Читать книгу Jagt sie weg! - Concetto Vecchio - Страница 5
Prolog
ОглавлениеIm vergangenen November kehrte ich nach Zürich zurück. In der Nähe der Dufourstrasse blieb ich vor einem Kiosk stehen und bestellte ein Rivella. Ich hatte seit mehr als dreissig Jahren keines mehr getrunken. Das Mädchen hinter dem Tresen gab mir das Restgeld zurück und wünschte mir auf Schwyzerdütsch einen guten Tag. War das noch dieselbe Sprache, die ich gesprochen hatte und die sich noch des Vokabulars des zwanzigsten Jahrhunderts bediente? Ich bezweifelte es. Ich fragte sie, ob sie mir den Weg zum Opernhaus weisen könne. »Da ist es doch«, gab sie zur Antwort, indem sie mit dem Finger dem See entlang zeigte. Ich ging langsam die Seepromenade entlang, machte es mir auf der Treppe der Oper bequem und begann, eine Gruppe junger Leute im Alter meiner Kinder zu beobachten, die im Halbkreis auf dem rechteckigen Platz sassen.
Eine weisshaarige Frau, die neben mir die Neue Zürcher Zeitung las, fragte ich, ob der Brauch des Böögg noch gepflegt wurde. »Ja freilich«, rief sie freudig aus und sah kurz von ihrer Zeitung auf. Darauf fing sie an, mir die Geschichte des Ortes zu erläutern, des Sechseläutenplatzes, wo nach der Tradition jedes Jahr im April ein künstlicher Schneemann verbrannt wird, der Böögg eben, um feierlich den Winter zu verabschieden. »Je früher ihm der Kopf platzt, desto schöner wird der Sommer«, stellte die Frau klar und zählte mir auf, wie lange er bei den letzten Malen gebrannt hatte. Ich unterbrach sie höflich, denn ich hatte nun vom Böögg genug gehört. »Sind Sie Aargauer?«, fragte sie mich. »Ich bin in Aarau geboren.« »Schöner Kanton, der Aargau«, kommentierte sie.
Warum war ich da? Was suchte ich eigentlich?
Vor den auf dem Boden hockenden Jungen schaukelte jetzt eine junge Mutter einen Kinderwagen. Ich konnte hören, was sie sagte: »Schatz«, flüsterte sie melodisch ihrem Kind zu, auf Italienisch. »Schlaf, Kindlein, schlaf«, und mit dem Fuss schob sie den Wagen vor und zurück.
Da sie sich beobachtet fühlte, lächelte sie mich an. Ich dachte an meine Mutter. Ich sehe sie mit dem straff um ihr Gesicht gebundenen Kopftuch und wie sie mich an der Hand hält, während wir über die Augustin Keller-Strasse in Lenzburg gehen. Wir sind auf dem Nachhauseweg vom Kindergarten der Missione cattolica italiana, und vor jedem Werbeplakat bleibt sie stehen, um zusammen mit mir die Buchstaben zu entziffern. Ich wiederhole die Wörter laut, und sie sagt »Bravo!« zu mir. Zuweilen, wenn ich einen ganzen Satz lese, breche ich in Begeisterung aus, so dass eine ältere Passantin sich nach uns umdreht. »Psst«, sagt meine Mutter mit einem gequälten Lächeln, »geben wir uns den Svizzerazzi nicht zu erkennen, sonst kommt Schwarzenbach!«
»Wir sind E-mi-gran-ten«, skandierte mein Vater die einzelnen Silben. Lange habe ich über die Bedeutung dieses Wortes nachgedacht. »Fremde«, gab er mir einmal zur Antwort, während er sich eine Muratti ansteckte. Ich habe noch das Bild vor Augen, wie er im dunkelroten Rollkragenpulli rauchend in der Küche sitzt, eines Abends Anfang der siebziger Jahre. »Ich will nicht Fremder sein«, gebe ich zurück. »Auch ich will Roland, Thomas oder Markus heissen, stattdessen habt ihr mir einen hässlichen Namen gegeben, den nur ich trage.« »Konzetto!«, ruft Lehrerin Schneider, wenn sie mich zur Ordnung ruft. »Es ist aber ein schöner Name«, meint meine Mutter und versucht, meinen Unmut zu besänftigen. »Dein Namenstag fällt auf den Tag der Unbefleckten Empfängnis, in Italien ist das ein Feiertag, man feiert die Muttergottes, und ausserdem hiessen deine Grossväter auch beide so.«
Zu Hause sprechen Mama und Papa Sizilianisch, eine Geheimsprache, die nicht einmal die Schweizer, die Italienisch können, zu entziffern wissen. Meine Eltern wiegen sich in diesen Klängen. Der Dialekt dämpft die Fremdheit, er ist die Hülle, in die man sich zurückziehen kann. Und wenn Papa sonntagabends die Nonna in Sizilien anruft, redet er sie mit »Vossia« an.
»James Schwarzenbach!«, denke ich, während ich noch eine Runde um den Platz drehe. Eine Epiphanie. Hatte ich je meine Eltern gefragt, wer der Mann eigentlich war, den sie in jener fernen Zeit ab und zu beschworen wie ein Gespenst, vor dem man Angst haben muss? Ich erinnere mich nicht. Ich hole mein Smartphone aus der Tasche und gebe seinen Namen auf Google ein. Die Ergebnisse leiten mich zu einem Dokumentarfilm des schweizerischen Fernsehens weiter. Schwarzenbach ist im Oktober 1994 gestorben. In der ersten Szene, die an einem Sommertag auf dem Friedhof von St. Moritz gedreht wurde, ist sein Grab zu sehen: »Comendador de la Orden de Isabel la Católica«, hatte er sich als Inschrift gewünscht. Mit dem Finger schiebe ich den Cursor weiter und bei Minute 12 halte ich vor einem Abschnitt in Schwarzweiss an. Er zeigt einen Theatersaal voller Rauch und Lärm. Das ist 1970, mein Geburtsjahr. Schwarzenbach thront am Rednertisch. Er wirkt wie ein Lord, denke ich instinktiv, während er herangezoomt wird. Ein Professor, der sich selbstbewusst auf seinem Stuhl entspannt. Ich höre seine belegte Stimme. An die Personen, die neben ihm sitzen, gewandt, sagt er: »Warum kümmern sich die Herren so ganz ausschliesslich um den Ausländerbestand, warum kümmern sie sich nicht mit der gleichen Intensität um den schweizerischen Arbeitnehmer?« Er spricht die Worte mit gekünstelter Theatralität aus. Die Kamera schwenkt auf den Saal. Viele klatschen stürmisch Beifall. »Die Schweizer zuerst«, murmle ich in mich hinein, dort, in der Zürcher Herbstsonne.