Читать книгу Beispielhaft - Claus Karst - Страница 8

2. Akt (Blue Notes)

Оглавление

Zu seiner Überraschung traf Wotan im Orchester auf seinen Schulfreund Hotte Wingender, Sprössling einer Musikerfamilie der Sinti. Sie hatten gemeinsam das Gymnasium besucht, zeitweilig in derselben Klasse. Nach dem Abitur begannen sie ihre Ausbildung auf der renommierten Musikhochschule der Stadt. Während dieser Zeit jazzten sie zusammen in einer Hoch­schulband, um sich ein bisschen Taschengeld zu verdienen.

Bei den Philharmonikern spielte Hotte die Solo-Klarinette, beherrschte aber auch die Familie der Saxofone. Für das geplante Jubiläumskonzert war ihm die Interpretation von Mozarts Klarinettenkonzert übertragen worden. Er war stolz darauf, dass die Veranstalter ihm ihr Vertrauen schenkten und nicht einen Star von außerhalb verpflichtet hatten.

Die beiden Jugendfreunde begrüßten sich mit einer freundschaftlichen Umarmung, denn sie hatten sich Jahre nicht mehr gesehen. Nachdem sie einige Erinnerungen ausgetauscht hatten, berichtete Hotte ihm, dass er wieder eine Jazz-Combo gegründet hätte, weil er sich ohne Jazz nicht als echter Musiker fühle. Zweimal in der Woche träte er abends im Blue Notes auf, wenn ihm seine Zeit und seine Engagements dies er­laubten. Er lud ihn für den Abend vor der Gene­ralprobe ein. „Dann kommen wir mal auf andere Gedanken, Alter.“

Wotan war gespannt. Das Blue Notes genoss seit etlichen Jahren einen überragenden Ruf in der Jazzszene. Gerne nahm er die Einladung an, die Erinnerungen an seine Studienzeit weckte.

An besagtem Abend fuhr Wotan gegen 22 Uhr mit dem Taxi ins Blue Notes. Inzwischen hatte er erfahren, dass Hotte, der die Jazzszene nie völlig verlassen hatte, an dem Club beteiligt war. Er befand sich im Kellergeschoss eines ehemaligen Fabrikgebäudes. Als Wotan die Eingangstür öffnete, schreckte er zurück. Ein fast undurchsichtiger Nebel aus dichtem Tabakrauch empfing ihn in dem Raum. Die Luft in dem Club war keinesfalls gut für ihn vor dem Opernengagement. Er hatte auf seine Stimme zu achten. Daher nahm er sich vor, nicht allzu lange zu bleiben. Er wollte aber Hotte nicht enttäuschen, da er sein Kommen zugesagt hatte.

Die Band legte gerade eine Pause ein. Wotan suchte nach seinem Freund, den er an der Theke entdeckte. Hotte stellte ihm seine Combo vor, einen Schlagzeuger, einen Elektrobassisten, einen Gitarristen, einen Keyboarder. Er selbst musizierte auf einem Tenorsaxofon und einer Klarinette. Alle Musiker gehörten den Philharmonikern an und hatten sich ihre Jugendliebe zum Jazz bewahrt.

Nachdem sie ein Glas Bier miteinander getrunken hatten, gingen die Musiker zurück aufs Podium. Wotan suchte sich einen freien Tisch, bestellte noch ein Bier und war gespannt, was die Musiker in dieser ungewöhnlichen Kombination zu bieten hatten. Sie spielten einen unkonventionellen, eigenen Stil, nicht gerade progressiv, sondern sie variierten die Melodien weitgehend auf klassische Weise. Gelegentlich schlich sich ein Touch Gipsy-Jazz ein, den Hotte im Blut hatte und beisteuerte.

Der Club war gut gefüllt, es herrschte eine prächtige Stimmung, ein Großteil der Gäste schien ihn regelmäßig zu besuchen und sich zu kennen. Sogar auf der Tanzfläche tummelten sich ein paar Unentwegte.

Als Wotans Augen sich einen Weg durch die Rauchschwaden bahnten, fiel ihm eine junge Frau in Jeans und einem roten Wickelpulli auf, um die dreißig vielleicht, mit rotblonden Haaren. Sie setzte dort allein und in sich versunken den Rhythmus der Musik in Tanz um. Ihre Bewegungen fesselten ihn. Schon bald konnte sich Wotan von diesem Bild nicht mehr lösen, vor allem, weil diese Frau ihn an jemanden erinnerte. Er beobachtete sie genauer. Schließlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Genau wie sie hatte Anja Söderström ausgesehen, als sie sich kennengelernt hatten. Anja, die wunderbare schwedische Mezzo-Sopranistin, in die er sich dazumal bis über beide Ohren verknallt hatte, mit der ihm fälschlich ein Verhältnis nachgesagt worden war. Einmal wäre es fast zu einem Mehr gekommen, hätten ihre Gefühle füreinander die Oberhand gewonnen, aber schließlich hatten sich beide eine zu enge Beziehung versagt. Sie wollten ihre Künstlerfreundschaft nicht gefährden. Anja war bereits vor Jahren einem Krebsleiden erlegen, was als großer Verlust in der Opernszene angesehen worden war. Heute erinnerten nur noch einige wenige Einspielungen auf Tonträgern an diese großartige Interpretin.

War diese Begegnung ein Zufall, ein Wink des Schicksals? Er glaubte nicht an Zufälle. Und während die Musiker den Wild Cat Blues mit einem beeindruckenden Schlagzeug-Solo intonierten, ging die Musik nahtlos über in Georgia, ein Song, den Wotan früher mit großer Hingabe gesungen und mit dem er stets bewiesen hatte, dass auch der Blues durch seine Adern floss.

Nachdem Hotte sein erstes Solo beendet, der Bass das Thema aufgenommen hatte, winkte er seinem Freund zu und bat ihn, zu ihm aufs Podium zu steigen. Wotan folgte der Bitte.

„Und nun bist du dran!“, forderte Hotte ihn auf.

Wotan sah ihn stirnrunzelnd, ja, sogar ein wenig verschnupft an. Auf einen Auftritt war er nicht vorbereitet. Er wollte seinen Freund jedoch nicht brüskieren. Erst piano, aber ein wenig rauchig, ließ er seine Stimme erklingen, als hätte er sein Leben lang nichts anderes gesungen. Dann jedoch legte er eine Inbrunst in seine Interpretation, die ansonsten gewöhnlich nur den Farbigen bei dieser Musik zu Eigen ist. Hotte variierte dazu mit hinreißenden Phrasen zurückhaltend die Melodie.

Plötzlich war es im Club mucksmäuschenstill. Aller Augen richteten sich gebannt auf die Bühne. Nach und nach war ein Tuscheln zu hören: „Weißt du, wer das ist da oben?“

Immer häufiger machte die Antwort die Runde, wenn auch mit Fragezeichen versehen: „Das ist doch … Ist das nicht dieser … Opernsänger? Wie heißt er noch gleich?“

Lang anhaltender Beifall beendete schließlich den Song. Die Musiker erbaten anschließend eine kurze Pause, um ihre Kehlen zu ölen, und begaben sich an die Theke.

Wotan begab sich mit einem frischen Glas Bier auf seinen Platz zurück. Als er sich gesetzt hatte, stand plötzlich die junge Frau mit den rotblonden Haaren und lustigen Sommersprossen im Gesicht vor ihm.

„Ich habe Ihr Bild heute in der Zeitung gesehen, Sie sind doch Wotan van Geel, nicht wahr?“, fragte sie mit dem deutlich hörbaren Akzent der gebildeten englischen Gesellschaftsschicht.

Wotan bestätigte ihre Vermutung, schaute sie leicht verlegen an, war er doch einen engen Kontakt zum Publikum nicht mehr gewohnt. Höflich bot er ihr an, an seinem Tisch Platz zu nehmen. Sie stellte sich als Deutsch-Engländerin vor, mit Namen Eileen Shanahan, Vater Insulaner, Mutter Deutsche, beschäftigt bei der englischen Niederlassung eines Unternehmens dieser Stadt. Nebenher ließ sie ihn wissen, schreibe sie seit ihren Studienzeiten gelegentlich Reportagen und Rezensionen für ein Kulturmagazin. Sie war mittags mit dem Flieger angekommen und hatte den ganzen Tag auf ihr Gepäck warten müssen, das unterwegs verloren gegangen war. In Engand, so erzählte sie, trat sie hin und wieder als Sängerin einer Rock-Band auf. Anlässlich ihres Besuches hier wolle sie sich ein wenig informieren, aber auch amüsieren. Opern waren ihr ebenfalls nicht fremd. Thomas Armsden hatte sie bereits mehrfach auf der Bühne bewundert. Sie beabsichtigte, eine Reportage über seinen Auftritt als Herzog zu verfassen.

Eileen plapperte munter und unbekümmert drauf los, zeigte Interesse für alles, was Wotan ihr zu erzählen wusste. Bereitwillig beantwortete er ihre Fragen. Er war fasziniert von ihrer Unbekümmertheit, ihren funkelnden blauen Augen. Seine Zurückhaltung verlor sich mit jeder Minute. Sie waren so angeregt in ihr Gespräch vertieft, dass es ihnen völlig entging, als die Musiker sich wieder einen Weg auf die Bühne bahn­ten und Aufstellung nahmen.

Wotan wurde erst aufmerksam, als er durch das Gemurmel im Raum Hotte durchs Mikrofon sagen hörte: „Liebe Freunde, ich hatte gedacht, dass alle Anwesenden soeben den Sänger erkannt hätten, obwohl er nicht in der Jazzszene aktiv ist. Zu meinem Erstaunen bleibt mir festzustellen, dass dies nicht der Fall ist. Er ist kein Geringerer als mein lieber Freund aus Jugendzeiten, der bekannte Opernsänger Wotan van Geel, der in unserem Opernhaus den Rigoletto in der Jubiläumsveranstaltung geben wird.“

Beifall brandete auf, im Getuschel an den Tischen war immer wieder zu hören: „Hab ich doch gesagt!“, „Klar, jetzt erkenne ich ihn auch, er war doch in der Zeitung“ …

Hotte fuhr fort: „Wotan, darf ich dich noch einmal auf die Bühne bitten? Ein oder zwei Songs noch? Ich glaube, unser Publikum wird sich freuen.“

Ein beifälliger Applaus verlieh Hottes Wunsch den notwendigen Nachdruck.

Wotan erhob sich langsam von seinem Stuhl, fühlte sich eigentlich von seinem Freund ein wenig überfahren, obwohl er sich hätte denken können, dass Hottes Einladung nicht uneigennützig ausgesprochen worden war. Er begab sich wieder aufs Podium, nahm das Mikrofon in die Hand und sagte: „Danke, liebe Freunde, vielen Dank. Aber ich bitte um Verständnis, dass ich nur noch ein Lied singen werde. Ich muss für die Premiere des Rigoletto meine Stimme schonen. Aus besonderem Anlass, den ich allerdings nicht näher erläutern möchte, singe ich keinen Jazztitel, sondern ein Lied, das sie alle kennen.“

Er wandte sich darauf an Hotte und besprach sich mit ihm. Nach einer kurzen Verständigung setzte der Keyboarder ein mit dem bekannten Sinatra-Song My way, eine erste Variation von Hotte tönte durch den Raum, sehr getragen, sehr melancholisch, bis Wotans Einsatz erfolgte:

And now, the end is near,

And so I face the final curtain.

My friend, I’ll say it clear,

I’ll state my case, of which I’m certain.”

Die Musiker übernahmen das Thema wieder, Wotan trat ein wenig zurück. Mit einem Stirnrunzeln variierte Hotte das Thema. Da war etwas in Wotans Stimme, ein merkwürdiges Timbre, das ihn aufhorchen ließ, ihn irritierte. Das war nicht der Wotan, den er kannte. Und warum gerade dieses Lied? Was wollte sein Freund damit zum Ausdruck bringen? Er machte sich seine Gedanken.

Wotan fuhr fort:

I’ve lived a life that’s full.

I’ve travelled each and ev’ry highway:

But more, much more than this:

I did it my way!”

Nach dieser Strophe übernahmen die Musiker erneut, ein jeder mit einem Solo. Schließlich trat Wotan wieder vor, um eine letzte Strophe zu singen, dieses Mal auf Deutsch:

Und dennoch denk ich gern zurück,

ich hatte Glück, verdammt viel Glück,

ich kann zu vielen Freunden geh’n,

die sich sehr freu’n, wenn sie mich seh’n

und ohne Groll den Satz versteh’n:

I did it my way,

und ohne Groll den Satz versteh'n:

I did it my way.

Vor dem letzten my way holte er tief Luft, hielt den Ton, erst in normaler Tonstärke, dann immer leiser werdend, während Hotte ihn mit einigen Triolen aufmerksam begleitete. Als Hotte merkte, dass sich Wotans Luftvorrat dem Ende zuneigte, gab er ein Zeichen. Abrupt beendeten sie gemeinsam.

Atemlose Stille herrschte im Raum. Alle Besucher hatten gespürt, dass auf der Bühne etwas Mysteriöses vor sich gegangen war. Doch plötzlich brandete ein lang anhaltender Beifall auf, erst vereinzelt, dann steigerte er sich zu einem Orkan, begleitet von zahlreichen Bravorufen. Wotan stand auf dem Podium, blickte ins Leere, verbeugte sich, umarmte Hotte und stieg von der Bühne hinunter. Er setzte sich wieder an den Tisch zu Eileen, die ihn sprachlos anstarrte. Von der Bedienung ließ er für sich und die Engländerin noch ein Bier bringen.

„Es war unglaublich“, sagte sie, „so habe ich das Lied noch nie gehört. Ein Schauder ist mir eiskalt den Rücken hinuntergelaufen. Ich glaube nicht, dass irgendjemand das Lied mit mehr Gefühl singen kann, selbst Sinatra nicht.“

Wotan schaute sie verständnislos an. Er versteifte sich darauf, nur ein Lied gesungen zu haben, nicht mehr, nicht weniger. Mit einem Blick auf die Uhr fügte er hinzu: „Oh, es ist später geworden, als ich hier zu bleiben beabsichtigte. Ich bin ein wenig erschöpft. Die letzten Tage waren hart für mich, ich bin die Arbeit auf den Brettern nicht mehr gewohnt. Ich möchte jetzt aufbrechen, werde mir ein Taxi rufen.“

„In welchem Hotel wohnen Sie?“, fragte Eileen. Nachdem sie festgestellt hatten, in demselben untergebracht zu sein, bat Eileen, mitfahren zu dürfen.

Wotan verabschiedete sich von der Band. Das freundschaftliche Grinsen seines Freundes ignorierte er, als er mit der jungen Frau den Club verließ. Er machte sich keine Gedanken darüber, dass wieder Gerüchte aufleben könnten.

Bald schon erschien das bestellte Taxi. Sie setzten sich auf die Rückbank, wo Eileen meinte, es sei ziemlich frisch geworden, sich ungezwungen an ihn kuschelte und munter weiterplapperte, wie schon im Club.

Wotan nahm das Geschehen um ihn herum gar nicht richtig wahr, konnte sich auch später nicht erinnern, was Eileen alles erzählt hatte. Die junge Frau an seiner Seite erschien ihm wie eine Götterbotin, eine Gesandte der Venus, unter deren Sternzeichen Stier er geboren worden war.

Am Hotel angekommen, bezahlte Wotan den Taxifahrer. Sie ließen sich ihre Schlüssel geben und begaben sich zum Lift. Wotan drückte die dritte Etage, während Eileen, deren Zimmer im fünften Stock lag, Wotan strahlend anblickte.

Der Lift hielt an, beide schauten sich wortlos an, bis Eileen seinen Arm nahm. Sie hakte sich bei ihm ein und bemerkte wie völlig selbstverständlich: „Einen Schlaftrunk nehmen wir aber noch? Sie kennen doch sicherlich diese englischen Unsitten. Es darf gerne ein guter Whisky sein.“

„Ich danke Ihnen für Ihre nette Begleitung heute Abend. Bitte haben Sie aber Verständnis dafür, dass ich all meine Kräfte für die anstehende Aufführung und ausreichend Schlaf benötige.“

„Ich bedanke mich ebenfalls“, entgegnete Eileen mit sichtbarer Enttäuschung, hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und stieg wieder in den Lift ein. Ein letztes Winken, dann schloss sich die Tür.

Lange saß Wotan selbstversunken in einem Sessel bei einem Glas Rotwein. Schließlich legte er sich ins Bett und fiel in einen unruhigen, traumschweren Schlaf, in dem immer wieder Bilder vor seinen Augen auftauchten: Caro, mit der er das Schlussduett im Rigoletto sang, seine Frau, deren unberechtigte Eifersucht ihn bisweilen verfolgte, seine Tochter, die er über alles liebte, auch Eileen, deren jugendliche Begeisterung ihn faszinierte …

Als Wotan am nächsten Morgen aufwachte, der neue Tag nach und nach seine Erinnerungen mit Leben erfüllte, befiel ihn ein Gefühl aufkommender Melancholie. Er stand auf, duschte und machte sich bewusst, dass ein schwerer Tag vor ihm lag: die Generalprobe. Nach einem ausgiebigen Frühstück, bei dem es ihm nicht gelang, die Zeitung zu lesen, weil er immer nur Eileen und verpasste Sekunden vor Augen hatte, machte er einen Spaziergang, um frische Luft zu atmen und seine Gedanken zu ordnen.

Die Generalprobe verlief ohne Probleme und ohne jede Panne.

„Das kommt mir fast unheimlich vor“, sagte Jo Holtz, klopfte auf das Holz seines Notenpultes und entließ die Akteure mit dem Wunsch, sich die Stunden bis zur Aufführung zu entspannen.

Am nächsten Morgen zog sich Wotan nach einem späten Frühstück wie in früheren Jahren in die romanische Kirche der Stadt zum Meditieren zurück. Er setzte sich auf eine Bank und dachte nach, wie er dies hin und wieder tat, wenn etwas ihn stark beschäftigte oder wenn er über das Leben an sich nachsinnen wollte. In Gedanken spulte er jede Szene seiner Rolle ab und registrierte mit Erleichterung, dass der Text saß – es wurde auf Italienisch gesungen. Er würde die Souffleuse nicht in Anspruch nehmen müssen, was ihm eine freiere Rollengestaltung auf der Bühne ermöglichen würde. Zuversichtlich lief er ins Hotel zurück, um noch zwei Stunden zu ruhen und sich auf den Abend vorzubereiten.

Beispielhaft

Подняться наверх