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Der Kaktus

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Von Stefan Ilius

Ich lief schon den ganzen Tag in meinem kleinen Gewächshaus auf und ab. Ich konnte einfach keine Ruhe finden, obwohl schon seit Tagen alles für die heutige Nacht vorbereitet schien. Alle meine Kakteen standen super gepflegt in Reih´ und Glied, ähnlich einem Spalier zu Ehren dessen, was heute Nacht geschehen sollte. Gute zwanzig Jahre hatte ich darauf gewartet, dass mein seltenstes Stück, ein mexikanischer `Taurigonadus doliaris´, blühen würde. Und an diesem Tag sollte es endlich soweit sein!

In der verschworenen Kakteenzüchter-Szene war ich damit für meinen Erfolg schon im Vorfeld gefeiert worden. Schließlich gab es in ganz Deutschland außer meinem Exemplar nur noch zwei weitere. Einen im Botanischen Garten in Berlin und einen in Unterpfaffenhofen, bei einem privaten Kaktusfreund namens Wegspitz, oder so.

Der in Berlin hatte das letzte Mal vor über dreißig Jahren geblüht und es existieren nur ein paar Schwarz-Weiß-Aufnahmen von der fantastischen Blüte, die ebenso schön wie auch vergänglich ist. Lediglich wenige Minuten würde das Spektakel dauern, danach würde die Blüte zerfallen und der Kaktus für mindestens zwanzig Jahre nicht noch einmal blühen.

Als sich vor etwa einer Woche die ersten Anzeichen einer Knospenbildung erkennen ließen, hatte ich es natürlich sofort meinen Kollegen aus der CACTUS-GAZETTE, dem wichtigsten Mitteilungsblatt für Sukkulenten-News, mitgeteilt. Ei, wie war die Aufregung groß! Die Zahl derer, die dabei sein wollten, war annähernd zweistellig und ich war mir nicht sicher, ob ich für alle eine Sitzgelegenheit in meinem kleinen Gewächshaus bereitstellen konnte. Das Durchschnittsalter meiner Fachkollegen war immerhin schon jenseits der Siebzig.

Ich rechnete damit, dass sich die Blüte schon bald nach Sonnenuntergang öffnen würde und jetzt war es bereits eine Stunde, bevor sich die Sonne hinter dem Horizont verstecken würde. Ich kontrollierte nochmals alle Videokameras. Jawohl, beide waren fest auf das Zielobjekt gerichtet und bereit, alles zu dokumentieren, was heute geschehen würde. Es klingelte, ich lief zur Tür.

„Bienvenue, Mesdames et Messieurs, bitte hereinzukommen.“

Nach umständlichen Begrüßungsritualen und dem Austausch von Höflichkeitsfloskeln hatten endlich alle sechs Besucher, die den Weg tatsächlich zu mir gefunden hatten, Platz genommen. Es war an der Zeit, die großen Lampen auszuschalten und nur die Lichterkette, die eine stimmungsvolle Beleuchtung des Hauptakteurs gewährleisten sollte, brennen zu lassen. Es sah wirklich sehr feierlich aus. Ich wünschte nur, ich hätte das ganze Szenario doch einmal komplett durchgespielt!

21:30 Uhr, es ist düster draußen, zwei meiner Besucher, Gundl und Achim, sind eigentlich unmittelbar nach dem Hinsetzen eingenickt, aber ihr Schnarchen hielt dafür die anderen wach.

Jetzt war es soweit, man konnte deutlich sehen, wie die Blütenblätter an der phallusförmigen Knospe begannen, sich zu bewegen. Ich sah auf den Kaktus, meinen ganzen Stolz, dann auf meine Besucher, die, soweit sie noch wach waren, ebenfalls gespannt dem Schauspiel zusahen.

Verdammt! Mir fiel ein, dass ich die Videokameras nicht gestartet hatte! Unversehens sprang ich von meinem rostigen Gartenklappstuhl auf, die Kamera Nummer eins fest im Blick fixiert. Ich streckte meine Arme über die schlafende Gundl, die durch ihre körperlichen Ausmaße fast die Hälfte des im Gewächshaus verbliebenen Platzes einnahm, drückte auf die Record-Taste und ... nichts geschah! Das durfte doch nicht wahr sein - es war keine VHS-Kassette im Gerät. Jetzt bloß keine Panik, die zweite Kamera stand auf der anderen Seite des Tisches. Schnell drehte ich mich herum, um wenigstens diese Kamera noch zu starten. Der erste Schritt in Richtung Kamera Nummer zwei fiel unerwartet länger aus als erhofft, da ich mit dem linken Fuß im Kabelsalat der Lichterkette hängenblieb und dadurch fast einen Cirque du Soleil-reifen Spagat machen musste, um mich nicht zu überschlagen. Ich hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten, riss den zurückgebliebenen Fuß nach vorn und zog damit den Rest der sich noch auf dem Eternit-Tisch befindlichen Lichterkette hinab, die daraufhin erlosch. Im Bruchteil einer Sekunde gelang es mir, in der spontan entstandenen völligen Dunkelheit meine Pocketkamera zu zücken, die ich in der Gesäßtasche meiner Cordhose hatte. Vier kurze Blitze des sich darauf befindlichen Blitzwürfels später, hatte ich den Stecker der Lichterkette wiedergefunden und seiner stromversorgenden Bestimmung zugeführt. Das Aufnahmegerät! Abermals drehte ich mich in Richtung der zweiten Kamera, und um diese noch rechtzeitig vor dem Ende des eigentlichen Schauspiels zu starten, hechtete ich wieder los. Um den Aufnahmeknopf zu drücken, musste ich mich nochmals mehr strecken als mir lieb war. Ich versuchte, mich mit der rechen Hand am Standwasserhahn abzustützen, erwischte jedoch nur die sich daran befindliche Kunststoffschlauchkupplung eines namhaften Gartengeräteherstellers, die sich natürlich augenblicklich durch den Zug nach unten löste.

Ich sah sofort ein, dass es keinen Sinn machte, sich gegen den unausweichlich bevorstehenden Sturz zu wehren und landete unsanft auf meinem recht knochigem Hintern. In der allgemeinen Panik, die durch die spontanen Wasserspiele in meinem kleinen Gewächshaus entstand, versuchten meine Gäste durch schnelle Flucht zu entkommen. Die mit einem spitzen Schrei erwachte Gundl sprang von ihrem Stuhl und galoppierte in Richtung Tür, wobei sie alle ihr dabei im Weg stehenden Stühle, Mitmenschen und Kakteen einfach überrannte. Nachdem sich das Knäuel aufgelöst hatte, lag ich immer noch wie ein Maikäfer auf dem Rücken und versuchte mir einen Überblick über das Chaos zu verschaffen. Etliche meiner schönen Sukkulenten lagen in ihren zerbrochenen Kübeln und Töpfen auf dem Boden. Dazwischen die sieben Stühle, die in dem Wirrwarr aus Kabeln, Wasserschlauch und Kamerastativen scheinbar untrennbar zu einem Gordischen Knoten verstrickt waren. Dann wanderte mein Blick Richtung `Taurigonadus´ - er war verblüht ...

Es stiegen mir Tränen in meine vom grauen Star bedrohten Augen. Zwanzig Jahre umsonst gewartet? Mit meiner Hand, die wahrscheinlich im Moment mehr Kaktusstacheln als alle meine Lieblinge zusammen aufwies, erreichte ich Kamera Nummer zwei. Sie lief noch! Ich spulte sie zurück und sah durch den Gucker die Aufnahme. Oh je, von der Blüte meines `Taurigonadus´ war nichts zu sehen, dafür ein unglaubliches Szenario, das, wenn der Augenblick für mich nicht so traurig gewesen wäre, mich bestimmt zum Lachen gebracht hätte.

Ich rappelte mich auf, stellte endlich das Wasser ab und schaltete das große Licht an. Kopfschüttelnd begann ich, die Trümmer aufzuräumen, die zerbrochen Töpfe würde ich morgen früh ersetzen, und ging traurig hinüber ins Haus. Meine Trauer schwand, als ich feststellte, dass ich zwar dank meines Alters nicht mehr live erleben würde, dass mein seltenster Kaktus noch einmal blüht, aber es einen Lichtblick gab. Als ich den Pocketfilm zum Fotoladen brachte, zeigte sich, dass ich wie durch ein Wunder wohl im Dunkeln genau einmal in Richtung Kaktusblüte geknipst hatte! Stolz trug ich den kleinen 6x9cm Farbbildabzug in der Hand nach Hause. Die darauf festgehaltene Blüte war wunderschön. Ich durfte sie zwar nicht wirklich genießen, war aber wenigstens mit ihr in einem Raum – das war doch immerhin auch schon mal was! Dank meines Enkels wurde das aufgenommene Chaosvideo ein Hit im Internet. Mit jedem Klick verdiene ich drei Euro-Cent. Wenn ich das Geld zusammen habe, werde ich nach Mexiko reisen, um mir dort in freier Natur einen blühenden `Taurigonadus doliaris´ anzusehen. Ein Traum geht in Erfüllung!

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