Читать книгу Land hinter den Nebeln - Claus Bork - Страница 6

Fortsetzung

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Er war immer noch ein ganz gewöhnlicher Junge, obwohl er selbst einer ganz anderen Auffassung war. Denn er hatte ja tatsächlich so viele Gefahren und große Triumphe erlebt, daß er, wenn es in seinem Umkreis bekannt gewesen wäre, unzweifelhaft als ein Held betrachtet worden wäre. Aber es waren nur ganz wenige, die es wußten. Seine Mutter, sein Vater, sein Freund Henrik und er selbst. Er hieß übrigens Jesper Aksel Bergmann und war inzwischen elf Jahre alt, seit er einst den Raben Schwarzer Sigurd aus Abenteuerland traf.

Nun war der Winter fast vorbei.

Er hatte längst seinen elften Geburtstag gefeiert. Er dachte flüchtig daran, während er auf den nassen Kacheln ging.

Er blieb unter der Straßenlaterne der Kleinkrämerstraße in Holte stehen und schaute in den Himmel. Die Regentropfen fielen wie glitzernde Kristalle aus der Dunkelheit in das Licht der Straßenlaterne auf ihn hinunter. Er kniff die Augen zusammen und ließ den Regen über das Gesicht laufen.

Geburtstage - warum sind sie immer so?

Warum enden Geburtstage immer schlecht?

Mads hatte sich in die Badewanne übergeben und Jacob, der einen Vetter hatte, der einmal fast in die Nationalmannschaft gekommen wäre, hatte den Vogel herausfliegen lassen. Sie hatten den ganzen Nachmittag nach ihm gesucht, ab und zu, ohne ihn zu finden. Henrik hatte gesagt, daß Vögel im Käfig genauso gut tot sein könnten, und daß er wohl wieder nach Hause kommen würde, wenn er hungrig wäre. Aber er kam nicht, dann hatte er es vielleicht im Wald besser. Es war erst am Abend, als ihm seine Mutter erklärte, daß Wellensittiche in Dänemarks Wäldern nicht leben können, und daß die anderen Vögel ihn höchstwahrscheinlich totgehackt hätten, und Jesper wurde traurig. Er hatte ihn im Traum vor sich gesehen, zwischen Elstern und Möwen - die hackten und hackten, während er flüchtete, ohne einen Ort zu haben, wo er hinkonnte.

Das war jetzt lange her. Sein Vater hatte gesagt, daß er nie wieder die Erlaubnis bekommen würde, seinen Geburtstag zu feiern. Aber das hatte er auch voriges Jahr gesagt, und das Jahr davor.

Er zog den Kragen um den Hals und schlenderte weiter durch den Regen. Sein Vater war auch einmal ein Kind gewesen - sagte er. Jesper dachte kurz darüber nach, ob das wahr sein konnte.

Sie hatten einen Hund bekommen. Er lächelte bei dem Gedanken, während er weiter den Weg hinunterging.

Hinter dem Haus auf seiner rechten Seite lag der Wald wie eine Festung aus undurchdringlicher Dunkelheit.

Es war Abend, und am Abend kommen sie zwischen den Bäumen hervor, alle Wesen seiner Phantasie. Er hatte seine Reise ins Abenteuerland nie vergessen, und er wußte, daß es sie gab, und daß man sie sehen konnte, wenn man an sie glaubte.

Eines Tages war er aus dem Wald gelaufen gekommen, den Weg herunter und gerade in ihren Garten hinein - einfach so. Am Halsband hatte er ein kleines Namensschild auf dem Cherri stand. Das war alles, nur Cherri. Keine Telefonnummer oder etwas, aus dem hervorging, woher er kam oder wem er gehörte.

Jespers Vater sagte, daß er ein Englischer Schäferhund sei und daß er höchstwahrscheinlich Flöhe hätte, und daß er auf jeden Fall zuviel fressen würde, und daß sie ihn deshalb nicht behalten könnten. Dann hatte er eine Annonce in die Zeitung gesetzt, aber keiner hatte darauf geantwortet. Dann hatten sie einen Zettel am schwarzen Brett beim Kaufmann aufgehängt, aber auch darauf antwortete niemand. Und als dann Jespers Vater vorschlug, daß sie ihn einschläfern lassen könnten, hatte Jesper seine Mutter davon überzeugt, daß es notwendig war, ihn zu behalten. Denn Jespers Eltern waren wie so viele andere Eltern. Sein Vater glaubte, daß er es war, der bestimmte und alles liefe dann auch so einigermaßen, bis er sich das eine oder andere Mal blamierte. Und da wurde es schwierig, denn nun war seine Mutter genötigt zu demonstrieren, daß es in Wirklichkeit sie war, die die Macht hatte. Und das war immer etwas problematisch. Aber sie hatten Cherri also behalten, und seitdem hatte Jesper Aksel Bergmann das erste Mal mit seinem EIGENEN Hund Weihnachten gefeiert.

Er war seit gestern Abend nicht zu Hause gewesen. Er bog um die Hecke in die Einfahrt und lief den Gartenweg hoch, während er nach Cherris Kopf hinter dem Fenster der Waschküchentür Ausschau hielt. Er war nicht dort. Sonst pflegte er immer hinter dem Fenster zu sitzen und zu warten, bis er nach Hause kam. Aber heute nicht.

Jesper riß die Tür auf und rief, während er mit den Stiefeln auf dem Fußabtreter stampfte.

Irgendwo im Haus spielte ganz leise ein Radio.

Er zog die Stiefel aus und lief durch die Waschküche, während er die Windjacke über die Schultern abstreifte. Jesper Aksel Bergmann konnte vieles - zum Beispiel war er ohne Zweifel der Weltmeister im Unordnung machen.

Er stieß die Tür zur Stube auf, viel zu heftig, sodaß es durchs ganze Haus dröhnte.

"Ruhig - ruhig, junger Mann," dachte Jesper Aksel Bergmann.

"Ruhig - ruhig, junger Mann!" rief sein Vater hinten vom Schreibtisch, wo er saß und arbeitete.

Seine Mutter saß auf dem Sofa und sah ihn mit einem bekümmerten Ausdruck im Gesicht an.

"Hey," sagte Jesper. "Wo ist Cherri?" Er sah sich um. Es war allzu still.

"Da ist etwas, über das wir sprechen müßen," sagte Jespers Mutter und winkte ihn zu sich.

Sein Vater vertiefte sich in seine Arbeit am Computer, wie er es immer machte, wenn es Probleme gab.

"Wo ist Cherri?" fragte Jesper noch einmal.

"Cherri ist krank," sagte seine Mutter mit belegter Stimme.

Sein Vater seufzte über der Tastatur und starrte leer auf den Bildschirm.

"Krank?" wiederholte Jesper. "Er war doch gestern noch gesund?"

Jespers Mutter schaute zu seinem Vater hinüber mit gehobenen Augenbrauen und gespitztem Mund.

"Oh!" dachte Jesper Aksel Bergmann. "Nun wird es brenzlig."

Sein Vater wandte sich langsam um und schaute ihn über die Brillengläser an. Dann faltete er die Hände im Schoß und räusperte sich wie immer, wenn er wegen etwas ein schlechtes Gewissen hatte.

"Ja, sieh mal," begann er. "Ich habe dieses blaue Gift gegen die Mäuse ausgelegt, wie du weißt."

Jesper Aksel Bergmann verkrampfte sich der Magen.

Seine Mutter saß auf dem Sofa und schüttelte energisch mit dem Kopf.

"Und dann, ja dann..." Der Vater seufzte tief, nahm die Brille ab und begann nervös, sie zu putzen, obwohl sie spiegelblank war.

"Was dann?" flüsterte Jesper Aksel Bergmann.

"Manchmal muß man tapfer sein," sagte sein Vater und hob einen Finger in die Luft.

"Was dann?" fragte er wieder.

"Ja, dann hat dein verschlagener Hund etwas von dem Gift gefressen," sagte sein Vater irritiert. "Cherri ist nicht verschlagen!" rief Jesper, sodaß man es mehrere kilometerweit weg noch hören konnte.

"So, so," sagte sein Vater. "Das ist etwas, was ich entscheide."

Aber Jespers Mutter war sich darin mit ihm nicht einig.

"Du solltest dem Jungen lieber erklären, was passiert ist," sagte sie scharf.

Der Vater sah fast aus wie eine Katze, die von wilden blutrünstigen Hunden in eine Ecke gedrängt worden war.

"Es tut mir sehr leid," sagte sein Vater so leise, daß es schwer zu hören war. "Sehr leid." Er nickte, während er sprach, um zu unterstreichen, welche enorme Überwindung es ihn kostete, dies zuzugeben.

"Wo ist Cherri?" fragte Jesper.

"Oh, in der Tierklinik," sagte sein Vater.

"Habt ihr sie bloß in die Tierklinik gebracht?" fragte Jesper.

"Bloß..." sagte sein Vater. "Sag mir, bist du dir klar darüber, was es kostet einen Hund in die Tierklinik zu..."

"So, so," sagte seine Mutter.

"Ich werde sie jetzt besuchen," sagte Jesper. "Gleich mit euch zusammen."

"Das läßt sich nicht machen," sagte sein Vater.

"Sie ist bewußtlos, Cherri," sagte Jespers Mutter. "Und dort ist jetzt auch geschlossen."

"Geschlossen?" rief Jesper. "Liegt sie ganz alleine in einer dunklen, geschlossenen Tierklinik?"

"Jah, oh..." murmelte sein Vater.

"Warum legt man auch Gift aus?" rief Jesper.

"Das macht man, um die Mäuse loszuwerden," sagte sein Vater pädagogisch.

"Warum muß man sie loswerden?" rief Jesper Aksel Bergmann.

Sein Vater schaute hinunter auf seine Hände und sah aus, als hoffe er, sie könnten ihm eine Antwort geben. Aber offenbar glückte das nicht.

"Warum tötet man kleine Mäuse?" schrie Jesper so laut er konnte.

"Weil man sie nicht überall herumlaufen und alles anfressen lassen kann," antwortete sein Vater aufgebend. Er warf Jespers Mutter einen flehenden Blick zu, eine Bitte um Hilfe, aber sie ließ ihn schwitzen.

"Ich geh wieder," sagte Jesper, drehte sich auf dem Absatz um und ging hinaus durch die Waschküche, wo er seine Jacke vom Fußboden aufhob. Danach stieg er in seine Stiefel und eilte hinaus in den Regen und die Dunkelheit, während seine Eltern diskutierten, wer von ihnen ihn aufhalten sollte und wer von ihnen die Schuld an dem ganzen Unglück hatte, das geschehen war. Er holte sein Fahrrad aus dem Carport und radelte die Pindehuggervang hinunter und weiter zur Paradieswiese und weiter - bis er vor der Tierklinik hielt, unterhalb eines Hügels, geradeaus zum Wald.

Es war ein längliches, graues Gebäude. Die Fenster waren dunkel wie die starrenden Augen im Kopf eines gewaltigen, liegenden Drachens. Er hielt die Luft an und lauschte, aber es waren keine anderen Geräusche als die des Windes und des Regens, der auf seine Jacke trommelte, zu hören.

Dann holte es ihn ein, das Gefühl der Sorge und des Elends.

Er warf das Fahrrad von sich und ging über den kurzgeschnittenen Rasen draußen vor der grauen Mauer, die ihn von dem in der Welt trennte, das er am meisten liebte.

Und dann, wie eine Reaktion auf alles, was so plötzlich gekommen war, daß er sich noch gar nicht daran gewöhnt hatte, hielt er die Hände vors Gesicht und weinte. Er sah Cherri vor sich, auf einer Pritsche aus rostfreiem Stahl liegend, mit den Haaren über den Augen hängend, wie ein anderer Hippiehund - Augen ohne Leben und Wärme, Augen von einem, der im Sterben lag. Und der Gedanke ging Jesper auf, daß das, was Cherri fehlte, etwas anderes und mehr war, als die Medizin, die er von Menschen bekam, die nun eine Menge Geld daran verdienten, dadurch, daß er krank war.

Er schluchzte laut, ganz egal, ob jemand es hörte und auch vielleicht dachte, daß er zu groß sei, um so dazustehen und zu weinen, mitten auf dem Rasen vor einer Tierklinik, zu einem Zeitpunkt, wo er in seinem Bett liegen und schlafen sollte. Aber dann, plötzlich, passierte etwas.

Land hinter den Nebeln

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