Zugang (Öffentlichkeit), Partizipation, Privatheit

•Sekundarstufe I: Kommunikation, Diskurs, öffentliche Meinung, Transparenz, Offenheit, Medien, Geschlechtergerechtigkeit

•Sekundarstufe II: Verrechtlichung

Des Weiteren werden zu allen Fachkonzepten Fehlkonzepte aufgeführt und erläutert.

Die herausragende Bedeutung von Wissen aus der Sicht der Autorinnen und Autoren zeigt sich auch in deren Verständnis des Wissenserwerbs. Das lernende Subjekt konstruiert sich ein Netzwerk von Konzepten, wobei diese Konzepte (bzw. Begriffe) als «kognitive Wissenseinheiten, als Vorstellungskomplexe und Wertungen über zentrale Merkmale von Dingen oder Phänomenen» (S. 21) verstanden werden können. Insofern verändern sich Konzepte ständig, und zwar sowohl im historischen Prozess als auch beim individuellen Wissenserwerb.

2012 betteten vier der fünf Autoren ihr Kompetenzmodell des Fachwissens in ein umfassendes Politikkompetenzmodell ein (Detjen et al., 2012), das sich aus den Kompetenzdimensionen Fachwissen, politische Urteilsfähigkeit, politische Handlungsfähigkeit sowie politische Einstellungen und Motivationen zusammensetzt.

Die Streitschrift «Sozialwissenschaftliche Basiskonzepte als Leitideen der politischen Bildung – Perspektiven für Wissenschaft und Praxis» der Autorengruppe Fachdidaktik (2011) kontrastiert die theoretischen Annahmen des Kompetenzmodells des Fachwissens (im Folgenden als KF abgekürzt) mit ihren eigenen theoretischen Annahmen (S. 163–168):

Das KF verkürzt den GPJE-Entwurf (siehe S. 11) einerseits auf die kognitive Politikkompetenz und vernachlässigt damit die Handlungskompetenz. Anderseits reduziert das Modell die Kompetenzentwicklung auf das Lernen von Begriffen beziehungsweise Konzepten.

Die ausschliesslich politische Perspektive des KF erzeugt keine civic literacy, sondern höchstens eine political science literacy, schliesst sie doch die breite sozialwissenschaftliche Perspektive aus. Dazu gehören nach Ansicht der Autorengruppe Fachdidaktik neben der Politik noch die Gegenstandsbereiche Gesellschaft, Wirtschaft und Recht mit den Inhaltsbereichen Individuum und Gesellschaft, Demokratie, Recht und Rechtsprechung, Internationale Beziehungen und Globalisierung sowie Markt und Wirtschaftsordnung. Damit wird auch das Politikverständnis der Autoren des KF kritisiert, das politische Bildung auf den Staat und die Herstellung von Ordnung reduziere, vielmehr solle sie sich an einem «umfassenden Politikbegriff orientieren, der fundamentale lebensweltliche und gesellschaftliche Zugänge explizit erschliesst» (S. 165).

Das KF fällt in längst vergangene Zeiten der Instruktionsdidaktik zurück, da weder Interaktion zwischen den Lernenden vorkommt noch Aushandlung von Bedeutung stattfindet und Identitätsbezüge ausgeblendet werden. «In den klassischen politikdidaktischen Konzeptionen [hingegen] ist Didaktik inwendig bereits integrales Element der Bewegung der Sache selbst. Die Verfahren der Demokratie tragen eine Motivation in sich, sie haben eine ursprünglich eingeschriebene Vermittlungsleistung» (S. 166).

Auch wenn sie Begriffe wie Konzeptorientierung, Netzwerk und Kompetenz aufnehmen, haben die Autoren des KF ein extrem verkürztes Verständnis von Konzepten als eindeutig definierbaren Begriffen, und entsprechend werden Fehlkonzeptionen als zu korrigierende Fehler bestimmt. Politische Bildung verkommt somit zur Stoffvermittlung. Im Zentrum der politischen Bildung stehen jedoch «die Bedürfnisse und Erfahrungen, die individuellen Konzepte und Deutungsmuster, die subjektiven Lernthemen und Lernauffassungen, die Schülerinnen und Schüler in ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema politischer Bildung selbst hervorbringen» (S. 168).


Abbildung 7: Sechs Basiskonzepte als Leitideen der politischen Bildung und ausgewählte Teilkonzepte bzw. Teilkategorien (Autorengruppe Fachdidaktik 2011, S. 170)

Die Autorengruppe Fachdidaktik stellt dem hermetischen Kompetenzmodell Fachwissen Basiskonzepte beziehungsweise Leitideen entgegen, die als «Orientierungshilfen für die multiplen sozialwissenschaftlichen Bezüge des Politischen» (S. 169) genutzt werden können. Die Zusammenstellung der sieben Basiskonzepte (siehe Abbildung 7) hat laut Autorengruppe Werkstattcharakter und soll als kontextübergreifende Formulierung verstanden werden, die gleichsam den interdisziplinären Blick verschiedener sozialwissenschaftlicher Zugänge ermöglicht.

Kürzlich publizierte die Autorengruppe Fachdidaktik (2015) einen Leitfaden für den sozialwissenschaftlichen Unterricht, in dem sie ihre Vorstellungen von guter politischer Bildung konkretisiert. Einleitend wird unmissverständlich festgehalten, dass Mündigkeit als «allgemein anerkannte Zielformel» (S. 13) der politischen Bildung gelten soll, wobei ein radikales Verständnis von Mündigkeit Abstand nehmen müsse von normativen Wahrheitsansprüchen auch bezüglich Demokratie und Marktwirtschaft (S. 15). Demzufolge sei der Politikunterricht kein Paukfach, sondern ein Denkfach, bei dem es im «Kern um die Aktivierung und Transformation der Wissensbestände von Schülerinnen und Schülern» (S. 61) gehe. Im Kapitel zum Wissen im Politikunterricht (S. 91–105) wird dann gleichzeitig vor der Wissensfalle und der Meinungsfalle gewarnt. Dabei wird einerseits die Fähigkeit zur Informationsverarbeitung als selbstverständliches Ziel der politischen Bildung bezeichnet und anderseits die Anhäufung von Einzelinformationen, was die Autorengruppe offenbar als klassischen Wissensaufbau versteht, abgelehnt. Gewarnt wird jedoch auch davor, alle Lernendenäusserungen in der Klasse als gleichermassen gültig zu akzeptieren, führe dies doch zu einem Relativismus, «der junge Menschen mit ihren Orientierungsbedürfnissen allein lässt» (S. 93).

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