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Ein paar Tage später finde ich im Internet einen Artikel der italienischen Tageszeitung Unità vom März 1963 über die Migranten, die in den Baracken gegenüber von der Hero in Lenzburg untergebracht sind.

Ich rufe meinen Vater an: »Wusstest du, dass es gegenüber von der Hero Baracken gab?«

»Ja, eine davon wurde dann zum Sitz der Acli1

Papa brachte mich samstagvormittags, wenn er von den Schichten in der Fabrik befreit war, zur Acli von Lenzburg, wo er als freiwilliger Konsularkorrespondent tätig war. Er führte mich in den grossen Saal und bestellte an der Theke ein Kaffeeeis, dann löste er aus dem Zeitungshalter die Stange, an der Il Giorno befestigt war. Ich schlug sofort die Sportseite auf. Den Duft der Druckerschwärze mochte ich sehr. Ich schnitt mir das Porträt eines jungen Spielers von Juventus Turin aus, dessen Kosename mir gefiel: Nanu. Um mich herum spielten ein paar Männer in Rauchschwaden gehüllt Briscola. Papa schlüpfte in ein kleines Büro, vor dessen Tür sich bereits eine Schlange von Menschen gebildet hatte, die ihren Pass in der Hand hielten. Die Questione meridionale, die Rückständigkeit des Südens, stand in dieser Schlange.

Auf Google Maps gebe ich die mir von meinem Vater angegebene Strasse ein: Niederlenzer Kirchweg 9. Anstelle der Baracke steht jetzt ein hübsches ockerfarbenes Wohnhaus mit drei Stockwerken, der Fahrradständer ist mit Rädern gespickt. Mit dem Finger verschiebe ich den Pfeil auf dem Foto zuerst nach links, dann nach rechts. Da ist nichts, was mich an das Viertel von damals erinnert. Ich lade das Bild herunter und schicke es ihm über WhatsApp. »Mamma mia«, antwortet mein Vater.

Von den Baracken wusste ich so gut wie nichts. Ich fing an, alte Videos zu studieren. Man zog die Baracken an den Rändern der Städte hoch, neben den Baustellen, in Industriegebieten, den Blicken der Bürger entzogen. Es waren Fertigbauten aus rohem Holz, wo man für alles anstehen musste: um die nasse Wäsche im Gemeinschaftswaschraum aufzuhängen, um auf den mit Gasflaschen befeuerten Herdplatten zu kochen, um aufs Klo zu gehen, eines für fünfzig Seelen. Eines Morgens rief ich Luciano Alban an, den Vorsitzenden des Komitees der Auslandsitaliener in Zürich, der im April 1968 von Montebelluna aus in die Schweiz emigriert war. Ob er sich erinnern könne? »Und ob«, erwiderte er. »Bauten, wie ich sie erst Jahre später in Dachau und Auschwitz gesehen habe. Ich dachte mir: In einem solchen Getto will ich nicht landen.«

Was hiess es denn, zu Dutzenden in einem grossen Raum eingepfercht zu hausen, der den Charme eines Eisenbahnabteils dritter Klasse hatte? Stockbetten, die jeden freien Platz ausfüllen. Mit Schuppen versetzte Haarkämme auf den Schränkchen. Halbausgedrückte Pomadentuben. Schachteln mit filterlosen Zigaretten auf einem grob gezimmerten Holztisch. Unter den Kissen versteckte zerknitterte Comics. Die Spinde mit Zeitungsausschnitten tief dekolletierter Schauspielerinnen tapeziert, der füllige Busen der Lollobrigida neben dem Bild der schmerzvollen Madonna: der alles glättende Trauring mit Tesafilm neben den sepiafarbenen Fotos der fernen Kinder angeklebt.

In einem Film betrachte ich einen korpulenten Typen, der mit der Gitarre Non son degno di te klimpert. Die meisten dösen mit einem Zeitungsblatt auf den Augen vor sich hin. Woran denken sie in diesem Halbschlaf? An ein Mädchen? Daran, wie viel Zeit noch fehlt, bis sie nach Hause fahren können?

Es ist wie das Leben in einer Gefängniszelle, es braucht eine knallharte Disziplin. Manchmal stossen die Schlaksigsten mit dem Kopf gegen die von der Decke hängenden Flechten roter Paprikaschoten, dann tritt man sich auf die Füsse, die zerbrechliche Ordnung zerfällt. Wie ein Knallkörper explodiert dann das Durcheinander all der unterdrückten Spannungen.

»Ma stai attento, terùn!« – Pass doch auf, du Tölpel aus dem Süden!

»Kitammuort’.« – Wer ist denn bei dir gestorben?

»A vu autri vana spuntari ’i corna.« – Ihr kriegt noch Hörner aufgesetzt.

»Tasi, mona.« – Halt’s Maul, du Depp!

Im Juni 1962 betritt der Journalist Bruno Marini vom Corriere d’Informazione eines Tages eine Baracke in der Asylstrasse in Zürich und interviewt vier aus dem Veneto ausgewanderte Handlanger.

»Was lest ihr?«

»Nichts.«

»Habt ihr ein Radio?«

»Nein.«

»Wisst ihr, wer Italiens neuer Staatspräsident ist?«

Sie schweigen betreten und schauen auf ihre vom Frost rot angelaufenen Hände.

Aufwachen, wenn es noch dunkel ist, sich in einem Trog wie für Kühe mit eiskaltem Wasser das Gesicht waschen, zu Fuss zur Baustelle laufen, sich neun Stunden lang die Gerüste rauf und runter schinden, zurückkommen, essen, die Klamotten waschen, bügeln, flicken, sich eine letzte Zigarette anstecken, sich auf die Pritsche fallen lassen, wo sie bald ein tiefer, traumloser Schlaf überkommt.

»Was wünscht der Chronist zum Abendessen? Gemüse- oder Nudelsuppe? Kein Fleisch, das ist zu teuer.« Sergio Grando aus Portogruaro, achtundvierzig Jahre alt, verdient 650 Franken im Monat, seiner Frau und den drei Kindern, die in Italien geblieben sind, schickt er mehr als die Hälfte seines Lohns: 50000 Lire. 12000 davon schafft die Frau auf die Seite zu legen, das Ersparte wird sich noch als nützlich erweisen, wenn der Mann drei Monate lang nicht arbeiten kann, weil sein Vertrag ausgesetzt wird. Für das Mittagessen, das er auf einer Wiese einnimmt, versucht er nie mehr als drei Franken auszugeben, ein Brötchen mit Mortadella und ein Apfel müssen reichen. »Hier ist alles sauteuer«, rechtfertigt er sich, während er die Tüten mit den gefriergetrockneten Suppen aufreisst und sie ins kochende Wasser giesst.

An den Baracken lässt sich der ungestüme Fortschritt des Kapitalismus ablesen. Depots einer gemieteten Menschheit, Saisonarbeiter, die kein Recht auf eine Wohnung haben, denen es untersagt ist, den Arbeitsplatz zu wechseln oder gar die Familie nachzuholen. Im Falle einer Kündigung werden sie des Landes verwiesen. Wenn der Kapitalismus schwächelt, wird die Baracke abgebaut. Und es gibt 152000 Saisonarbeiter in der Schweiz, fast alles Italiener.

Der Dichter Leonardo Zanier schreibt: »Die Lebensumstände des Saisonarbeiters sind am Limit des menschlich Erträglichen, nicht immer werden sie bewusst wahrgenommen, aber der Emigrant büsst sie hart, etwa bei Arbeitsunfällen, durch Magengeschwüre, im Alkoholismus. In den Baracken kocht jeder für sich selbst, er nimmt es passiv hin, er spart heftig, beim Essen, bei allem, damit die Kinder zur Schule gehen können, damit wenigstens sie nicht ein solches Leben führen müssen. Niemand kümmert sich um ihn, er steigert nicht die Nachfrage nach Kindergärten und Schulen, er braucht keine Entbindungsstationen: Seine Frau bringt die Kinder in ihrem Dorf alleine zur Welt.«

Es gibt Saisonarbeiter, die drei Kinder haben und bei keiner Geburt anwesend waren.

Ich stosse auf die Hausordnung, die vor der Baracke der Cité du Nant d’Avril in Genf angeschlagen ist:

Schreien, Singen und sonstige Geräusche, die gleich zu welcher Tageszeit eine Belästigung darstellen können, sind strikt verboten.

Mahlzeiten werden zur vorgegebenen Uhrzeit ausgegeben.

Niemand darf im eigenen Zimmer Personen empfangen, die nicht im Haus wohnen. Allfällige Besucher dürfen lediglich in den Aufenthaltsraum gebracht werden.

Ab 21.30 Uhr ist in den Zimmern Ruhe zu bewahren. Wer bis zu dieser Zeit nicht zurück ist, wird gebeten, die eigenen Zimmernachbarn nicht zu stören.

»Italienische Saisonarbeiter in Genf leben unter haarsträubenden Bedingungen. Selbst der Grosse Rat des Kantons räumt das ein«, so eine Überschrift des Corriere della Sera vom 27. Februar 1960.

Im Artikel wird vom Fall Bardonnex am Stadtrand von Genf berichtet, wo einige Dutzend saisonaler Maurer in einem Stall und einer Reihe eigenhändig errichteter Baracken lebten, ohne Licht und ohne Wasser, »ohne Aborte«. Jeder zahlte 75 Franken im Monat. »Die Polizei musste einschreiten, um den unerhörten Missstand zu beseitigen.« In der Rue de Tilleurs wurden in einem ehemaligen Warendepot 27 Saisonniers untergebracht, »einer über dem anderen«. »Zu Spitzenzeiten nahm der einzige Raum sogar 40 auf. Keine Toiletten. Der Abstand zwischen den Betten betrug 10 bis 20 cm. Sie zahlten jeweils 60 Franken im Monat.«

In der Baracke der Neugasse in Zürich: fünfundachtzig Bewohner. Maurer aus der Gegend von Belluno und aus dem Friaul, grossgewachsene, kräftige, kurz angebundene Männer. Bis zu acht in einem Schlafraum, aber wenigstens verfügen sie über vier Toiletten und über den Luxus warmen Wassers. Sie sagen: »Wir machen alles selbst, um zu sparen, so werden wir eines Tages wenigstens das Geld haben, uns ein eigenes Haus in unserem Dorf zu bauen.«

Angelo Slongo aus Feltre verdient 300 Lire die Stunde, in Italien waren es gerade mal 120 gewesen. Der Frau und den Kindern schickt er jeden Monat 40000 Lire.

»Hat euch jemals ein Schweizer auf ein Bier eingeladen?«, fragt der Reporter.

»Niemals«, antworten die Barackeninsassen im Chor.

»Ich arbeite jetzt seit fünf Jahren für diese Firma«, verrät einer, »aber ich habe noch nie die Wohnung eines schweizerischen Kollegen gesehen, nie seine Frau kennengelernt. In Italien wäre das anders. Wenn wir einen Fremden in der Firma sehen würden, und er wäre allein und würde traurig aussehen, dann würden wir ihm am Samstag sagen: ›He, du, willst du mit uns ausgehen?‹ Und meine Frau würde ihm Spaghetti kochen und ich würde ihm Wein einschenken. Aber die Schweizer sagen zu uns nur: ›Warum hast du drei, vier, fünf Kinder gemacht? War das nötig?‹«

Und wie läuft’s mit den Mädchen? Angelo Borgato aus Udine, zwanzig Jahre alt, zuckt mit den Schultern. »Wer hat schon das Geld? Mit einer Frau musst du hier zuerst in ein Café gehen, dann ins Kino, dann zum Essen. Ich habe meine Mutter zu Hause und drei jüngere Geschwister. Mein Vater ist an Silikose gestorben, er hat in Belgien in einem Bergwerk gearbeitet. Ich treffe mich, wenn sich’s ergibt, mit Mädchen aus meiner Stadt. Die arbeiten in einem Hotel und in einer Schokoladenfabrik. Die wissen, dass ich nicht viel ausgeben kann. Also gehen wir spazieren und wir schauen uns die Schaufenster an. Wenn es nicht regnet, setzen wir uns auf eine Bank im Park. Dann verabschieden wir uns wieder.«

»Ich komme aus der Provinz von Avellino, ich bin Saisonarbeiter und mein Leben ist eine Scheisse«, gesteht ein junger Kerl der Zeitschrift Quaderni dell’emigrazione. »In dieser Baracke leben wir zu zwölft für 75 Franken pro Kopf. Wir haben keine Wahl. Wir haben versucht, mit Freunden eine Wohnung zu mieten, aber man hat sie uns nicht gegeben. Was wird aus uns werden? Aber die italienische Regierung weiss ja nicht einmal, dass es uns gibt.« »Ich habe einen Jahresvertrag, mein Mann ist aber Saisonarbeiter, er wohnt in einer Baracke der Firma, ich teile mir ein Zimmer mit drei Mädchen«, erzählt eine junge Frau. »Es ist fast unmöglich, uns zu treffen und miteinander zu schlafen. Und dann ist da noch die Angst, dass wir ein Kind kriegen, in dem Fall weist die Polizei ihn aus der Schweiz aus, weil die Saisonarbeiter keine Kinder haben dürfen.«

Die Baracken machen ihre Besitzer also reich. Es gibt Sammelunterkünfte, deren Besitzer bis zu 2500 Franken im Monat kassiert, auch wenn nach einer Weile die Wände schwarz werden, die Klos verstopft sind und aus den Duschen kein vernünftiger Wasserstrahl mehr kommt. In einem Artikel mit dem Titel Baracken, geeigneter Wohnraum für Fremdarbeiter?, der 1972 in der Zeitschrift Das Werk erschienen ist, liest man: »In Tat und Wahrheit hat die grosse Mehrheit der Fremdarbeiter dort zu hausen, wo es anderen Leuten von Gesetzes wegen verboten ist, weil diese Gebiete eben als ›unwohnlich‹ gelten, in der Industriezone.« Und weiter steht: »Am südwestlichen Rand der Gemeinde Urdorf ist eine Sporthalle im Bau. Unmittelbar daneben entsteht eine Wohnüberbauung mit Tiefgarage. Etwa in der Mitte der Baustellen stehen grosse Kisten mit Fenstern, Treppen, Eingängen wie bei richtigen Häusern; zehn Stück im Ganzen, immer zwei aufeinander. Es handelt sich um die Unterkünfte für die Arbeiter, welche an der Wohnüberbauung arbeiten. Der Polier, danach gefragt, ob in diesen Baracken photographiert werden dürfe, ist nicht recht einverstanden. Nach und nach wird klar, was ihn dabei stört: ›Wir haben Schwierigkeiten gehabt. Es gibt Leute, die glauben, wir seien billiger, weil wir diese Dinge hier haben.‹ (…) Nach einiger Zeit pfeift der Polier den Magaziner herbei, einen freundlichen, etwa dreissigjährigen Italiener, und befiehlt ihm, eine der Schlafkammern aufzuräumen. ›Man muss vorsichtig sein. Wer weiss, wozu ein solcher Artikel von gewissen Leuten ausgenützt werden wird. Er könnte als Beweis herbeigezogen werden, um zu zeigen, dass unsere Unterkünfte wirklich schlecht sind.‹ Inzwischen hat der Polier das halbe Dutzend Flaschen, Gläser, Aschenbecher und Papiersäcke in eine Ecke geräumt und die vier Rechauds schnurgerade ausgerichtet. Jetzt darf hier photographiert werden. ›Es ist nämlich nicht so schlecht hier. Sie (die Fremdarbeiter) können kochen; sie wollen ja kochen; jeder für sich. Die Getränke bekommen sie billiger; sie werden ihnen im Dorf geholt.‹«

Ich stosse immer wieder auf Geschichten von Barackenbewohnern. Mir fällt auf, wie sehr sich die Geschichte wiederholt, dass sich immer wieder derselbe Kreis schliesst, der Umstand, dass die Dinge früher oder später immer wieder neu auftauchen, mit anderen Gesichtern, aber mit demselben Ausgang. Randexistenzen, die oft unbeliebt sind. Die Allerletzten.

Ich finde ein Foto aus jenen Jahren, das in Etzwilen im Kanton Thurgau geschossen wurde. Es zeigt vier italienische Arbeiter, die auf drei Quadratmetern eingepfercht sind, das ist, als würde man jede Nacht auf der Pritsche eines Eisenbahnliegewagens zubringen. Ein muskulöser Mann im Unterhemd mit streng nach hinten gekämmten Haaren, hübsch wie Raf Vallone, steht einen Schritt vor den anderen und schaut gezielt ins Objektiv. Sein Blick drückt eine Art desolater Neugier aus.

Immer wieder schaue ich mir das Foto an. Ich frage mich, ob Raf und seine Kumpels schliesslich erreicht haben, was sie sich wünschten, oder ob die Fährnisse des Lebens ihre Pläne zunichtegemacht haben.

In Schlieren hat man die Baracken neben der Eisenbahnlinie errichtet. Die Gefahr, bestohlen zu werden, lauert stets überall. Die Polizei hat einen Dieb festgenommen, den fünfundzwanzigjährigen Schweizer Erwin Portmann: Er hatte sich darauf spezialisiert, in den Schubladen der Arbeiter zu wühlen, während diese auf Arbeit waren. Einem Veneter, der sein Erspartes unter der Matratze hielt, plünderte er 1380 Franken. Der Veneter konnte in seiner Verzweiflung gar nicht mehr aufhören zu fluchen, zu viert mussten sie ihn beruhigen.

Ein Saisonarbeiter kann, wenn er sich zu Tode schuftet und täglich zwei Überstunden macht, bis zu 1000 Franken im Monat verdienen. Abgesehen von der Miete gibt er 25 für die Wäscherei aus, 350 fürs Essen und 200 für Zigaretten. Bis zu 500 Franken schickt er, wenn er kann, nach Hause. 1963 belief sich der Wert der Überweisungen auf die Rekordsumme von 1,5 Milliarden Schweizer Franken. Die Emigranten machen auch Italien reich.

»Mitten in Schnee und Eis liegt die Stadt Lenzburg, dort befindet sich die Konservenfabrik der Firma Hero. Hundert Meter weiter steht die Baracke der italienischen und spanischen Arbeiter. Zweihundert Meter weiter jene der italienischen Arbeiterinnen.« So beginnt der Artikel von Piero Campisi in der Unità, von dem ich meinem Vater erzählte. In der Hero-Marmeladenfabrik arbeiten fünfhundert Arbeiter, zweihundert davon sind Italiener. Es geht das Gerücht um, dass die Leiterin der Frauenbaracke mit einem früheren SS-Offizier verheiratet ist. Sie verhängt Strafen gegen Zuspätkommende und erteilt denen, die laut sind, Mahnungen wie ein Gauleiter: Eine vierzigjährige, schwarz gekleidete Witwe aus der Provinz Potenza streift desorientiert umher: »Bei uns auf dem Dorf gab es nur die Freiheit, an Hunger zu sterben, hier gibt es nur die Freiheit zu arbeiten.« Auch ihr zwanzigjähriger Sohn arbeitet bei der Hero. »Ich habe ihn kommen lassen, als ich erfahren habe, dass sie in der Fabrik Arbeitskräfte suchten.«

Ein junger Mann aus der Toskana zieht Bilanz seiner Existenz als getrennt lebender Barackenbewohner, er auf der einen Seite und seine Frau mit der dreizehnjährigen Tochter auf der anderen, »wenn wir uns treffen, geben wir uns einen Kuss«. Die Tochter ist mit einem Reisevisum gekommen. Eigentlich dürfte sie gar nicht hier sein, die Schweiz untersagt Familienzusammenführungen, sie will nicht, dass die Saisonarbeiter hier Wurzeln schlagen; der Vater hat sie dennoch in der Schule eingeschrieben, als unzulässige Schülerin. Eine Weile schien alles gut zu gehen, das Mädchen lernte rasch ein paar Worte Deutsch, und er guckte sich eine günstige Wohnung aus, in der sie endlich wie eine normale Familie leben konnten. Doch eines Abends kam die Fremdenpolizei. Das Mädchen ist illegal, es ist sofort nach Italien zurückzubringen. Der Arbeiter zieht den zerknitterten Ausschaffungsentscheid aus der Brieftasche. »Wo soll ich sie denn hinschicken?«, fragt er verzweifelt. »Was soll ich jetzt machen? Erst in zwei Jahren habe ich die Voraussetzungen für eine Jahreserlaubnis zusammen. Aber ich habe nur zehn Tage Zeit für die Entscheidung.«

Es heisst, die Emigranten aus dem Norden, die Maurer aus den Bergen Venetiens und der Lombardei, kommen mit dem Emigrantendasein besser klar, ihre Heimatorte erreichen sie schliesslich in ein paar Stunden Zugfahrt, während für die Süditaliener die Heimat weit weg ist. Für die Heimfahrt sind sie über vierundzwanzig Stunden unterwegs. In einer Zeitschrift der Gewerkschaft Unia stosse ich auf die Geschichte von Aurelio Chiapparini, einem Auswanderer aus der Val Camonica, der das Leben in den Baracken eingehend kennengelernt hat. Er lebt in Wallisellen, in einem Eigentums-Reihenhaus. Er ist in der Schweiz eingebürgert und seine fünf Kinder haben alle studiert. Ich besorge mir seine Adresse und schicke ihm eine E-Mail. Nach ein paar Tagen ruft er mich an. Er wundert sich ein wenig, dass ich nach ihm suche.

»Meine Mutter Leonilde wollte nicht, dass ich wegziehe«, sagt er. »Zwei meiner Brüder, Battista und Angelo, waren schon weg. Zwei weitere, Giuseppe und Santo, sind Priester geworden. Und mein Vater, Giacomo, war gestorben. Ich glaube, er hat sich zu Tode gearbeitet. Ein Leben lang war er noch bei Dunkelheit aufgestanden, um in das Bergwerk von Ardè zu gelangen, wo Kohle abgebaut wurde, oben am Berg gegenüber von meinem Dorf, Paisco Loveno. Der Weg hinauf zum Bergwerk war beschwerlich, wie unser Leben: anderthalb Stunden zu Fuss hinauf; abwärts, neun Stunden später, etwas weniger. Das Geld reichte nie. Wir waren zehn Kinder. Nach dem Krieg fing er an, als Arbeiter bei der Elettrografite in Forno Allione zu arbeiten, wo Elektroden für die Stahlindustrie hergestellt wurden. Samstags und sonntags hütete er die Kühe, wir hatten fünf Stück. Ich habe ihn immer schuften gesehen, er schien nie erschöpft zu sein. Eines Tages im September 1964 versagte sein Herz. Er war sechsundfünfzig Jahre alt. Meine Mutter hat mich angeschaut und gesagt: ›Jetzt müssen wir alleine zurechtkommen.‹ Ich war sechzehn, meine jüngste Schwester sieben. Ich musste zum Mann werden. In der Schule war ich nicht schlecht, und nach der Mittelschule hatte man mich in die Oberschule für Handwerk in Breno eingeschrieben, ich sollte Metallarbeiter werden. Paisco hatte damals neunhundert Einwohner. Viele zogen weg: nach Mailand, in die Schweiz, nach Amerika, nach Australien. Die BBC, die grosse Maschinenfabrik in Oerlikon bei Zürich, hatte in Brescia eine Vertretung, wo sie Arbeitskräfte anwarb. Aber das wusste ich damals nicht. Brescia war für uns aus Paisco Loveno 96 Kilometer entfernt, wir brauchten einen Tag, um dorthin zu kommen.«

»Warum sind Sie ausgerechnet in die Schweiz ausgewandert?«, falle ich ihm ins Wort.

»Ein Onkel von mir war Zimmermann in Chur. Eines Tages im August 1968 kam er auf Urlaub ins Dorf zurück und sagte zu mir: ›Was machst du denn hier, jetzt, wo du den Militärdienst hinter dir hast? Warum kommst du nicht mit mir?‹

Ich wollte meiner Mutter keinen Kummer bereiten, ich legte mich mehr ins Zeug, um eine Arbeit zu finden. Ich fand eine Beschäftigung in einer Spinnerei in Edolo, es war eine gute Stelle, aber als ich den Vertrag unterzeichnen sollte, sagte man mir, für den Umzug brauche es die Unbedenklichkeitsbescheinigung der Gemeinde, damals gab es dieses Gesetz. Ich beriet mich mit einem Vetter: ›In der Gemeinde von Edolo machen sie Geschichten, sie wollen mir die Unbedenklichkeitsbescheinigung nicht geben.‹ ›Lege ihm einen 100000 Lire-Schein in einen Umschlag und du wirst sehen, dass der Beamte seine Meinung ändert‹, riet mir der Vetter. Ich kam wieder nach Hause und erzählte meiner Mutter davon. Sie schüttelte den Kopf: ›Wir arbeiten, um das Geld zu verdienen, nicht um es zu verschenken.‹ Ich packte meine Siebensachen in einen Koffer und ging über die Grenze.

Ich fuhr zu meinem Onkel in Chur, aber nach drei Tagen mit ihm auf der Baustelle sagte ich zu ihm, dass das keine Arbeit für mich sei. Ich nahm den Zug und machte mich auf die Suche nach Battista, ich wusste, dass er in Wallisellen lebte, am Stadtrand von Zürich. Er war Saisonmaurer bei der Keller-Frei, einer grossen Strassenbaufirma. Ich kündigte mich nicht an. Es war damals nicht üblich, zu telefonieren. Er wunderte sich, als er mich sah. Neben den Kränen der Baustelle erblickte ich eine Siedlung aus Holzbauten, bei der Arbeiter aus- und eingingen.

›Ich suche Arbeit‹, sagte ich zu ihm.

Er stellte mich einem Kerl mit venetischem Akzent vor. ›Er ist der Chef der Baracke‹, flüsterte er mir zu. ›Er heisst Giovanni.‹

›Kann er hier schlafen?‹, fragte Battista.

Giovanni musterte mich von oben bis unten.

Dann sagte er: ›Die Miete kostet 280 Franken im Monat.‹

Mein Bruder zog das Geld aus seinem Portemonnaie und streckte den Betrag für die erste Woche vor.

›Wie heisst du?‹, fragte er mich.

Er trug meinen Namen in das Barackenregister ein.

Ich hatte nicht erwartet, dass die Leute alle in einer Gemeinschaft leben würden wie beim Militär. In der Baracke von Keller-Frei schliefen sie zu sechzig.

›Das ist ein guter Preis‹, sagte mir Battista, während er das Nudelwasser salzte. ›Ein Zimmer in einer Wohnung kriegst du hier nicht unter 800 Franken.‹ Der Innenraum war in Kojen mit vier Plätzen unterteilt. Ich verstaute meinen Koffer oben auf dem Türrahmen. Es herrschte pausenloses Durcheinander. Sämtliche italienischen Dialekte waren zu hören. Am Ende des Korridors, neben dem Speiseraum, hatten die Spanier und ein paar Türken sich eingerichtet, aber es waren nicht viele. ›Sind lauter gute Leute‹, versicherte mir Battista, der mein Unbehagen bemerkte. Er goss die Nudeln ab, wir assen schweigend. Es war bereits Abend. Zwei Gruppen von Männern spielten leise Karten, die erste Gruppe mit Einsatz, die andere ohne. Ein Arbeiter aus den Marken hatte neben mir ein halbes Kilo Brot in der Mitte durchgeschnitten und belegte es mit dünnen Scheiben Mortadella. Er bemerkte, dass ich ihn beobachtete. ›Die neun Stunden Arbeitszeit sind hier volle neun Stunden, du wirst es noch merken‹, meinte er. Dann steckte er die Brote in seinen Rucksack. Ich legte mich auf die Pritsche, nachdem ich vor dem Klo Schlange gestanden hatte. Ich bekam fast kein Auge zu. Am Morgen, um halb sieben, wurde Battista mit dem Bus der Firma abgeholt, ich machte mich ebenfalls auf den Weg. Ich wollte keine Minute verlieren, um Arbeit zu finden.«

Die italienische Presse empört sich, dass unsere Landsleute gezwungen sind, in schäbigen Bruchbuden mit abgeblätterten Tapeten zu leben, in zu Hütten umgebauten Mühlen, in Ställen. »In Genf, in Bardonnex, in Carouge, in Gradelle, in Grange-Canal«, schreibt die Unità im August 1963, »sind Hunderte von Italienern in primitiven Behausungen untergebracht. In der Stadt steht hinter der Eissporthalle mitten im Gestrüpp ein regelrechter Slum: Baracken aus Wellblech, Holz und Kartonagen. Daneben wohnen Emigranten in einem Heuschober gleich neben einem Misthaufen.« Die Chefredakteure der mailändischen und römischen Zeitungen schicken darauf ihre besten Journalisten in die Barackenlager. Wie kann es sein, dass die Schweizer Schilder aufstellen: »Zimmer zu vermieten, aber keine Italiener«, fragen sie sich verstimmt. Giovannino Russo vom Corriere della Sera registriert in Genf die volle Bitterkeit eines Emigranten aus Piedimonte D’Alife bei Benevento, der unrasiert und mit geröteten Augen feststellt: »Die Schweizer wollen keine Fremden bei sich zu Hause, und wir sind Fremde und sind arm. Sie haben nie einen Krieg geführt und wissen nicht, was Hunger bedeutet, weil sie das seit Jahrhunderten vergessen haben. Deswegen verstehen sie uns nicht.«

»Die Schweizer sehen die Emigranten nur als Arbeitskräfte, sie wollen sie nicht als Menschen wahrnehmen«, bietet Don Antonio Tedesco, der stellvertretende Pfarrer der Kirche Maria Frieden, als Erklärung an, als er die aus Italien angereisten Journalisten begleitet. Don Antonio, so die Unità, ist voller Eifer. Er ist aus Giffoni Valle Piana in der Provinz Salerno in die Schweiz gekommen. »Am Sonntag zeige ich In Ketten zum Schafott, freut ihr euch?«, fragt er. Dann führt er den Reporter Aldo De Jaco in die Baracken von Dübendorf. Es ist ein Werktag, die Bauarbeiter der Firma Bonomo sind draussen dabei, »irgendwo eine Kanalisation auszuheben«. »Ein schmuddeliger grosser Schlafraum«, notiert der Reporter, als er wieder an die frische Luft kommt. Don Antonio stellt ihm den Emigranten Guerrino vor: »Er gehört zu unserem Pfarrchor, er kriegt sein Leben auf die Reihe, seit er eine Freundin gefunden hat, ein dickes Mädchen.« Das Gelände ist von Stacheldraht umgeben, zwei uniformierte Wächter halten Wache. Der Pfarrer tauscht mit den Wächtern einen Gruss, einer der beiden Uniformierten sagt ihm: »Hier bei uns ist die Maria nicht reingekommen.« Maria kennen alle, sie ist eine mit einem Italiener verheiratete junge Schweizerin, die ihr Einkommen aufbessert, indem sie auf den Strich geht, für ein Drittel des Preises der ›behördlich überprüften‹ Prostituierten. In Dübendorf, wo jeder Vierte Italiener ist, zumeist Männer ohne Familie, hat Maria genug zu tun. Eines Tages hat sie die Syphilis gekriegt, viele Männer gingen zur Ersten Hilfe. »Es gibt viele Marias«, gibt Don Antonio zu und lässt dabei die Augen zum Himmel schweifen, er ist aber nachsichtig. Ein Emigrant aus Apulien meint: »Es ist ein sklavisches Dasein, weil man seine Frau nicht herbringen darf. Ich halte es nicht für normal, dass man, um Geschlechtsverkehr zu haben, mit einer Hure gehen muss. Aber das Gesetz zwingt einen dazu. Viele zahlen deshalb am Freitagabend bis zu fünfzig Franken, um ein bisschen Liebe zu bekommen.«

Sie fahren nach Zollikerberg, auf den Hügel der Reichen, wo Zimmerleute aus dem Veneto zweistöckige Villen zwischen den Bäumen errichten, Häuser mit farbig gestrichenen Fensterläden inmitten gepflegter Rasenflächen. Der Saisonarbeiter baut die Häuser, darf aber nicht darin wohnen. Er ist nur eine Nummer für die Statistik, das Lumpenproletariat, das die Messingschilder des Kapitalismus poliert.

Die Wände der Baracke in Zollikon sind mit Leinölfarbe weiss gestrichen. Zwei bärtige Vettern aus Kalabrien weben eine Steppdecke, um sich vor der Kälte zu schützen. Der ältere ist achtundzwanzig und seit sechs Jahren ausgewandert. Er hat eben erst das Geld zusammengetragen, damit seine Schwestern im Dorf heiraten können, jetzt spart er für seine eigene Hochzeit. Er sucht eine Frau. Ein Transistorradio auf dem Tisch sendet Radio Prag auf Italienisch. Einer der beiden sagt, ohne den Blick von Nadel und Faden zu lösen: »Vor einiger Zeit hat man hier einen Österreicher umgebracht, und die Schweizer haben, damit jeder weiss, was Sache ist, auf die Wände geschrieben: ›Mörderische Italiener‹.«

1Gewerkschaft der katholischen Arbeitnehmer.

Jagt sie weg!

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