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ОглавлениеDie Fressbremse
von Anita Koschorrek-Müller
Zum dritten Mal drückte ich den Klingelknopf an Bauer Harms' Haustür. Was sollte ich bloß tun, wenn er nicht zu Hause war? Vor Stunden hatte ich schon versucht ihn telefonisch zu erreichen, vergeblich. Ich hörte Schritte und Matthias Harms öffnete die Tür. Er trug einen zerschlissenen, grau und blau gestreiften Bademantel, sah ziemlich verschlafen aus, die Haare standen zu Berge und eine Rasur war dringend nötig.
„Was in aller Welt willst du denn hier, heute, am Sonntag?“, schnauzte er mich an.
„Matthias, bin ich froh, dass du zu Hause bist. Ich habe schon den ganzen Morgen versucht dich anzurufen!“
„Gestern war Schützenfest, da musste ich heute ausschlafen. Erna und Richard haben die Tiere gefüttert und sind zum Gottesdienst“, erklärte der vermutlich noch nicht ganz nüchterne Bauer.
„Matthias, das ist ein Notfall, du musst unbedingt helfen! Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden könnte“, flehte ich ihn an. „Du weißt doch, dass ich morgen verreise, deshalb ist es ja so dringend.“
„Was gibt es denn Wichtiges, dessentwegen du mich am heiligen Sonntag aus dem Bett klingelst?“, brummte Bauer Harms und rieb sich das zerknitterte Gesicht.
„Komm mit!“
Am Arm zog ich ihn auf den Hof zu meinem Wagen mit dem Pferdeanhänger. Ich öffnete die hintere Tür, klappte die Rampe herunter und führte das braun weiß gescheckte Pony am Halfter aus dem Hänger.
„Das ist Katinka, sechs Jahre alt, eine Stute“, stellte ich das Pferdchen dem Bauern vor.
„Sechs Jahre? Kaum zu glauben. Das Pony sieht aus, als hätte es schon dreißig Jahre auf dem Buckel.“ Bauer Harms besah sich Katinka von allen Seiten. „Mein Gott, welch eine elende Kreatur! Wo hast du die denn aufgegabelt?“
„Beim Schlachter! Und wenn ich sie diesem Lump nicht abgekauft hätte, wäre sie am Montag in der Wurscht.“
„Na ja, viel Wurst hätte er aus der nicht machen können, so mager wie die ist“, stellte Matthias Harms fachmännisch fest.
Ich versuchte den Bauern davon zu überzeugen, dass er Katinka aufnehmen müsse. Er war ihre letzte Rettung. Meine Überredungskünste wurden davon untermauert, dass ich für das Pony den gleichen Boxenpreis zahlen würde wie für mein Pferd Sam, einen dunkelbraunen Wallach mit weißer Blesse, der seit zwei Jahren hier in Pension war. Wir standen noch auf dem Hof und verhandelten über die Unterbringung der kleinen Stute, als Erna und Richard vorfuhren. Erna war Bauer Harms' Schwester und Richard ihr Sohn. Die beiden waren nach dem Tod der Bäuerin auf den Hof gezogen und als gelernter Pferdewirt war Richard in den Familienbetrieb mit eingestiegen.
Er kam über den Hof marschiert und begutachtete Katinka.
„Mmh, das Pony hat aber auch schon mal bessere Zeiten erlebt.“
„Und?“, fragte ich nun Richard, da Matthias Harms sich mit einer Zusage zurückhielt. „Könnt ihr Katinka aufnehmen? Ich habe sie gerade vorm Schlachter gerettet.“
„Das wird eng“, meinte der junge Mann. „Wir sind zurzeit voll belegt.“
Erna hatte sich dazu gesellt und schaltete sich in das Gespräch ein.
„Wir werden schon ein Eckchen finden. Wenn sich das Wetter weiter so hält, kann sie tagsüber mit auf die Weide.“
Bauer Harms sagte nichts und Richard druckste herum.
„Mama, wie soll das denn gehen? Wo haben wir denn noch ein Eckchen?“
„Ich werd schon was finden“, antwortete Erna und tätschelte dem Pony den Hals. „Na, Katinka, du bleibst jetzt bei uns!“
Damit war das letzte Wort gesprochen. Ich war froh, dass das Pferdchen ein neues Zuhause hatte und konnte beruhigt meinen Urlaub antreten.
Nach einer Woche rief ich auf dem Hof an. Erna war am Apparat.
„Wie geht es Katinka?“, lautete meine erste Frage.
„Alles bestens! Sie frisst ordentlich, geht jeden Tag mit auf die Weide und fügt sich in die Herde ein. Mach dir keinen Kopf. Dem Pony geht es richtig gut.“
Samstags kam ich aus dem Urlaub zurück und fuhr noch am selben Tag zum Hof. Die Pferde waren fast alle auf der Weide. Ich setzte mich auf das Holztor an der Koppel und hielt Ausschau nach meinen beiden Pferden. Sam hatte mich erkannt und kam angetrabt, gefolgt von Katinka.
Natürlich hatte ich ein paar Möhren dabei und etwas trockenes Brot. Sam blieb dicht vor mir stehen und rieb seinen Kopf an meiner Schulter. Ich streichelte das weiche Pferdemaul und redete mit ihm.
„Na, mein Junge. Hast du mich vermisst?“ Sam knabberte an der Möhre, die ich ihm hinhielt. Zögernd näherte sich nun auch Katinka. „Na, Kleine? Möchtest du auch 'ne Möhre?“
Richard kam über den Hof zu mir ans Gatter.
„Hat sich gut herausgemacht, deine Katinka!“
„Mmh, sieht klasse aus!“ Ich konnte Richard nur beipflichten.
„Erna hat sich um sie gekümmert“, erzählte er. „Die hat einen Narren an dem Pony gefressen und Sam hat Katinka immer im Schlepptau.“
Leider hatte ich heute keine Zeit zum Ausreiten und verabschiedete mich von Richard. Sam bekam noch eine Möhre und ging gemächlich wieder auf die Weide. Katinka sah mich durch ihre dichte Mähne aufmerksam an und wartete.
„Das ist ihre Masche!“, lachte Richard. „Die bleibt solange vor dir stehen, bis sie etwas Fressbares erbettelt hat.“
Katinka bekam natürlich auch ihre Möhre und trabte munter hinter Sam davon.
Die Wochen vergingen und wenn ich mit Sam ausritt, begleitete uns das Pony. Mit der Zeit wurde das Pferdchen jedoch immer dicker und die Ausritte wurden für das Tier beschwerlich. Ich sprach Richard darauf an.
„Das Pony wird zu dick. Könnt ihr das Futter nicht reduzieren?“
„Mmh, du hast Recht“, bestätigte Richard meine Beobachtung. „Da müssen wir was unternehmen. Diese Woche kommt der Tierarzt auf den Hof. Der kann sich Katinka mal ansehen und dann überlegen wir, was wir tun können.“
Der Tierarzt bescheinigte, dass Katinka bei bester Gesundheit war, nur zu dick. Er riet zu einer Fressbremse, einer Art Maulkorb, der die Futteraufnahme während des Weidegangs verringert.
Erna blutete das Herz, als ihr kleiner Liebling auf Diät gesetzt wurde. Es kam eine Regenperiode und die Tiere blieben öfter im Stall. Ich traf Richard, der seinen abendlichen Kontrollgang machte, bei den Boxen.
„Also, Richard, das mit der Fressbremse bringt keinen Erfolg. Habt ihr denn auch das Futter reduziert?“ Ich machte mir Sorgen. Das Pony sah aus wie eine Wuchtbrumme.
„Tja“, der junge Mann schob seine Kappe in den Nacken. „Ich hab schon mit meiner Mutter geredet, damit sie Katinka nicht immer wieder etwas zusteckt.“
„Dann kann eine Diät ja nix werden, wenn Erna sich nicht dran hält“, ereiferte ich mich. Matthias Harms und seine Schwester kamen in den Stall.
„‘n Abend! Na, deiner Katinka geht’s ja richtig gut.“ Der Bauer warf einen Blick in die Box und meinte lachend: „Hat ja mächtig zugelegt. Der Schlachter würde sie dir jetzt nicht mehr so günstig verkaufen.“
„Sehr witzig“, bemerkte ich angesäuert.
„Matthias!“, rief Erna aufgebracht. „Du bist unmöglich!“
Das Pony kam näher und schnaubte. Ich vermutete, dass es sich bei Erna etwas erbetteln wollte. Vielleicht sollte ich mal allein mit Erna reden, so von Frau zu Frau, damit sie einsah, wie unvernünftig ihr Verhalten war.
Am nächsten Tag rief mich Erna im Büro an. „Kannst du heute Abend vorbei kommen?“
„Ist ganz schlecht. Ich muss Überstunden machen“, antwortete ich. „Ist denn was Besonderes?“
„Wir haben heute Abend eine kleine Feier, wäre schön, wenn du dabei wärst“, erzählte sie.
„Ich sehe mal, was sich machen lässt.“
Viel Lust, am Abend noch zum Hof zu fahren, hatte ich nicht.
„Es wäre uns wichtig, wenn du noch reinschaust“, betonte Erna. „Egal wie spät.“
Um 20 Uhr schaltete ich meinen Computer ab und streckte mich. Endlich Feierabend. Jetzt nach Hause, eine heiße Dusche und dann was beim Italiener bestellen. Oder sollte ich noch Ernas Einladung folgen und zum Hof fahren? Nee, absolut keine Lust.
Mein Handy klingelte, eine SMS: 'Komm bitte! Wir warten auf dich! Lg Richard'
Als ich meinen Wagen auf dem Hof parkte und ausstieg hörte ich Ernas Stimme.
„Matthias, sie kommt. Ich geh schon rüber, bring du den Schnaps mit!“
Es war niemand zu sehen, von wegen „kleine Feier“ und ich ging erst mal hinüber zum Stall. Richard und Erna standen vor Katinkas Box und grinsten. Matthias kam dazu, eine Flasche Schnaps und Gläser in der Hand.
„Und? Was gibt’s denn so Wichtiges zu feiern?“, fragte ich etwas unwirsch. Ich wäre nach dem langen Arbeitstag lieber nach Hause gefahren, als mir hier diese grinsenden Gesichter anzuschauen.
„Wir wollten mir dir feiern, dass Katinka keine Fressbremse mehr braucht!“, verkündete Erna. „Was soll denn der Quatsch?“, antwortete ich ungehalten. Richard nahm mich bei den Schultern und drehte mich um, sodass mein Blick in die Box fiel. Dort stand Katinka und neben ihr ein Winzling, braun und weiß gescheckt, der gerade versuchte, an ihrem Euter zu trinken. Ich traute meinen Augen kaum! Sprachlos blickte ich in die Runde. Matthias drückte mir ein gefülltes Schnapsglas in die Hand.
„Na denn, Prost!“, rief er mir lauter Stimme.
„Trinken wir auf den kleinen Hengst“, fügte Richard hinzu und Erna meinte: „Und die Diät können wir vergessen.“
Ich lachte schallend. Dann erzählte mir Erna, wie sie heute Morgen die Boxentür geöffnet hatte und der kleine Hengst schon auf den Beinen stand.
„Ich dachte, ich sehe nicht richtig! Und wir haben der werdenden Mutter eine Diät verordnet, und dieser neunmalkluge Tierarzt eine Fressbremse.“
Ich betrat die Box, streichelte dem Nachwuchs über die struppige Mähne und klopfte Katinka anerkennend den Hals. „Du machst ja Sachen, mein Mädchen!“
Der kleine Hengst stand auf seinen stämmigen Beinchen und beschnupperte mich neugierig. Er sah aus wie ein großes Plüschtier aus einem Spielzeugladen.
„Kräftiges Kerlchen“, meinte Richard. „Ich habe errechnet, dass die Stute schon gedeckt war, bevor sie zum Schlachter kam.“
„Und das Pony wäre fast in der Wurst...“, setzte Bauer Harms an, doch Erna fuhr ihm über den Mund.
„Wenn du noch einmal im Zusammenhang mit diesem Pony das Wort 'Wurst' erwähnst, gibt es Ärger!“
Richard schenkte mir noch einen zweiten Schnaps ein.
„Jetzt musst du dir für diesen kleinen Burschen einen Namen ausdenken.“
Beim Anblick von Mutter und Sohn wurden mir die Augen ein wenig feucht. War es Zufall, Schicksal oder Glück, dass mir dieses trächtige Pony über den Weg gelaufen war?
Ich nannte den kleinen Hengst „Lucky“.