Читать книгу Zum Glück gibt es Wege - Clemens Bittlinger - Страница 11
Оглавление3. Wegweiser: Krisen
Stellen Sie sich vor, Sie müssten jeden Tag zwölf Stunden härteste Arbeit verrichten. Stellen Sie sich vor, es gäbe keinen Urlaub, keine Altersvorsorge und keine Krankenversicherung. Das, was Sie verdienen, reicht gerade mal, um in der spärlichen Unterkunft, die Ihnen zugewiesen wurde, nicht zu verhungern. Sie haben eine Frau und sechs Kinder, davon sind zwei so kränklich, dass Sie nicht wissen, ob sie im nächsten Monat, im nächsten Jahr noch leben werden. „Nächstes Jahr“, so weit wagen Sie gar nicht zu denken. Ihr Leben ist ein täglicher Überlebenskampf, sie leben buchstäblich von der Hand in den Mund, da ist kein Spielraum. Und dieses Überleben funktioniert nur, weil alle, wirklich alle, auch die Großeltern und die Kinder, mithelfen und mit anpacken. Wenn Sie sich das vorstellen können, bekommen Sie eine leise Ahnung davon, was es früher hieß, Leibeigener zu sein.
Leibeigene, Menschen, deren Leben wie Ware gehandelt wird, die keinen eigenen Besitz, keine eigenen Rechte besitzen, das sind die Israeliten vor rund dreitausend Jahren in Ägypten. Sie sind Gefangene und Sklaven des Pharao, und unter der Knute seiner Schergen werden sie brutal ausgebeutet.
Wer sieht dieses Elend? Wer spürt die Peitschenhiebe der Sklaventreiber? Wen berührt das Weinen der Kinder, wenn sie am Abend vor Hunger nicht einschlafen können? Wer hört die stummen Klagen der Alten, wenn sie hinaus in die Nacht schauen? Wer kennt das stille Sehnen all derer, die ihre Träume noch nicht ganz aufgegeben haben? Wer sieht das Leid? Wer neigt sein Ohr und hört? Und wer erkennt das Elend?
Zu Beginn des 2. Buches Mose, im Alten Testament, wird uns berichtet, wie Gott dem Hirten Mose in einem brennenden Dornbusch erscheint und Folgendes mitteilt: „Ich hab das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihr Geschrei über ihre Bedränger gehört, ich habe ihre Leiden erkannt!“ (Ex 3,7).
Sein Glück zu finden – das ist mitunter ein langer Prozess. Glück „geschieht“ in der Regel nicht einfach so, von einem Moment auf den anderen. Dieser Prozess, das eigene Glück zu finden, beginnt – bewusst oder unbewusst – mit einer Art Bestandsaufnahme. Mit einer Analyse meiner momentanen Situation: Warum geht es mir, wie es mir geht?
Was bedrängt mich? Was engt mich ein?
Was versklavt mich? Was sorgt dafür, dass ich unzufrieden bin?
Woraus ist das Netz, in dem ich gefangen bin, gewebt?
Das will ich mir anschauen, und dafür brauche ich Zeit. Denn manches, was uns beengt, erkennen wir ja gar nicht auf den ersten Blick. Es kann sein, dass mich meine Arbeit nicht befriedigt. Es kann sein, dass ich zu wenig Zeit für mich selbst habe. Es kann sein, dass ich finanziell nicht klarkomme. Wenn ich will, dass sich etwas ändert, muss ich einen zweiten Blick darauf werfen.
Und das geht nicht immer allein. Vier Augen sehen mehr als zwei, und sechs Augen sehen mehr als vier. Es ist gut, wenn ich andere zurate ziehe und wir gemeinsam hinschauen. Und wenn wir miteinander ins Gespräch kommen, dann ist es wichtig, zu hören, erst einmal einfach nur zuzuhören – und nicht gleich wieder zu beschwichtigen: „Na ja, so schlimm ist es ja nun auch wieder nicht! Anderen geht es ja noch viel schlechter!“
Das stimmt mit Sicherheit. Aber wenn ich mich auf den Weg zu meinem Glück machen möchte, muss ich bereit sein, aufzubrechen und neue Ziele zu entdecken. Durch genaues Hinhören in so einem Gespräch kann ich ganz viel lernen über mich: Wie gehe ich sprachlich mit anderen um? Warum bin ich plötzlich aggressiv? Warum kann ich so schlecht zuhören? Wo entdecke ich in meinem Reden und Klagen meine eigene Sehnsucht?
Aus dem genauen Hinsehen und aus dem sensiblen Zuhören im ehrlichen Gespräch mit Freunden wächst dann oft die Erkenntnis, warum ich leide, warum ich nicht glücklich bin.
Die Stimme aus dem brennenden Dornbusch sagte: „Ich habe gesehen, gehört und Leiden erkannt!“
Sehen – Hören – Leiden erkennen. Das ist der Beginn eines jeden Weges der Veränderung zum Glücklicheren.
Aufgrund dieser Bestandsaufnahme wird Mose von Gott beauftragt, zum Pharao zu gehen und die Freilassung des Volkes Israel aus der Sklaverei zu fordern. Gott weckt in ihm die Vision von einem Land, „in dem Milch und Honig fließt“. Dieses Land soll er den Hebräern vor Augen malen und in ihnen den Wunsch wecken aufzubrechen.
Jemand hat einmal gesagt: „Willst du andere dafür gewinnen, ein Schiff zu bauen, dann wecke in ihnen die Sehnsucht nach dem Meer!“ In diesem Fall soll Mose die Sehnsucht nach Freiheit, nach eigenem Besitz, einem eigenen Land und Wohlstand wecken, um das Volk so bereit zu machen, die Gefahren und Widrigkeiten einer eventuell langen Flucht auf sich zu nehmen.
Wie sieht sie denn aus – meine Vision von einem Land, „in dem Milch und Honig fließt“? Welches Leben erträume ich mir? Wofür wäre ich bereit, alles stehen und liegen zu lassen und ganz neu aufzubrechen?
Und was gibt es zu bedenken?
In jedem Fall gilt: Ohne klare und gründliche Bestandsaufnahme kann ein Traum ganz schnell zu einem Albtraum werden: Wie viele Männer haben sich in ihrer Midlife-Krise komplett überschätzt und sind dem Wahn verfallen, sie könnten sich selbst und ihr Leben um zwanzig Jahre zurückdrehen, indem sie aus einer alten Beziehung ausbrechen und mit einer mindestens zwanzig Jahre jüngeren Frau noch einmal „ganz von vorne“ beginnen. Solche Aufbrüche „zu neuen Ufern“ stehen in der Regel unter keinem guten Stern, denn erstens nehme ich ja mindestens fünfzig Prozent meiner alten Beziehung – nämlich mich selbst – mit in die neue. Zum Zweiten geht solchen Aufbrüchen eher selten eine gründliche Bestandsaufnahme voraus, die auch sieht, hört und erkennt, wo in mir selbst die Fallen und Stricke liegen, die mich unzufrieden und unglücklich machen.
Immer wieder kann man im Fernsehen Reportagen oder Sendungen wie „Nichts wie weg!“ sehen, bei denen von Menschen berichtet wird, die in der alten Heimat alle Zelte abbrechen und auswandern. Meistens enden diese „Ausflüge“ im Chaos. Sie enden im Chaos, weil die Bestandsaufnahme nicht realistisch war oder gar nicht gemacht wurde. Weil man den Grund für das bisherige Scheitern (den Auslöser für den Ausflug) vielleicht ausgeblendet hat. Oder weil der Aufbruch unvorbereitet war, aus einem eher diffusen Gefühl von Unzufriedenheit und dem Wunsch nach Abenteuer heraus. Da ist diese Sehnsucht nach Exotik, Sonne und Meer. Da ist dieser alte Traum vom Aussteigen. Und dann machen die, die träumen, mal Urlaub auf Teneriffa und lernen Leute kennen, die schon vor dreißig Jahren ausgewandert sind. Diese Leute sind nett und sie erzählen und wecken den Wunsch, es selbst auszuprobieren. Dann kommen noch Sprüche wie „no risk, no fun“ dazu … und die Entscheidung zum Ausstieg fällt. Aber oft ist das kein wirklich durchdachter Aufbruch, sondern eine Flucht.
Da die meisten von uns gar nicht so grundsätzlich auf der Suche nach einem neuen oder anderen Lebensentwurf sind, hat sich mittlerweile ein ganz eigener Glücks- und Abenteuermarkt entwickelt. Spezielle Agenturen bieten gewissermaßen in allen Bereichen des Lebens sogenannte Glücksmomente an, die man käuflich erwerben und dann auch verschenken kann, und zwar in Form eines Mini-Urlaubs. Einigen reicht das. Einige können sich das auch leisten. Aber macht es mich wirklich grundlegend glücklicher, wenn ich für rund dreihundert Euro mal für zwei Stunden einen Ferrari auf Hochtouren bringen kann? Macht es mich dauerhaft glücklicher, wenn ich einen Kochevent mit anderen geschenkt bekomme … wenn ich danach aber nicht beginne, mein Leben so umzustellen, dass ich tatsächlich die Zeit finde, selbst fantasievoll zu kochen?
Anregungen zum Glück kann ich mir bei solchen inszenierten Events vielleicht holen – der Weg zum eigenen Glück ist jedoch immer wie eine Entdeckungsreise. Und die kann, die muss ich selbst machen, die kann ich nicht abkürzen und auch nicht kaufen.
Der biblische Bericht vom Auszug des Volkes Israel aus der ägyptischen Gefangenschaft beschreibt diesen Prozess ziemlich detailliert. Spannend! Mose wird von Gott beauftragt, sein Volk für den Auszug aus Ägypten zu gewinnen und den Pharao davon zu überzeugen, dass er seine hebräischen Sklaven ziehen lässt. Das ist zumindest der Plan Gottes.
Indes, Mose gefällt dieser Plan nicht. Er traut sich das Ganze nicht zu, und es bedarf einer längeren Diskussion, bis er schließlich widerstrebend dem Auftrag Gottes folgt.
Dieses Widerstreben ist Teil des Prozesses, der hier beschrieben wird: Nach langem Hin und Her ist das Volk Israel bereit aufzubrechen. Nach langem Hin und Her und erst, nachdem diverse Plagen über das Land hereingebrochen sind, ist auch der Pharao bereit, Mose und die Seinen ziehen zu lassen.
Doch als sie sich dann endlich aufmachen, überlegt der ägyptische Herrscher es sich wieder anders und will sie mit Gewalt zurückholen. Die Hebräer fliehen durch das Rote Meer, das ägyptische Heer wird bestraft und vernichtet. Und dann kommt eine lange Wüstenwanderung, eine Zeit der unmittelbaren Nähe Gottes, aber auch eine Zeit des Zweifelns. Das sind Krisenzeiten, in denen „das Alte“, das Leben in der Sklaverei, einem auf einmal gar nicht mehr so schlecht erscheint. „Hätten wir geahnt, dass es so mühsam wird, dann wären wir wohl doch nicht aufgebrochen …“ Solche und andere Klagen muss sich Mose bei diesem langen Auszug immer wieder anhören.
Übertragen auf mich, auf meinen Weg: Wenn ich nun, aufgrund dessen, was ich gesehen und gehört habe, mein Elend erkannt und mich auf den Weg zu meinem Glück gemacht habe, dann ist es gut zu wissen: Auch ich werde solche Wüstenzeiten durchleben. Es gehört dazu, Krisen zu durchleiden, die diesen neuen Weg infrage stellen. Es wird Momente geben, in denen ich beschwichtigend sage: „Eigentlich war doch alles gut, so, wie es war!“ Es wird Momente geben, in denen mich vielleicht andere fragen: „Und, bist du jetzt zufriedener?“ Es wird immer wieder Momente geben, die mir suggerieren: „Es wäre besser gewesen, alles beim Alten zu belassen!“
Wie gut ist es dann, wenn meine damalige Bestandsaufnahme so gründlich war, dass ich sie jederzeit hervorholen kann und es bestätigt finde: Es war gut und notwendig aufzubrechen.
Der Exodusbericht der Bibel beschreibt übrigens auch, dass sich diese Zeit der Krise, diese Wüstenzeit, gleichzeitig als die Zeit der innigsten Verbindung zwischen Gott und seinem Volk erwies. Und auch das kann ich heute erfahren: dass ich meinen Weg nicht alleine gehen muss. Dass ich meine Fragen, Zweifel und Nöte in Gottes Hände legen darf. Auf diese Weise wird mein Weg zum Glück immer auch ein Weg zu einer tieferen Beziehung zu Gott.
CB