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Der Baum

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Er verließ die leuchtenden, mondbeschienenen Stufen der meterbreiten Marmortreppe und ging mit langsamen Schritten über den Kies im Palastgarten. Es knirschte trocken unter den harten Sohlen, ein Geräusch, das man weithin hören konnte -denn es war das einzige Geräusch, das es gab.

Während er ging, betrachtete er die Sterne. Sie waren von unendlicher Zahl, wie die Körner in dem Kies, den seine Stiefel betraten. Er stellte sich vor, daß er auf so einem Korn lief, der allmächtige Jaranakaiser, und fühlte sich auf einmal völlig unbedeutend.

Sein Blick wanderte vom Himmel weg und fiel stattdessen auf die goldenen Tore, die sich vor ihm auftürmten.

Auf jeder Seite der Tore stand ein Maruder Wache.

Sie standen mit gespreizten Beinen da und rührten sich nicht sofort. Erst, als er näher kam, und sie sehen konnten, wer er war, richteten sie sich auf und schlugen die Hacken zusammen. Es dröhnte im Hof, bis der Lärm, den sie hervorgebracht hatten, seinen Weg über die Dächer fand und verhallte.

Einer von ihnen machte Anstalten, für ihn das Tor zu öffnen, aber er gebot ihm mit einer Handbewegung, es sein zu lassen.

Er wollte es selbst tun.

Er zog das Tor hinter sich zu. Es war schwer und forderte für einen Augenblick seine ganze Kraft.

Dann lief er weiter in die Dunkelheit und die Schatten, über die großen Rasenflächen, die in weich geschwungenen Hügeln zum Fluß und zum See abfielen.

Das Wasser gluckerte über die Steine und floß träge an ihm vorbei, auf die unterirdische Grotte an der Mauer zu. Von dort floß es weiter in einem unterirdischen Tunnel zum Meer.

Er wanderte im Schatten der Gayabäume, in der Dunkelheit unter den gewaltigen Kronen. Ihre Ranken und Blätter hingen wie ein Schleier über ihm, am Ufer entlang.

Mitten im Wispernden Park ging er auf eine Brücke, überquerte den Fluß und betrat das Ufer auf der entgegengesetzten Seite.

Es war eine besondere Brücke, diese, seine Brücke. Gehauen aus einem einzigen Gayastamm und doch imstande, den breiten Abgrund, den der Fluß bildete, zu überspannen.

Er lauschte seinen eigenen Schritten und fühlte sich beobachtet.

Er, Angicore herrschte hier, so lange es Tag war. Er herrschte hier, bis die Sonne hinter den Bergen im Westen unterging. Aber nachts herrschte ein anderer als er im Wispernden Park.

Er lief weiter zwischen den Zwillingssteinen hindurch und ging langsamer. Der Baum stand vor ihm, der Baum Gaya. Er war so groß, daß kein Turm seines weißen Palastes über seine Krone ragte. Seine Millionen von Blättern hingen wie kleine glänzende Silbermünzen im Mondschein, und lange, bevor er ihn erreichte, war er schon in seinem Schatten gewandert.

Er blieb stehen und betrachtete den knorrigen Stamm. Er war so dick, wie Zarafirs Turm und so alt wie das Land Dynadan. So mächtig war sie, die Kraft des Baumes, daß sie diesem Ort ihren Namen gegeben hatte. Er stand da und wartete im Staub, dort wo die knorrigen Wurzeln sich in die Tiefe der Erde bohrten.

Ein sachter Wind flüsterte in den Zweigen über seinem Kopf.

Er fühlte die Anwesenheit des Gedankens, der diesen Ort schützte. Hier, zwischen den Zwillingssteinen, war noch nie Blut vergossen worden. Es würde auch in Zukunft nie geschehen.

Er wußte das. Selbst, als Han O`Lan über das Meer zog, geschickt von Djihba aus Illemed, war hier nicht gekämpft worden. Keiner konnte hinterher erklären, weswegen. Aber er wußte, warum.

Die Ranken des Gayabaumes senkten sich über ihm hinunter, so langsam, wie der Mond über das Himmelsgewölbe zieht, und genauso leise.

Er blieb stehen und ließ es geschehen.

Die Zweige knackten leicht, während die Blätter an ihm vorbeizogen und die Sterne verschwinden ließen. Schließlich stand er in vollkommener Dunkelheit, mit geschlossenen Augen und hektisch klopfendem Herzen.

Dann geschah es.

"Willkommen, Angicore von Dynadan."

Die flüsternde Stimme war rauh und doch sanft, so alt wie die Welt selbst und doch voller Lebenskraft. Der Baum sprach zu ihm, wie er einmal vor langer Zeit zu Skillion gesprochen hatte.

"Danke," flüsterte er und wartete.

"Wir wissen, warum du gekommen bist, oh Angicore von Dynadan. Wir wissen, warum..." Sie holperte ihm entgegen, Gayas gleichzeitig heisere und weiche Stimme.

"Ich traf Zeit..." begann der Kaiser.

"Wir wissen Bescheid," flüsterte Gaya.

Die Zweige schaukelten leicht im Wind und die Ranken schabten gegen seinen Mantel, befühlten ihn vorsichtig, ohne ihm Schaden oder Schmerz zufügen zu wollen.

"Jemand will mir Böses antun," sagte Angicore. "Ich möchte wissen, wer, damit ich meine Maßnahmen treffen kann. Ich möchte nicht, daß noch einmal dasselbe eintrifft wie damals, als das Böse über das Meer kam, aus Illemed."

"Das wird nicht geschehen, vorläufig," flüsterte der Baum. "Dazu bist du zu weise, Angicore, dazu bist du zu weise. Denn du hast verstanden, was nur so wenige Herrscher verstehen: daß Menschen, die gut leben, den Frieden möchten."

"Ich tu es, so gut ich es vermag," antwortete der Kaiser.

"Wir wissen Bescheid..." holperte Gaya. Die Blätter um ihn raschelten.

Angicore wartete, daß Gaya weitersprach, aber die Stimme war verstummt. Nachdem er eine Weile gewartet hatte, fragte er: "Was ist es, das geschehen wird? Was kann so gefährlich für mich sein, daß ich nicht im Stande bin, mich dagegen zu schützen? Ich gebiete doch über das stärkste Heer der Welt!"

"Wir wissen von allem, über das du gebietest, Angicore. Wir wissen alles, denn Wir stehen hier auf dem Hügel und sehen jeden einzelnen Tag über die Welt hinaus. Wir sehen, was wert ist, gesehen zu werden."

Die Stimme sprach langsam zu ihm, um sicherzugehen, daß er es verstand.

"Aber auch Wir haben gesehen, was geschieht. Und trotz unserer gewaltigen Kraft, sind Wir nicht in der Lage, zu helfen, denn es ist etwas, das nur die Menschen betrifft. In einer solchen Sache können nicht einmal Wir, Gaya, eingreifen. Aber du sollst wissen, daß Wir, Gaya, mit dir leiden!"

Gayas Worte waren für ihn eine Bestätigung der Existenz einer grauenhaften Wahrheit, die er noch nicht kannte. Die Gewißheit dieser unbekannten Bedrohung ließ ein eiskaltes Gefühl durch ihn fahren.

"Was habe ich falsch gemacht?" fragte der Kaiser verwirrt.

"Nichts!" seufzte Gaya. "Aber Sorgen treffen nicht nur die, die sich an der Welt vergangen haben. Wir wissen, daß es so ist!"

"Erzähl mir, was geschehen wird," bat Angicore.

"Dann mußt du Uns etwas versprechen," flüsterte der Baum. "Du mußt Uns ein Versprechen dafür geben. Einen Preis, würden einige sagen..."

"Nenne deinen Preis. Ich bin ein reicher Mann, Gaya!"

Einen Augenblick folgte ein Schweigen.

Angicore versuchte, auszurechnen, was das für ein Preis sein könnte. Als Gaya wieder seine Stimme hören ließ, wußte er, daß er es nicht richtig eingeschätzt hatte.

"Wir brauchen kein Gold oder edle Steine der Menschen," polterte die Stimme. "Wir werden um etwas anderes bitten. Ein Versprechen, das nur du, Angicore, wirst geben können."

"Nenn es und es wird dir gegeben..."

"Oh, Angicore, Du sprichst, als hättest du noch nicht den Ernst dessen, was geschieht, verstanden. Aber hier ist unser Wunsch: Daß du, Angicore, Kaiser über Dynadan, der Mächtigste unter den Menschen, dies nie Miran erzählst, deiner kaiserlichen Gemahlin."

Er versuchte unwillkürlich, einen Schritt zurück zu machen, aber die Zweige preßten sich gegen seinen Rücken und brachten ihn dazu, stehenzubleiben.

"Warum?" flüsterte Angicore heiser. Er fühlte den Schweiß, der ihm in Tropfen über seinen Hals lief.

Es folgte eine kleine Pause, bevor Gaya wieder seine Stimme ertönen ließ.

"Weil, Angicore - alles im Leben seinen Preis hat, auch ein Rat von Gaya, dem Weisen..."

Die Stimme kam zu ihm wie ein Zischen zwischen den Blättern. So machtvoll war diese Stimme, daß sie nicht über die Welt hinaus gerufen werden mußte, damit der Mächtigste unter den Menschen sie hören konnte. Alles, was sie zu tun brauchte, war zu flüstern. Und Angicore hörte sie.

"Das kann ich nicht versprechen!" rief Angicore laut.

"Du wirst mir das Versprechen geben, bevor die Nacht um ist," flüsterte Gaya.

"Nie!" sagte Angicore hart. "Laß mich nun gehen, ich werde nie wieder um deinen Rat bitten, Weiser Gaya..." Er vermochte nicht den Zorn in seiner Stimme zu verstecken, und er wußte, daß Gaya ihn bemerkte.

"Irgendwo auf der Welt ist die Sorge auf dem Weg, einen Platz in deinem Leben einzunehmen, Angicore. Aber eine kleine Hilfe werden Wir dir geben, denn Wir, Gaya, wollen uns nicht den Zorn des Mächtigsten unter den Menschen zuziehen."

Angicore hielt den Atem an und wartete. Er verstand nicht, warum ihm die Antwort nicht einfach gegeben werden konnte, aber so war es. Es gab immer noch viel, was er nicht verstand.

Er dachte an Skillion; der hätte es verstanden.

"Such nahe bei dir selbst!" flüsterte Gaya.

"Das ist, was Zeit gesagt hat," seufzte er müde.

"Wir wissen Bescheid..." holperte Gaya sanft.

Er fühlte den Zorn in seinem Innern aufschäumen. Er ballte die Fäuste und legte trotzig den Kopf zurück. Dann öffnete er die Augen und starrte hinauf in die Dunkelheit der herunterhängenden Zweige. Er beobachtete den Stamm zwischen den schwarzen Schatten der Blätter, der wie eine mächtige, knorrige Säule, gebadet in einem schwachen, violetten Schein, erschien. Er fühlte in seinem eigenen Körper und seiner eigenen Seele die Kraft, die er ausstrahlte. Aber der Zorn hatte sich fast seines ganzen Bewußtseins bemächtigt, und seine Ehrfurcht gedämpft.

"Ich könnte dich fällen lassen!"

Die Worte fanden den Weg über seine Lippen, aber schon während er sie aussprach, bedauerte er es.

"Oh, Angicore, Menschenkaiser..." Die Stimme bebte ganz leicht. "Wir wissen Bescheid über den unbezähmbaren Zorn der Menschen, denn Wir haben ihn die Welt schon vor Djin verwüsten sehen!"

Er seufzte laut und fühlte sich beschämt. Gerade er war es gewesen, Angicore, der Djin zum Leben erweckt hatte. Er hatte das nie vergessen, aber versucht, es seitdem wieder gutzumachen, in seiner Eigenschaft als Kaiser über die Menschen.

"Ich könnte dich nie fällen lassen..." sagte er beschämt.

"Wir wissen Bescheid," sagte Gaya sanft. "Wir sind ewig!"

Stille senkte sich über den Baum, in dessen Schatten er stand.

Er dachte über den Ausspruch: "Wir sind ewig!" nach, und fühlte, daß er es verstand.

"Aber ich kann nicht auf meine Liebe verzichten." sagte er, und versuchte Gayas Verständnis zu gewinnen. "Meine Liebe zu Miran ist für mich das Wichtigste. Habe ich nicht ihr Vertrauen, und sie meines, wird unsere Liebe sterben. Es ist das Wichtigste, daß..."

"Die Menschen haben ganz besondere Kennzeichen. Eines davon ist diese verblüffende Fähigkeit, Dinge zu übersehen, die einfach einleuchtend sind durch ihre Nähe. Du übersiehst das Wichtigste!" unterbrach ihn Gaya.

Er hielt inne in seinem Redeschwall und starrte durch das violette Licht nach oben. Der Stamm betrachtete ihn ohne Augen.

"Das Wichtigste?"

"Eine Liebe, so groß..." flüsterte die Stimme. "Suche nahe bei dir selbst!"

Der Gedanke schlug in ihn ein, wie ein schneidender, weißer Blitz über einem dichten, schwarzen Nachthimmel. Er hielt unwillkürlich die Hand vor den Mund, um das Geräusch seiner eigenen Stimme daran zu hindern, die Stille zu zerreißen.

"Ich kann es nicht ertragen, ihn zu verlieren..." flüsterte er. "Das wäre mein Tod!"

"Wir - Gaya, haben Menschen schwere Bürden tragen sehen. Wir - Gaya, haben diesen Menschen überleben sehen!"

"Aber ich könnte nie..."

"Oh, Angicore..." seufzte der Baum. "Gegen das Schicksal kämpfen selbst Kaiser vergeblich!"

"Ich werde ihn beschützen!" zischte er.

"Wir wissen, daß du ihn beschützen wirst. Wir sehen alles bereits vor Unserem inneren Auge. Wir sehen eine Welt, in der ein Blinder den Fuß des Sehenden führt."

"Was soll ich dann?" fragte er mit einer Stimme, die um einen Rat bettelte.

"Laß das geschehen, was geschehen muß..." Gaya sprach mit Sanftmut zu ihm, versuchte ihn dazu zu bringen, einzusehen, daß das Leben einem Wunden beibringen konnte, die sich nicht heilen ließen, aber Gaya erkannte, daß er vergeblich sprach.

"Nie!" rief der Jaranakaiser. "Ich werde all meine Macht anwenden, all meine Stärke, um zu verhindern, daß es geschieht."

Er ballte die Fäuste und hielt sie wie Hammer vor sich. "Ich bin mächtig. Ich könnte die ganze Welt in Schutt und Asche legen, wenn es mir beliebt. Ich könnte..."

Mitten im Satz hörte er auf, zu sprechen, holte tief Luft und seufzte vor sich hin. Er war der Kaiser, dieser Gedanke streifte ihn und verwelkte zu einem Nichts. Es war alles, was er nicht war, welches ihm plötzlich einen nagenden Schmerz beibrachte.

Er fühlte sich schwindlig und sank auf die Knie in der Dunkelheit unter der Krone des Gayabaumes.

"Gegen den Tod bist du wie ein Tautropfen unter der Sonne, Oh, Angicore..." Die Stimme sprach vorsichtig zu ihm, denn sie wollte nicht seinen Zorn erwecken.

Angicore hatte sich erholt, und der gewaltige Zorn in seiner Seele war von einem mehr gedämpften Willen zur Verteidigung abgelöst worden.

"Ich werde ihn verteidigen, ihn Tag und Nacht bewachen lassen, die mächtigsten Zauberer meines ganzen Reiches herbeirufen und sie mit all ihrer Magie über ihn wachen lassen, die die Welt aufzuweisen hat. Ich werde der Welt zeigen, daß es Dinge gibt, mit denen ich mich nicht abfinde, und die..."

"Oh, Angicore..." seufzte die Stimme müde.

Er schwieg und starrte auf die Erde. Dann schloß er die Augen und fühlte die Tränen, die über seine Wangen liefen. Sie liefen in seine Mundwinkel, bis er den salzigen Geschmack auf seiner Zunge bemerkte.

Und so saß er da, der Jaranakaiser, im Schatten des Gayabaumes und weinte, während die Zweige sich langsam hoben, bis die Sterne wieder ihren bleichen, matten Schein über all das Lebendige und die Stille im Wispernden Park warfen.

Später ging er zurück über die Brücke und über die sanft auf-und absteigenden, hügeligen Kleewiesen zum vergoldeten Tor.

Gaya blieb zurück und betrachtete ihn. Er sah, was geschehen würde und seufzte leise. Er betrachtete die Erde, wo Angicore gestanden hatte.

Dort, wo seine Tränen hingefallen waren, wuchsen die zerbrechlichsten, blauen Blumen. Blau und von so einer klaren Farbe, wie die Augen des Jungen.

Die Tore nach Rana

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