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Erinnerungen an Tadek

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Als Hermann D. das Buch aufschlug, das ihm ein guter Freund ein paar Tage zuvor als Geburtstagsgeschenk überreicht hatte, öffnete sich mit einem Mal ein lange verschlossenes Fenster im Haus seiner Erinnerungen und gab einen Blick zurück in seine Kindheit frei. Das Buch erinnerte an Deutschlands unrühmlichste Vergangenheit und enthielt eine Sammlung von Geschichten und Gedichten, geschrieben von Zwangsarbeitern im Zweiten Weltkrieg. Hermann war in jener Zeit aufgewachsen, doch die meisten seiner Erinnerungen hatten sich im Laufe seines Lebens im Nebel einstigen Geschehens davongestohlen.

Bereits beim Überfliegen des Klappentextes erwachten unvermittelt Bilder aus seiner Kindheit, die tief in seinem Unterbewusstsein geschlummert hatten, Lebenserinnerungen, die teils auf Erleben, teils auf Hörensagen beruhten. Mit den Bildern tauchte ein Mann aus dem Dunst der Erinnerungen auf, der ihm damals viel, der ihm alles bedeutet hatte, ein Mann, der in seiner frühen Kindheit viel zu seiner persönlichen Entwicklung beigetragen hatte.

Hermanns Familie wohnte in jenen Tagen am Rande einer Großstadt des Ruhrgebiets, in einem die Villa genannten Wohnhaus, das zu einem landwirtschaftlichen Gut gehörte. Dort lebte sie in ausreichender Entfernung von den alliierten Bombenangriffen auf die Anlagen der nahen Rüstungsindustrie, die im Visier der Bomber stand. Nur gelegentlich verirrte sich einer von ihnen in die Sichtweite der Außenbezirke und zwang die wenigen Bewohner, vorsorglich Zuflucht im Keller ihrer Häuser zu suchen. Trotz der schwierigen Lebensumstände, die Zeiten des Krieges mit sich bringen, litt Hermanns Familie keine Not. Ihr Garten versorgte sie mit frischem Obst und Gemüse, der Bauer mit Milch, Fleisch, Eiern und anderen Nahrungsmitteln, sodass immer etwas zum Essen auf dem Tisch stand. Zum Glück für die Familie musste der Vater keinen Helden an der Front spielen, um einen Beitrag für den arischen Größenwahn des irrsinnigen Führers mit einer Waffe in der Hand zu leisten. Seine Schaffenskraft wurde in einem heimischen Industrieunternehmen dringender benötigt.

Als kindlich neugieriger Bub, dessen Tagesablauf noch nicht durch die Schule beschnitten war, strolchte Hermann tagsüber unternehmungslustig auf dem Bauernhof herum. Er kannte dort alle Tiere mit Namen: die Pferde, Kühe und Schweine, von Hunden und Katzen ganz abgesehen. Mit Begeisterung stromerte er auch durch die umliegenden Wälder, die für ihn und seine lebhafte Fantasie einen aufregenden Abenteuerspielplatz hergaben. Seiner Mutter gelang es nie, seinen Tatendrang einzudämmen, obwohl sie ihm jeden Tag aufs Neue verbot, auf dem Hof oder in dem Wald allein zu spielen.

Besonders die Scheune des Gutes erkor er sich gerne als Spielplatz, weil es allzeit dort für ihn etwas zu entdecken gab. Hühner legten dort heimlich Eier im Stroh ab, von denen er gelegentlich das eine oder andere davon mit nach Hause nahm. Seine Mutter schalt ihn zwar darob, ließ die Eier jedoch schnell im Küchenschrank verschwinden. Doch nicht nur solche Funde lockten ihn in die Scheune, auch die Lebewesen, die ihr Domizil dort hatten, wie zahlreiche Mäuschen, die ihrem Lieblingsspiel nachgingen, mit den Katzen Versteck zu spielen, und – sehr zu seiner Freude – meistens damit Erfolg hatten.

Als er gerade wieder einmal nach versteckten Eiern Ausschau hielt, hörte er plötzlich hinter sich eine Stimme sagen: „Na, Jungchen, willst doch wohl nicht Eier klauen?“

Hermann erschrak, denn er hatte niemanden kommen gehört. Er wandte sich mit roten Ohren um und blickte direkt in die freundlichen Augen des Knechts, der „Tadek“ gerufen wurde, dessen Familienname sich unaussprechlich anhörte.

„Musst haben keine Angst vor mir!“, beruhigte ihn Tadek. „Aber nicht erwischen lassen, Bauer ist sehr böse.“

Tadek war, wie Hermanns Vater zu Hause berichtet hatte, ein sogenannter Zwangsarbeiter polnischer Herkunft, der neben der Magd Olga dem Bauern als landwirtschaftliche Hilfskraft zugeteilt worden war. Beide trugen auf ihrer Bekleidung als Statuskennzeichnung ein aufgenähtes Stoffabzeichen, das ein P zeigte. Sie mussten von frühmorgens bis zum späten Abend auf dem Hof schuften, wurden jedoch im Vergleich zu den meisten ihrer Leidensgenossen hinreichend verpflegt und – mit Ausnahme von dem Altbauern – anständig behandelt. Dieser bösartige alte Mann mit einer meist schweißglänzenden Glatze, einer roten Knollennase als sichtbarem Nachweis seiner Vorliebe für geistige Getränke aller Art sowie einem Holzbein, mit dem er verbittert aus dem Ersten Weltkrieg heimgekommen war, gebärdete sich ihnen gegenüber wie ein Zuchtmeister. Seit seiner Heimkehr aus der Gefangenschaft schikanierte er alle Menschen in seiner Umgebung. Wenn er zu viel getrunken hatte, was fast täglich der Fall war, machte er selbst vor Handgreiflichkeiten nicht halt. Ständig drohte er mit seinem Stock, den er als Gehhilfe benötigte. Er ging in seinem ungezügelten Zorn auf die Welt sogar so weit, wehrlose Opfer wie die schutzlose Olga vor aller Augen mit seiner Reitpeitsche durch Schläge auf ihr Hinterteil zu misshandeln, weil sie seine Stiefel, wie er behauptete, nicht blank geputzt hätte.

Auf Tadek hatte es der Alte besonders abgesehen. Der Knecht war kein besonders kräftiger, aber ein ziemlich zäher Mann von etwa 35 Jahren, Musiker von Beruf. Der Altbauer beschimpfte ihn „Russenschwein“, wann immer er ihm unter die Augen trat. Doch lachte Tadek ihn jedes Mal aus seinen tiefbraunen Augen an, obwohl ein aufmerksamer Beobachter den Hass in seinen Augen hätte funkeln sehen können. Mit Bedacht murmelte er eine Antwort in seiner Muttersprache, sodass niemand verstand, was er gesagt hatte.

Tage später, nachdem Tadek Hermann in der Scheune erwischt hatte, entdeckte der Bub ihn dösend unter einem Baum am Rande einer Weide. Von dort sollte er die Kühe zurück in den Stall treiben, gönnte sich aber noch eine Stunde des Müßiggangs.

„Jungchen, mein Freund, komm her, ich zeig dir was“, rief er ihm schon von Weitem zu. Hermann eilte herbei, denn er hatte nach der geschilderten Begegnung seine Scheu vor ihm verloren. Er setzte sich neben ihn ins Gras. Tadek brach von einer Weide einen Ast ab und begann, aus dem Holz und der Rinde mit seinem Messer eine Flöte zu schnitzen.

„Soll haben einen schönen Klang, die Flöte, wenn du sie spielst“, bedeutete er dem erwartungsvollen Jungen und bohrte acht Löcher in die ausgehöhlte Rinde. Anschließend drechselte er das Mundstück zurecht, steckte es oben in das offene Rindenröhrchen und ein Endstück in die untere Öffnung. Mit Speichel befeuchtete er das Mundstück eine Weile, bis es geschmeidig war. Als er mit seinem Werk zufrieden war, kündigte er lächelnd an: „Nun wollen wir Musik machen, mein kleiner Freund!“

Er führte das Mundstück zwischen seine Lippen und zauberte auf der Flöte Töne hervor. Hermann war überrascht, mit welch einfachen Mitteln es möglich schien, ein Klanginstrument herzustellen und darauf zu musizieren. Wunderschön klang die Melodie in seinen kindlichen Ohren. Musik kannte er bis dato nur vom Gesang seiner Mutter in der Küche und ein paar Kinderliedern, die sie ihm beigebracht hatte. Nach einer Weile fragte Tadek den Jungen, ob er nicht ebenfalls einmal versuchen wolle, auf der Flöte zu spielen. Er zeigte ihm die notwendigen Fingergriffe und wiederholte den Anfang des Liedes, das er zuletzt hatte ertönen lassen. Hermann merkte sich genau, wie sich Tadeks Finger auf den Löchern bewegten, denn er besaß ein gutes Gedächtnis und konnte zu jener Zeit bereits Gedichte aufsagen, die seine Mutter ihm eingetrichtert hatte. Dann steckte er das Mundstück zwischen seine Lippen, um dem Spiel seines Lehrers nachzueifern. Doch gab die Flöte nur ein paar schrille Töne her.

„Musst legen deine Fingerchen genau mitten auf die Grifflöcher, Jungchen!“, forderte Tadek ihn auf und half ihm, seine kleinen, noch ungelenken Finger richtig zu platzieren. Es dauerte nicht lange, bis es auch dem Jungen gelang, der Flöte reine Töne zu entlocken. Nachdem sie noch ein wenig geübt hatten, konnte er bereits eine erste kleine Melodie auf der Flöte spielen.

Stolz und glücklich ging er abends mit seiner neuen Errungenschaft heim, erklärte seiner Mutter mit erstaunlicher Bestimmtheit, ein Musiker werden zu wollen, und trug ihr die gelernte Weise vor. Nachdem er auf ihre Frage hin geschildert hatte, wie er in den Besitz der Flöte gelangt war und wer ihn in ihrem Spiel unterwiesen hatte, fuhr sie ihn an: „Dieser Mann ist kein Umgang für dich! Ich verbiete dir jeden weiteren Kontakt mit ihm. Sollte ich dich jemals mit ihm erwischen, gibt es Hausarrest!“

Hermann fand für ihre Aufregung keine Erklärung und erhielt auf seine Frage nach dem Warum? keine einleuchtende Antwort. Daher ließ er es erst einmal bei dem Verbot bewenden. Er wusste, dass es sich in seiner kleinen Welt kaum vermeiden ließ, Tadek über den Weg zu laufen. Jedes Mal sprach der Knecht ihn freundlich an, wenn sie sich begegneten. So blieb es nicht aus, dass Hermanns Zuneigung zu ihm von Tag zu Tag anwuchs. Tadek beschäftigte sich zu jener Zeit mehr mit ihm als sein Vater, der viel und lange zu arbeiten hatte und dem es an der notwendigen Zeit mangelte.

Eines Tages zog Tadek eine Mundharmonika aus seiner Jackentasche hervor und entlockte ihr kunstfertig wunderschöne Melodien. Auch sang er mit seiner tiefen Bassstimme dem Jungen schwermütige Lieder aus seiner Heimat vor. Tadek verfügte über ein unerschöpfliches Repertoire und legte – im Nachhinein betrachtet – den Grundstock für Hermanns lebenslange Liebe zur Musik, die in dem kindlichen Wunsch gipfelte, selbst ebenfalls ein Musiker zu werden.

Ganz ungetrübt blieb das Verhältnis der beiden indes nicht. Dies hing mit einer Begebenheit zusammen, auf die der Junge nicht vorbereitet war. Er schlich einmal wieder in die Scheune auf der Suche nach Abenteuern, als ein heftiges Stöhnen seine Neugier anlockte. Auf Zehenspitzen schlich er sich näher und erblickte hinter einigen aufgeschichteten Strohballen zwei halb nackte Körper, die etwas miteinander taten, wie er es ähnlich einmal bei Pferden gesehen hatte, was ihm trotz seiner nachdrücklichen Fragen niemand hatte erklären wollen: Tadek und Olga! Wie vom Blitz getroffen, verharrte er hinter einem Strohballen, bis er ein kräftiges Niesen nicht unterdrücken konnte. Die beiden fuhren hoch, Olga errötete und bedeckte schamhaft ihre Blöße. Tadek indes meisterte die Situation sofort auf seine Weise.

„Kleiner Bruder“, so nannte er ihn inzwischen, „komm her!“ Er breitete seine Arme aus. „Du wirst mich doch nicht verraten wollen? Du kannst doch ein Geheimnis bewahren?“

„Ja, Tadek“, stotterte Hermann verwirrt.

„Dann darfst du niemandem erzählen, dass du Olga und mich hier gesehen hast. Versprich es mir!“

„Ja, ich verspreche es.“

„Großes Ehrenwort?“

„Großes Ehrenwort!“

Hermann rannte in den Wald. Er wollte allein sein, denn er fürchtete, dass ihm anzumerken war, was er erlebt hatte. Die Krallen der Eifersucht griffen nach ihm, Eifersucht auf Olga, die seinen Tadek zu dem Unaussprechlichem verführt hatte. Tadek hatte er längst für sich vereinnahmt, konnte sich nicht ausmalen, dass sein Freund auch Interesse für andere Menschen zeigte. Er war nicht bereit, ihn mit anderen zu teilen, obwohl auch Olga immer freundlich zu ihm gewesen war, ihm öfter etwas Leckeres zum Naschen zugesteckt hatte. Groll und Trauer nahmen gleichermaßen Besitz von ihm. In den nächsten Tagen machte er einen großen Bogen um das Gut, um nicht der Gefahr ausgesetzt zu sein, Tadek in die Arme zu laufen.

Erst nach und nach kam er über das Vorgefallene hinweg, zumal er Tadek und Olga nie mehr zusammen sah und er ihm als Spielkamerad fehlte. Seine Musik vermisste er, ebenso die Geschichten von den unsichtbaren Bewohnern des Waldes, den Geistern, den Elfen und Faunen, die Tadek ihm spannend zu erzählen wusste. Er glaubte sie inzwischen hinter jedem Baum und Strauch zu erblicken, wenn er auf Abenteuersuche unterwegs war. Sogar nachts spukten sie durch seine kindlichen Träume.

Eines Tages fragte Tadek ihn: „Wollen wir bauen einen Windvogel?“

„Ja, gerne!“, antwortete Hermann begeistert und voller Vorfreude.

In seiner Kammer hatte Tadek Holzleisten, Papier und Kordel bereitliegen, notwendige Bauteile, die er angesammelt hatte. Die Leisten baute er zu einem Kreuz zusammen, das größer als sein kleiner Freund war und dessen Enden er mit der Kordel verband, sodass eine Raute entstand. Dann befestigte er darauf mit stabilem Packpapier die Segelfläche und beklebte sie mit farbigen Augen, einer dicken, roten Nase wie der des Altbauern und einem Mund, sodass der Vogel ein freundliches Aussehen erhielt. Am unteren Ende wurde ein langer Schwanz mit farbigen Papierschleifen angehängt, der den Vogel im Gleichgewicht halten sollte.

Bald schon konnten sie erste Flugversuche unternehmen. Gemeinsam ließen sie den Windvogel an einer langen Leine am Himmel schweben. „Weißt du, kleiner Bruder“, sagte Tadek eines Tages nachdenklich, „wenn Krieg ist vorüber, werde ich mit diesem Vogel zurück in meine Heimat fliegen.“

Wann immer der Bub an diese Worte dachte, wurde ihm traurig ums Herz.

Wenige Wochen später erfuhr Hermann aus den Gesprächen seiner Eltern, dass der Krieg ein Ende gefunden hatte. Die Tage waren von nun an ungestörter Arbeit vorbehalten, die Nächte vergönnten der Bevölkerung wieder Schlaf und Erholung. Scheinwerferstrahlen leuchteten nicht mehr den Nachthimmel nach feindlichen Bombern ab, die Sirenen hatten aufgehört, die Bevölkerung vor ihrem Herannahen zu warnen. Auch auf die Verdunkelung der Fenster abends konnte verzichtet werden.

Eines Abends kam sein Vater nach Hause und erkundigte sich bei seiner Mutter, ob sie die entsetzliche Neuigkeit vom Gut schon gehört hätte?

„Was gibt es denn?“, fragte sie neugierig. Ihr war noch nichts zu Ohren gekommen.

Hermanns Vater berichtete: „Als das Personal beim Abendbrot saß, kam der Alte völlig betrunken in die Stube getorkelt, sein Gewehr, das er aus Furcht vor flüchtigen Zwangsarbeitern jetzt ständig bei sich trug, unterm Arm. Er legte damit auf diesen Tadek an und soll ihn angeschrien haben: ‚Du verdammtes Russenschwein fährst nicht als Sieger nach Hause. Eher knall ich dich ab. Ich kann dein ewiges Grinsen schon lange nicht mehr ertragen.’ Er beabsichtigte offensichtlich allen Ernstes, Tadek zu erschießen. Der jedoch soll ganz ruhig aufgestanden sein und plötzlich eine Pistole in der Hand gehabt haben … Dann ging alles ganz schnell: Der Alte feuerte hasserfüllt, traf jedoch seines Zustands wegen nur den Schrank an der Wand, in dem das Porzellan zu Bruch ging. Im gleichen Moment stürmte die Jungbäuerin in die Stube, bullerig, wie es ihre Art ist. Die Tür traf Tadek dabei am Arm, ein Schuss löste sich aus seiner Pistole. Der Alte sank getroffen zu Boden, wo er letztlich verblutete, weil die herbeigerufene ärztliche Hilfe nicht mehr rechtzeitig eintraf. Tadek indes nutzte die entstandene Panik und machte sich aus dem Staub. Niemand hielt ihn auf. Obwohl die Behörden nach ihm fahnden, ist bisher noch keine Spur von ihm entdeckt worden. Er wird sich wohl in den Wäldern versteckt halten.“

„Nun, ich kann nicht behaupten, dass der Alte ein solches Ende nicht verdient gehabt hätte“, meinte die Mutter, errötete schamhaft bei diesen Worten und bekreuzigte sich mehrmals, denn sie war eine fromme Frau. „Aber dieser Tadek besaß kein Recht zur Selbstjustiz. Derlei Zeiten sollten in Deutschland jetzt ein für alle Mal vorbei sein.“

„Deine Worte in Gottes Ohr!“, beschwor der Vater. „Ob Tadek gezielt geschossen hat oder eine höhere Macht im Spiel war, werden wir nie erfahren, falls der Knecht nicht gefunden wird“, fügte er hinzu.

Hermann überlegte. Wo konnte Tadek sich verborgen halten? Er dachte nach. Ein mögliches Versteck kam in den Sinn, da kaum jemand den nahen Wald besser kannte als er. „Ich geh noch ein bisschen draußen spielen“, rief er, ohne eine Zustimmung seiner Eltern abzuwarten, und rannte in den Wald. Dort befand sich, hinter fast undurchdringlichen Büschen verborgen, eine kleine Höhle, in der Tadek und er öfter Unterschlupf gesucht hatten, wenn es regnete. Von deren Vorhandensein wusste wahrscheinlich kaum jemand. Auf den ersten Blick erkannte der Junge, dass Tadek hier gewesen sein musste. Auf einem Stein lag, in einem Futteral, Tadeks Mundharmonika mit einem Zettel, auf dem in einer fremden Sprache in Großbuchstaben geschrieben stand:

NIE ZAPOMNIJ MNIE, MOJ MALY BRACISZKU.

Hermann steckte den Zettel in seine Tasche. Er begriff schweren Herzens, dass er Tadek nie mehr wiedersehen würde. Seinen liebsten Spielkameraden hatte er verloren. Tränen abgrundtiefen Schmerzes bemächtigten sich seiner, er vergaß die Zeit. Erschöpft schlief er schließlich in der Höhle ein und wurde erst wieder wach, als er draußen – es war noch dunkel – seinen Namen rufen hörte. Verschlafen kroch er aus seinem Versteck und legte sich schnell unter den nächsten Baum, wo er sich von seinen besorgten Eltern auffinden ließ. Tapfer hörte er sich ihre Vorwürfe an, ohne ihnen zu verraten, was ihn in den Wald getrieben hatte.

Olgas Heimatdorf war im Krieg dem Erdboden gleichgemacht worden, ihre engere Verwandtschaft hatte den Tod gefunden. Daher hatte sie sich entschlossen, vorläufig noch auf dem Hof zu verbleiben, was den Bauersleuten recht war. Sie übersetzte, was Tadek geschrieben hatte:

VERGISS MICH NICHT, MEIN KLEINER BRUDER.

Lange Zeit konnte Hermann seine Traurigkeit nicht überwinden. Tadek fehlte ihm zu sehr. Er vermisste ihn, seinen großen Bruder, zumal er selbst keine Geschwister hatte. Als er sich auf dem Hof auf die Suche nach dem Windvogel machte, blieb er ohne Erfolg. Er vermutete, dass Tadek ihn in der Tat zur Flucht benutzt hatte, äußerte seinen Verdacht jedoch mit keinem Wort. Die Mundharmonika hütete er als kostbarstes Juwel seiner Kindheit, aber er spielte nur noch gelegentlich auf ihr, weil ihr Klang ihn mit Herzweh erfüllte.

Neue Erfahrungen überfluteten ihn, den aufs Leben neugierigen Jungen, neue Abenteuer vermengten sich mit seinen Erinnerungen. Schließlich verklangen die Töne der Mundharmonika vollends und verflüchtigten sich in sein Unterbewusstsein, nicht aber die von Tadek geweckte Liebe zur Musik.

Bei einem Umzug ging die Mundharmonika später verloren. Mit ihr versiegten letztlich auch die traurigen Erinnerungen an seinen verlorenen Freund.

Als Hermann ein paar Tage nach seinem Geburtstag das Buch zur Hand nahm und darin zu lesen begann, wurde schlagartig seine Kindheit wieder lebendig. Er spürte, wie sein großer Bruder Tadek den Arm um seine Schulter legte und hörte ihn fragen: „Soll ich spielen für dich auf der Mundharmonika, kleiner Bruder?“

Ehe Hermann antworten konnte, erklangen die Töne einer Mundharmonika in seinen Ohren mit den schwermütigen Melodien aus Tadeks Heimat.

In diesem Moment fühlte er sich zurückversetzt in die Tage unbeschwerter Kindheit, und ein glückliches Lächeln legte sich auf seine Gesichtszüge.


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