Читать книгу Die Tore nach Rana - Claus Bork - Страница 10
Miran
ОглавлениеEr blieb unentschlossen vor ihrer Tür stehen.
Die Hand zögerte einen Augenblick, bevor sie die Knöchel dreimal gegen die Türfläche hämmern ließ, hart und bestimmt.
Die Tür öffnete sich umgehend, und eine Frau verbeugte und neigte sich mit einer langen, gleitenden Bewegung vor ihm.
Er winkte sie mit einer Handbewegung ab und trat ein. Miran, seine kaiserliche Gemahlin, stand an den Fenstern mit den Spitzbögen nach dem Balkon hinaus und schaute über das Meer.
Als sie seine Schritte hörte, drehte sie sich um und sah ihn an. Er blieb stehen und unterdrückte einen kleinen Seufzer.
Sie hatte so schöne Augen, die schönsten Augen, die er je gesehen hatte. In den Teilen der Welt, wo er gewesen war, war ihm nie ein Blick wie ihrer begegnet.
Er liebte es, sie zu besitzen, nur wegen dieses Blickes. Er liebte sie wegen dieser beiden Smaragden gleichenden Augen.
"Du siehst müde aus," sagte sie. Die Unruhe, die sie fühlte, spiegelte sich in ihrem Gesicht. Sie ging ganz langsam auf ihn zu, während sie versuchte, in seinen Augen zu lesen, was ihn so beschäftigte und so angespannt sein ließ.
"Du bist schön," sagte er leise. "Je älter du wirst, je schöner wirst du." Er versuchte, zu lächeln, konnte es aber nicht.
Sie betrachtete ihn ruhig, ohne zu antworten.
Er machte einen Schritt auf sie zu, streckte die Hände vor und wartete, das sie dasselbe tat. Aber sie blieb stehen und sah auf den Boden.
"Was ist nicht in Ordnung?" fragte er mit gedämpfter Stimme. Er blieb stehen und sah sie an, traute sich nicht, ihr näherzukommen.
Sie starrte weiter auf den Boden, während sie antwortete.
"Ich fühle, daß Dinge geschehen, ernste Dinge. Ich habe erwartet, daß du mir darüber erzählst, aber du hast nichts gesagt. Und nun hat das Gefühl sich in meiner Seele eingenistet, daß ich vielleicht dein Vertrauen verloren habe."
Er bemerkte die Träne, die langsam über ihre Wange rann.
Er ging auf sie zu, legte die Arme um sie und zog sie behutsam an sich.
Sie legte den Kopf an seine Schulter. Er liebte sie so sehr, so brennend. Nun hatte er das erste Mal Angst, sie zu verlieren.
Dann dachte er an den Jungen. Er sah sein Gesicht vor sich, und schob sie leicht von sich, während ihn ein Zittern durchlief.
"Hat ein anderer Platz in deinem Herzen gefunden?" Ihre Worte waren kaum hörbar.
Er schüttelte langsam den Kopf. Ihre Augen waren wieder geschlossen und Tränen liefen in langen, glänzenden Spuren über ihre Wangen.
"Nein!"
Als sie die Augen aufschlug und seinen Blick erwiderte, fühlte er die Kluft, die sich zwischen ihnen geöffnet hatte.
"Was habe ich dann getan, daß dein Zorn auf mich gerichtet ist?"
"Nichts! Du hast nichts getan!" flüsterte er. "Und selbst wenn ein gewaltiger Zorn in mir ist, hat das nichts mit dir zu tun."
"Was ist es dann?" fragte sie wieder.
"Ich kann es dir nicht sagen," seufzte er unglücklich.
Sie drehte sich um und ging ruhig zum Fenster hinüber. Hier ließ sie die Schnur des schweren Gobelins langsam durch die Hand gleiten. Aber er sah die Tränen, die auf das Fenstersims fielen.
Er ging langsam von ihr fort und blieb erst stehen, als er die geschnitzte Türfüllung gegen seinen Rücken spürte.
Er stand in der Türöffnung und warf einen letzten Blick zu ihr zurück. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt und starrte über das Meer.
Diese Nacht trat er wieder durch die vergoldeten Tore und ging über die Brücke und die kleebedeckten Wiesen zum Hügel im Wispernden Park.
Der Baum beugte seine Äste über ihn und versteckte ihn in seiner alles umfassenden Dunkelheit. Er wartete, mit Zorn, der wie ein stechender Schmerz in seiner Brust saß, während die blätterübersäten Ranken an ihm vorbeiglitten und die Geräusche der Welt dämpften.
"Oh Angicore, du, der mächtigste unter den Menschen..." begann Gaya.
"Warum?" sagte er nur.
"Alles hat seinen Preis," polterte Gaya. "Wir wissen, daß es so ist."
"Aber warum geschieht dies mir?"
"Weil du Angicore bist, der Jaranakaiser. Nur dies kann dich der Probe aussetzten, der du dich, wie es bestimmt ist, unterwerfen mußt."
"Wer hat das bestimm?"
"Oh Angicore," flüsterte Gaya, " Du stellst solche Fragen, die am schwersten zu beantworten sind - und deren Antworten am schwersten zu verstehen sind."
"Erzähl es mir," bat er.
"Er ist vor nur ganz kurzer Zeit hinausgeritten. Kurzer Zeit, gesehen mit deinen Augen, denn für Uns ist Zeit nur ein flüchtiger Begriff."
Er nickte stumm in der Dunkelheit. "Wo ritt er hinaus?"
"Aus Rana..." flüsterte Gaya. "Durch die Tore von Rana, dem Land jenseits der Welt des Lebens - um ihn zu holen, den Erben des Thrones des Jaranakaisers - deinen Sohn, Angicore!"
Als der Baum diese Worte aussprach, lief ein leichtes Beben durch die Zweige und weiter durch die Ranken, bis zu ihm. Die Blätter raschelten sacht um ihn herum.
Er stand völlig unbeweglich da. Er fühlte sich innerlich kalt, kalt wie Eis, aus Furcht und Zorn.
"Wer ist er?"
"Skeletore, der Ritter des Todes..." Gaya flüsterte die Worte hinaus.
Er hielt den Atem an und lauschte.
"Skeletore..." flüsterte der Baum noch einmal.
"Laß mich gehen..." bat er.
"Aber du bist nur ein Mensch, Angicore. Gegen Skeletore kann kein Mensch etwas tun."
"Laß mich gehen..." bat er wieder.
"Wir sehen über die Welt und bemerken, daß die Zeit zu verrinnen beginnt," flüsterte Gaya. "Wir sehen, daß er im Reich der Schatten ist, unterwegs zur Welt der Menschen. Kein Zauber von Menschen, wie Nafimo kann den Lauf des Schicksals ändern."
"Ich kenne Zauber..." antwortete Angicore.
"Das ist Uns bekannt..." seufzte Gaya.
Er lehnte den Kopf zurück, schloß die Augen und wartete.
"Wir würden so gerne helfen." Es war Mitleid in Gayas Stimme.
"Gib mir Miran zurück," antwortete er laut. " Das wäre mir die größte Hilfe."
"Das läßt sich nicht machen," antwortete Gaya. "Du mußt dein Opfer tragen, wie jeder andere es auch tun muß..."
Die Zweige begannen sich zu heben. Es knackte in den Ranken, als sie nach oben an ihm vorbei zogen. Ein schwaches Brausen erfüllte die Luft um ihn herum.
Er öffnete die Augen und betrachtete die grüne Mauer der Blätter, die nach oben verschwand, von ihm fort. Die Sterne leuchteten vom Himmel und ließen ihn einen langen Schatten über den Klee im Wispernden Park werfen.
Lange betrachtete er die knorrige, rauhe Rinde. Sie glich Felsen mit schattigen Schluchten und Vertiefungen, von den Wurzeln bis ganz in die Krone hinauf.
Dann wandte er dem Baum müde den Rücken zu und ging zurück über die Brücke, gefolgt von den trägen Blicken der Schwäne.
Draußen vor dem Tor blieb er einen Augenblick stehen, während er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er war zum Führer ausgebildet, er war es sein ganzes Leben gewesen. Jetzt stand er vor einem Problem, das einen schnellen, entschlossenen Einsatz verlangte. Und er hatte keine Ahnung.
Er stand da und grübelte, bis er auf die Maruder aufmerksam wurde, die ihn von ihren Plätzen an den gemauerten Pfeilern des Tores neugierig studierten. Dann hatte er eine Idee.
Er ging nicht zurück zu den kaiserlichen Gemächern, sondern stattdessen direkt zum Quartier der Maruder bei den Ställen.
Er war in einen dicken, dunklen Mantel gehüllt. Keiner würde in dem matten Licht unter den Sternen sehen können, daß er der war, der er war.
"Halt!"
Der Ruf gellte zwischen den hohen, weißen Mauern im Palasthof - bis er ihn erreichte. Er blieb stehen.
Der Maruder trat aus dem Schatten hervor, glitt lautlos auf ihn zu, während der Säbel mit einem Zischen aus der Scheide glitt und in der Luft herumwirbelte, von einer Hand in die andere.
Er hob die eine Hand und löste das Band des Mantels. Im nächsten Moment schlug er ihn zur Seite und zog die Kapuze herunter.
Der Maruderfechter kniete sich sofort in den Staub und legte seine Stirn gegen die kalte Klinge.
"Vergebt mir, Euer Gnaden. Ich erkannte Euch nicht..."
Er nickte. Dann zog er den Mantel wieder um sich und ging weiter.
Der Maruder ging an seiner Seite, einen Schritt hinter ihm.
"Führ mich zu Tarman!" sagte der Kaiser.
"Euer Wunsch ist mir Befehl," antwortete der Maruder.
Sie liefen weiter durch die schmalen Gassen im Viertel der Maruder.
Die Öllampen an den Wänden brachen die Dichte der Dunkelheit mit kleinen Inseln aus Licht. Ihre Schritte hallten hohl zwischen den Häusern, bis der Maruder stehenblieb und mit seinem Säbel Schaft an einer Tür aus kräftigen Holzbohlen klopfte. Die Tür ging auf, und sie traten ein.
Am Ende des Raumes knisterte ein brodelndes Feuer in der Feuerstelle. Die Flammen warfen ihren klaren Schein in den Raum hinaus und ließen die Dinge im Raum lebendige Schatten über die Wände werfen.
Es duftete schwach nach Kräutern, Lederfett und Waffenöl. An einem Tisch saßen drei Fechter und spielten mit Würfeln.
Mit dem Gesicht zur Feuerstelle und dem Rücken zu ihnen, saß ein Mann und starrte ins Feuer. Seine sehnigen Arme ruhten schlaff auf den Armlehnen eines mächtig großen Stuhls, und auf den Handrücken hatte er das Zeichen des Kaisers tätowiert, die Kleeblüte.
"Erhebt euch vor dem einzig wahren Herrscher, Angicore I. von Dynadan!" Der Maruder, der ihn geführt hatte, sprach mit lauter, fester Stimme.
Die Männer sahen auf und sprangen dann auf die Beine. Auch der grobknochige Mann im Stuhl erhob sich und stellte sich vor ihm auf.
Er war nicht wie die anderen. Er war nicht nur größer, sondern an seiner ganzen Person war etwas gleichzeitig Abstoßendes und doch respekteinflößendes.
Er war Tarman, der Maruder, der vor so vielen Jahren die Feinde an der weißen Brücke aufgehalten hatte. Er hatte gekämpft und die Feinde besiegt, die in den Wispernden Park drängten - er allein.
Sein ganzer Körper war mit Tätowierungen bedeckt. Mit Bildern der Kämpfe an denen er teilgenommen und die er gewonnen hatte. Unter ihnen war auch das Bild des Gisal, der Angicores Vater getötet hatte, den Jaranakaiser. Der Gisal fiel durch Tarmans Schwert.
Die lange Narbe, die wie eine Schlucht dicht beim linken Auge über sein Gesicht lief, verstärkte den Eindruck des Beobachters, wie gefürchtet seine Fähigkeiten im Kampf waren. Diese Narbe hatte er sich eingehandelt, als er noch ganz jung und hitzig gewesen, und nicht wie jetzt fähig war, sein gewaltiges Temperament in Schach zu halten. Die Narbe sollte ihn an diesen Zwischenfall erinnern, und ihn daran hindern, daß er ihn vergaß. Er hatte sie vom größten Fechter von ihnen allen bekommen, Tarmans Lehrmeister - Duncan Yol.
Sie knieten alle nieder und grüßten ihn, so wie jeder Maruder es tun würde. Sie hielten die Säbelklingen zwischen den Händen und küssten sie mit den Lippen, während sie ihm ihre Treue ausdrückten.
Er wartete bis dieses Ritual zu Ende war. Seine Macht über die Welt war auf ihrer Treue aufgebaut, und so wartete er.
Schließlich gebot er ihnen, sich zu erheben und stellte sich vor Tarman. Er mußte nach oben schauen, um ihm in die Augen zu sehen.
"Jetzt komme ich zu dir," begann er. Tarman nickte und betrachtete ihn mit seinen harten Augen.
"Das ist mir eine große Ehre, mein Kaiser!" Tarmans Stimme war rauh wie der nackte Fels.
"Ich brauche mehr als die Hilfe der Maruder," sprach Angicore weiter. "Ich brauche deine Hilfe!"
"Nichts wird mich daran hindern, Euch zu dienen, Euere Gnaden!" Tarman hob das Schwert und führte die Klinge an die Lippen, wie eine vielsagende Geste.
"Du sollst für mich kämpfen und für mich Zeit gewinnen, während ich in anderen Geschäften unterwegs bin."
Tarman nickte ernst. "Sagt mir nur, wer es ist, und ich ritze seinen Namen in meine Klinge, möge der Tod ihm gnädig sein..."
"Sein Name..." Angicore flüsterte. Tarman nickte bereitwillig.
"Sein Name ist Skeletore, der Ritter des Todes, der ausgeritten ist durch die Tore von Rana, um meinen Sohn zu holen, den Erben meines Thrones und den Kaiser über die Welt nach mir."
Die Maruder erstarrten und stießen mit einem lauten Knall die Klingen in den Boden.
Schweiß lief in großen Tropfen über Tarmans Stirn und tropfte von seiner Nase. Er trocknete ihn mit der Rückseite seiner behaarter Faust, hob das Schwert an seine Lippen und berührte es ganz leicht. Mit geschlossenen Augen antwortete er: "Ihr seid Euch klar darüber, um was Ihr mich da bittet?" Die Worte waren nur ein heiseres Flüstern.
Der Kaiser nickte.
"Ich kann nicht über Skeletore siegen, Euer Gnaden. Kein lebendes Wesen kann über Skeletore siegen."
"Ich kann es!" antwortete Angicore mit rauher Stimme. "Nur nicht jetzt. Ich muß Zeit gewinnen, darum - und nur darum - bin ich gezwungen, um deine Hilfe zu bitten. Glaub mir, ich hätte dich nie um dies gebeten, wenn es einen anderen Ausweg gegeben hätte."
Tarman nickte. Er trat einen Schritt zurück, kniete nieder und griff mit seiner freien Hand nach dem zusammengebundenen Haar in seinem Nacken. Er hatte wie alle Maruder dies besondere Kennzeichen.
Während der Kaiser zusah, beugte er den Kopf vor und schnitt mit einer blitzschnellen Bewegung mit dem Schwert das Haar ab und erhob sich wieder. Darauf reichte er es in die ausgestreckte Hand des Kaisers.
"Betrachtet es als schon geschehen, Euere Gnaden. Ich hoffe, ich kann die Zeit für Euch gewinnen, die notwendig ist!"
Angicore ließ den Blick auf dem Haar in seiner Hand verweilen. Dann schloß er die Hand um es herum und drehte sich um, um zu gehen. In der Türöffnung blieb er ein letztes Mal stehen und sagte: "Alles sei dir gegönnt, bevor du fortziehst. Aber ich muß dich bitten, dich auf den Weg zu machen, schon bevor die Sonne bei Illemed über das Meer steigt. Was du für nötig hältst, damit die Frist so lange wie möglich dauert, soll dir gegeben werden. Kein Wunsch, den du hast, ist zu groß."
Tarman nickte ehrerbietig. "Euer Wille ist mein Befehl," flüsterte er.
Angicore verließ das Haus und ging durch das Maruder Viertel zurück zum Palast, um seine Pläne weiter auszuführen.
Noch bevor die Sonne über das Meer gestiegen war, war er unterwegs.
Als er durch das nördliche Tor ritt, sah er die Spuren von Hufen auf der Erde, die nach dem Regen weich war.
Weiter draußen auf der Steppe, wo es noch nicht geregnet hatte, hing der Staub immer noch über der Spur von dem, der vor ihm ausgeritten war. Er sah prüfend auf die Wolke in der trockenen, kalten Luft und wußte, daß es Tarman war.
Er spornte seinen schwarzen Trakehner Hengst an und donnerte über die Steppe, in Tarmans Spur.
Während er ritt, stieg die Sonne über die ferne Krümmung des Meeres und warf ihre ersten Strahlen über die Länder hinter den Stränden von Dynadan.
Sie glitt langsam an einem klaren, leuchtendblauen Himmel nach oben, während sie den Tau von jedem einzelnen Halm verdunstete, und die Schatten zwischen die Häuser in Krilanta und zwischen die Bäume in den tiefen Wäldern der Berge in die Flucht jagte. Beim Ebenholzfelsen wurden ihre Strahlen mit einem weißglühenden Schein reflektiert, der die äußerste Reihe der gefallenen, abgestorbenen Stämme streifte.
Während die Welt erwachte, während die Vögel das Kommen des Tages mit ihren zarten, schrillen Stimmen priesen, ritten die zwei in derselben Spur hinaus, auf ihrer Jagd nach der Zeit und dem Tod. Der eine mit Furcht um das Leben eines anderen, der andere mit der Furcht um sein eigenes.