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Ouvertüre

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Seine Zeit galt als abgelaufen, so vermeinte jedenfalls die Fachwelt urteilen zu müssen. In den vergangenen Jahren war es still um ihn geworden, die Anzahl der Angebote deutlich rückläufig. Wotan van Geel hatte sich nicht erst seit heute mit der Situation abgefunden. An allen Bühnen war das Geld knapp, bei den Etats musste mangels öffentlicher Zuschüsse in jedem Jahr mehr eingespart werden. Ein Engagement anzunehmen, das nicht seinen Vorstellungen entsprach, hatte er nicht nötig. Mit sich selbst im Reinen, fand er sich nach und nach mit dem Ende seiner bemerkenswerten Karriere ab, auch weil seine Stimme sich weigerte, seinen gestrengen Selbstansprüchen noch zu genügen. Doch das Schicksal hielt für ihn noch einen Auftritt bereit, der ihn für alle Zeiten unvergessen machen sollte.

Jahrelang hatte die Musikwelt den Bariton gefeiert. Viele Häuser, selbst die großen, hatten sich um ihn bemüht. Seit Beginn seiner Karriere hatte er es abgelehnt, ein festes Engagement in einem Opernhaus einzugehen, hatte seine Verpflichtungen stets wohl überlegt abgewogen. Er wollte vermeiden, seine Stimme zu überfordern, sie zu früh zu verbrauchen, wie es bei vielen seiner Kollegen immer wieder zu beobachten war. Für Operngänger kaum hörbar, ließ seine Stimme dennoch nach, als er die sechzig über­schritten hatte. Er machte sich rar auf den Brettern, die ihm von Jugend an die Welt bedeutet hatten, nahm nur noch wenige Angebote wahr, trat immer seltener auf der Opernbühne auf, eher in Konzerten. Inzwischen fühlte er sich berufen, sein Wissen und seine Erfahrungen in Meisterkursen dem hoffnungsvollen Bühnennachwuchs zu vermitteln.

Seine Eltern, eher den unmusikalischen Mit­menschen zuzurechnen, hatten bereits früh eine gewisse Begabung bei ihrem Sprössling, mehr noch seine Begeisterung für das Singen erkannt, gestützt durch Hinweise seiner Musiklehrerin. Sie selbst musizierten nicht, besuchten jedoch regelmäßig die Oper. Seiner Mutter Leidenschaft dafür verdankte Wotan seinen wenig alltäglichen Namen, woran er in seiner Jugendzeit alles andere als Gefallen fand. Er hatte mit diesem tragischen Gott nach Wagners Version wenig anfangen können.

Zu seiner Freude meldeten ihn die Eltern in einem überregional bekannten Kinderchor an, wo er das Lesen von Noten erlernte, was ihn bald befähigte, die ersten Lieder weitgehend vom Blatt zu singen. Dem Chorleiter gefiel sein Eifer, vor allem aber seine weiche Stimme. Daher betraute er den kleinen Wotan im Laufe der Zeit mit ersten kleinen Solopartien. Für den Jungen stellte sich nie die Frage, welchen Beruf er später einmal zu ergreifen gedachte. Der Weg auf die Bühne war vorgezeichnet, eine andere Berufslaufbahn kam ihm nicht eine Sekunde lang in den Sinn, stand für ihn nicht zur Debatte.

Nach dem Abitur begann er eine Ausbildung an der über die Landesgrenzen hinaus anerkannten Musikhochschule in seiner Heimatstadt und träumte davon, eines Tages die großen Tenorpartien zu gestalten, die er sich zu Hause immer wieder auf den zahlreichen Schallplatten seiner Eltern angehört hatte. Bald schon musste er sich jedoch mit der Tatsache vertraut machen, dass er die notwendigen Höhen, die den Tenören abverlangt werden, nicht erreichen und das Schmettern einer Stretta mit dem hohen C oder noch höher für ihn ein Leben lang eine Illusion bleiben würde. Einer seiner Lehrer jedoch, der ihn später viele Jahre betreute und mit ihm eine Reihe von Opernrollen einstudierte, machte ihn mit den großen Rollen des Baritonfachs bekannt.

Wotan fand nach und nach Gefallen an Figu­ren wie beispielsweise dem Rigoletto, Jago, Germont, Scarpia, Méphistophélès, später dem Holländer, besonders dem Wolfram und sogar auch dem Wotan, allesamt Figuren, die im Verlauf seiner Karriere zu seinen Lieblingsrollen gehörten.

Sein Mentor brachte ihn nach seinem Studium an einem bestens geführten Opernhaus in der Provinz unter, das schon vielen Nachwuchssängern als Sprungbrett gedient hatte. Dort machte er mit ersten kleineren Auftritten auf sich aufmerksam. Vor allem beeindruckte er auch als Schauspieler und wusste die ihm übertragenen Rollen stets überzeugend zu verkörpern. Anfragen größerer Häuser ließen nicht lange auf sich warten. Durch zahlreiche Einspielungen auf Tonträgern fanden seine Leistungen eine zusätzliche Anerkennung. Bald schon konnte er sich über mangelnde Arbeit nicht mehr beklagen.

Zeit seiner Bühnenkarriere wurde er zu Recht als umgänglich und teamfähig angesehen, was längst nicht von allen Kollegen und Kolleginnen behauptet werden konnte, deren Launen bisweilen nur schwer zu ertragen waren. Er erwies sich als unkomplizierter, stets freundlicher und ausgeglichener Gefährte auf allen Brettern, auf die er seinen Fuß setzte. Seine Stimme, seine Präsenz, seine Art, sich zu bewegen, welche Rolle auch immer er darzustellen hatte, beeindruckten jedermann. Er überzeugte zumeist auch die kritischen Rezensenten, denn zeitlebens vertrat er den Anspruch, auch Schauspieler zu sein. Er legte die Oper stets als Theater mit Musik aus.

Über sein Privatleben drang nichts an die Öf­fentlichkeit. Auch seine Vita in den Programmheften verbreitete – auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin – nicht viel über ihn. Seine Lebensumstände beließ er für Außenstehende im Dunkeln. An Diskussionen beteiligte er sich nur, wenn künstlerische Absprachen zu treffen waren. Bekannt wurde lediglich, dass er verheiratet war mit einer Frau, die nichts mit der Kunstszene zu tun hatte.

Da gelangweilte Klatschmäuler nichts über etwaige Verhältnisse zu tratschen fanden, dichteten sie ihm hinter seinem Rücken einige Affären an. So erzählten sie sich, dass ihm zahlreiche Herzen zugeflogen wären, die der Diven und Kolleginnen gleichermaßen wie die von Maskenbildnerinnen, erst recht von schmachtenden Zuhörerinnen im Parkett. An Beweisen für solcherlei Unterstellungen mangelte es jedoch. Rein gar nichts von diesem Gemunkel entsprach den Tatsachen.

Wotan gab sich scheu, ausgesprochen introvertiert. Er mochte die Öffentlichkeit nur, wenn sie als Publikum im Parkett und auf den Rängen saß, während er auf der Bühne stand. Interviews, besonders Anfragen aus dem Bereich der Regenbogenpresse, lehnte er höflich, aber bestimmt ab. Sein Privatleben ging niemanden etwas an. Von Kind an hatte er Einblicke in sein Gefühlsleben verweigert. Er liebte nichts mehr als Harmonie und Frieden in seinem Umfeld.

Müde und ausgebrannt von einem Leben aus Koffern und in Hotels, hatte sich Wotan inzwischen, am Ende seiner Karriere, fast völlig zurückgezogen und lebte nahezu unerkannt am Rande einer Kleinstadt, die zwar für ein großes Schützenfest weit und breit Bekanntheit genoss, jedoch nicht über ein Theater oder ein bemerkenswertes Kulturschaffen verfügte. Er be­wohnte das Haus zusammen mit seiner Frau Frieda, mit der er seit mehr als vierzig Jahren verheiratet war. Seine Tochter Lara, seine „Principessa“, die er über alles liebte, war nach ihrem Studium in eine andere Region des Landes gezogen.

Im Keller seines Hauses richtete er sich ein Tonstudio ein, wo er sich mit großer Begeisterung und Akribie damit beschäftigte, alte Schallplatten großer Sänger wie Gigli, Tauber, Schaljapin und viele andere, auch Aufnahmen mit ihm selbst, auf moderne Tonträger wie CDs zu übertragen.

Beispielhaft

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