Читать книгу Zum Glück gibt es Wege - Clemens Bittlinger - Страница 9
Оглавление2. Wegweiser: Segen
Abraham war glücklich an seinem Wohnort Haran. Er hatte sich gut eingerichtet, mit seiner Frau Sarai, mit seinen Knechten und seinen Viehherden. Doch mitten aus seinem Glück ruft ihn Gott heraus: „Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde“ (Gen 12,1). Abraham musste alles verlassen, um sich auf den Weg Gottes zu machen. Doch Gott verheißt dem Abraham, dass er ihn segnen werde und dass er selbst ein Segen sein soll. Die Zukunft des Abraham besteht nicht darin, dass er sich wohlfühlt, sondern dass er ein Segen wird für andere Menschen. Das ist eine neue Form des Glücks. Es geht nicht mehr um das, was ich selbst empfange, sondern um das, was von mir ausgeht. Und es gibt kaum ein größeres Glück, als Segen sein zu dürfen für andere. Manchmal sagen wir zu einem Menschen: „Du bist ein Segen für mich.“ Aber wir trauen uns kaum zu sagen: „Ich bin ein Segen.“ Die Geschichte Abrahams will uns einen Weg zeigen, wie wir selbst ein Segen sein dürfen für andere. Es geht nicht darum, dass wir viel leisten, sondern dass wir wie Abraham ausziehen.
Abraham ist für Paulus das Urbild des Glaubens. Glauben heißt: ausziehen und sich auf den Weg machen, den Gott mir zeigt. Die frühen Mönche haben den dreifachen Auszug – aus dem Land, aus der Verwandtschaft und aus dem Vaterhaus – so verstanden:
Wir sollen ausziehen aus allem, was uns festhält: aus unseren Gewohnheiten, von denen wir abhängig sind, von den Menschen, die uns festhalten und uns daran hindern, unseren eigenen Weg zu gehen, aus Bindungen, die uns unfrei machen.
Wir sollen ferner ausziehen aus den Gefühlen der Vergangenheit. Es gibt manche Menschen, die schwärmen immer nur von der Vergangenheit. Da war ihr Leben noch in Ordnung. Da war alles wunderbar. Doch sie leben dann nicht in der Gegenwart. Andere kreisen immer nur um die negativen Gefühle, die sie mit ihrer Kindheit verbinden, um die Verletzungen und Entwertungen, die sie erfahren. Auch daraus sollen wir ausziehen, damit wir jetzt in der Gegenwart unseren Weg gehen und uns auf das einlassen, was uns auf dem Weg hier und heute begegnet.
Und der dritte Auszug besteht darin, dass wir aus allem Sichtbaren ausziehen. Das Sichtbare ist nicht alles. Unser Weg zielt auf das Unsichtbare. Novalis hat das in dem schönen Wort ausgedrückt: „Wohin denn gehen wir? Immer nach Hause.“ Wir gehen letztlich immer auf Gott hin, immer auf eine letzte Heimat hin. Paulus drückt das so aus: „Unsere Heimat ist im Himmel“ (Phil 3,20).
Die jüdische Tradition hat den dreifachen Auszug Abrahams so verstanden: Du sollst ausziehen aus den Trübungen, die dir dein Vater bereitet hat, aus den Trübungen, die dir die Mutter bereitet hat, und aus den Trübungen, die du dir selbst bereitet hast. Doch wie sollen wir das verstehen? Der Vater sieht in seinem Sohn oft nicht diesen einmaligen Sohn, den Gott ihm geschenkt hat, sondern er projiziert seine eigenen Lebensträume in den Sohn hinein. Der Sohn soll das studieren, was der Vater nicht studieren konnte. Er soll all die unerfüllten Träume des Vaters leben. Oder aber der Vater sieht in dem Sohn all das Negative, das er selbst in seiner Seele verdrängt hat. Der Sohn wird dann entweder zum Traumfänger, der die Träume des Vaters leben soll, oder aber zum Sündenbock, der all das Böse, das der Vater verdrängt hat, verkörpert. Beide Sichtweisen trüben das Selbstbild des Sohnes. Der Sohn weiß gar nicht, wer er eigentlich ist.
Wir sollen ausziehen aus den Trübungen, die die Mutter uns bereitet hat. Auch die Mutter sieht im Sohn oder in der Tochter nicht dieses einmalige Kind, sondern sie trübt das Selbstbild ihrer Kinder durch ihre eigenen Schattenseiten, die ihren Blick verdunkeln. Eine Frau erzählte mir, dass sie als Kind eine Schwester hatte, die ihre Verwandten für hübscher hielten als sie selbst. Jetzt wurde sie Mutter einer schönen Tochter. Doch sie konnte sich gar nicht darüber freuen, sondern sah in der Tochter immer die Rivalin. Wir kennen dieses Motiv ja vom Märchen „Schneewittchen“. Die Stiefmutter sieht in der schönen Tochter nur eine Rivalin. Die Tochter weiß gar nicht, was mit ihr geschieht. Ihr Selbstbild wird getrübt. Oder wenn die Mutter sich als Frau nicht annehmen kann, trübt sie das Selbstbild der Tochter als Frau. Von solchen Trübungen sollen wir ausziehen, damit wir das einmalige Bild leben, das Gott sich von uns gemacht hat.
Wir sollen drittens ausziehen aus den Trübungen, die wir uns selbst bereitet haben. Wir sehen uns selbst auch nicht so, wie Gott uns sieht. Gott hat sich von jedem von uns ein einmaliges Bild gemacht. Aber wir haben oft Bilder der Selbstüberschätzung oder der Selbstentwertung. Wir denken entweder: Ich muss immer perfekt sein, cool sein, erfolgreich sein, alles im Griff haben. Oder aber: Ich bin nicht richtig. Keiner kann es mit mir aushalten. Keiner mag mich. Solche Selbstbilder trüben das einmalige Bild Gottes in mir. Daniel Hell, ein Schweizer Psychiater, meint, dass die Depressionen oft ein Hilfeschrei der Seele gegen Bilder der Selbstüberschätzung sind. Sie zeigen uns an, wo wir uns unrealistisch einschätzen. Nur wenn wir frei werden von den Trübungen, werden wir glücklich sein, dann werden wir ganz wir selbst sein.
Und wenn wir ganz wir selbst sind, wenn wir ausgezogen sind aus allen Bildern, die unser wahres Sein trüben, wenn wir immer mehr hineingehen in die einmalige Gestalt, die Gott uns zugedacht hat, dann werden wir ein Segen für andere sein. Wir müssen nicht etwas Besonderes leisten. Wir sollen nur wir selbst sein. Dann dürfen wir immer wieder dankbar erkennen: Ja, ich bin ein Segen. Und wenn ich ein Segen bin für andere, dann bin ich glücklich. Ich kann nicht angeben mit diesem Wort: „Ich bin ein Segen.“ Ich kann es nur in aller Demut bekennen. Trotz meiner Fehler und Schwächen darf ich ein Segen sein. Darin besteht für mich das größte Glück, dass ich als dieser durchschnittliche, fehlerhafte, aber doch einmalige Mensch für andere ein Segen sein darf, nicht in erster Linie, indem ich ein besonderes Werk vollbringe, sondern einfach durch die Tatsache, dass ich ganz ich selber bin, dass in mir das einmalige und unverfälschte Bild Gottes aufleuchtet und für die andern zum Segen wird.
AG