Читать книгу Jagt sie weg! - Concetto Vecchio - Страница 8

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»Was ist dir von deiner ersten Reise in die Schweiz in Erinnerung geblieben?«, frage ich meinen Vater.

Er schliesst die Augen, um sich die Bilder zu vergegenwärtigen, und neigt in angestrengtem Bemühen den Kopf nach hinten. »Das ist lange her«, sagt er schliesslich, um seine Unsicherheit zu rechtfertigen. Er war ein smarter junger Kerl und jetzt ist er ein alter Mann voller Falten. Ich beobachte ihn aufmerksam, während er sich konzentriert. Renato Guttuso hat einmal gesagt, dass ein Mann irgendwann beim Rasieren in den Spiegel schaut und das Gesicht des eigenen Vaters sich abzeichnen sieht. Ich habe den Eindruck, dieser Augenblick sei jetzt für mich gekommen. »Ich bin im Zug, wir sind dicht gedrängt wie Sardinen, es gibt keine Sitzplätze und im Gang halte ich meinen Koffer eng umschlungen«, antwortet er. Wir schweigen dann, und ich bringe nicht mehr den Mut auf, die nächste Frage zu stellen.

Er war der Letzte seiner Generation, der seinen Heimatort mit dem tautologischen Namen Linguaglossa verliess, ein Dorf mit Haselnusssträuchern, Weinbergen und von Trockenmauern eingefassten Strassen an den Hängen des Ätna. Aus seinem Zimmerfenster kann er den Vulkan mit seinen feuerspeienden Launen beobachten. Ein reizender Ort zum Leben, wenn es nur Arbeit gäbe. Seine Freunde sind alle schon weggezogen. Er zählt ihre Namen auf, wie man einen Rosenkranz herunterbetet: Santo von Tante Maria, Ciccio Vecchio, die Brüder Emmi, die Dell’Aquila, die vier Ponzio. Papa will eigentlich nicht auswandern. Die Vorstellung lehnt er den ganzen Sommer 1962 über ab. In jenem Jahr wurde die Reform der Mittelschule verabschiedet, und unter der Mitte-Links-Regierung von Amintore Fanfani lebte Italien sein Wirtschaftswunder aus. Doch die grosszügige Reformorientierung, die grenzenlosen Wohlstand verspricht und das Land in den Kreis der grossen Industrienationen aufnimmt, gilt nicht für Menschen wie ihn: die Letzten da unten in Sizilien.

Mein Vater heisst Carmelo und ist Tischler. Er stellt hochwertige Möbel her. »Er hat ein goldenes Handwerk«, heisst es über ihn im Dorf.

Wir nehmen im Wohnzimmer Platz. Ich hole mein Notizbuch aus der Tasche und Papa setzt sich mit einem braunen Schal um den Hals in den Lehnstuhl. Seine Körperhaltung verrät, wie angespannt er ist. Mit der Handfläche der linken Hand drückt er die Finger der rechten zusammen. Er schielt auf die Notizen, die ich kurz vorher auf dem leeren Blatt gemacht habe. Meine Fragen versetzen ihn in Unruhe.

»Wann hast du dich auf den Weg gemacht?«, hake ich nach.

»Am 29. September 1962. Einem Samstagabend«, gibt er zur Antwort. »Drei Monate später gab es in der Schweiz eine eisige Kältewelle, die Temperatur sank auf minus zwanzig Grad ab, der Zürichsee fror zu und ebenso der Hallwilersee.« Das war somit sein erstes Aha-Erlebnis: eine sibirische Kälte, die die Seen zufrieren lässt und auf deren Oberfläche die Kinder freudig Schlittschuh laufen. Mein Vater folgt dem Weg, der um das Gewässer angelegt ist, im matten Licht eines Wintersonntags, betrachtet die Pirouetten der lärmenden Kinder und schmiegt sich in seinen Mantel. Er ist einundzwanzig Jahre alt.

Er ist vaterlos aufgewachsen. Mein Grossvater, Concetto Vecchio, starb im Mai 1946 im Alter von dreiunddreissig Jahren. Sechs Monate zuvor war er krank aus der Kriegsgefangenschaft in Tunesien heimgekehrt, zwei Jahre und drei Monate lang hatte niemand so recht gewusst, wo er sich befunden hatte. Er war im Juni 1943, als der Krieg schon verloren war, eingezogen worden, um Sizilien vor der anstehenden Landung der Briten und Amerikaner zu verteidigen: ein Familienvater mit zwei Kindern. In Petralia Soprana wurde er nach dem 25. Juli von den Engländern gefangen genommen. Lo scantu di guerra, der Schrecken des Krieges, brachte ihn um, wie Nonna Nina, seine Frau, es nannte. »Ich werde diesen Hammel von Mussolini hassen, so lange ich lebe«, habe ich sie oft sagen gehört. Aus Trotz gegen das Schicksal wollte sie nicht ein zweites Mal heiraten.

Ich frage meinen Vater, ob er noch irgendeine Erinnerung an den Nonno hat. »Keine«, flüstert er und schüttelt den Kopf. Onkel Peppino hat ihm beigebracht, sich eine Krawatte umzubinden, während Egidio Ponzio ihm erklärt hat, wie man eine Rasierklinge hält. Im Flur von Nonnas auf der Lavazunge des Bahnhofs errichteten Häuschens glänzte das lächelnde Gesicht ihres Mannes vor einem stets angeschalteten Lichtlein. Wenn Nonna daran vorbeiging, drückte sie einen Kuss auf ihre Finger und presste ihn auf das Bild. »Meine Wonne«, sagte sie.

Nach der berufsvorbereitenden Schule fing Carmelo, den alle nur Melo nannten, an zu arbeiten. Mit fünfzehn stellt ihn die Möbeltischlerei Fresta in Giarre ein, für 800 Lire pro Tag. Eine Tageszeitung kostet 30 Lire. Er ist bereits ein fertig ausgebildeter Arbeiter, weil er das Handwerkszeug schon beim tüchtigsten Tischlermeister seines Heimatortes, Don Andrea Pino, erlernt hat, zu dem die Nonna ihn im Alter von acht Jahren geschickt hatte, weil sie nicht wollte, dass er seine Zeit auf der Piazza an der Via Mareneve vertat.

»Mit acht?«, unterbreche ich ihn verblüfft.

»Mit acht«, sagt mein Vater, wobei er leicht die Lippen schürzt.

Er schweigt aus Schüchternheit.

»Erinnerst du dich an deinen ersten Lohn?«, frage ich ihn darauf.

»Ich zählte das Geld ungläubig in einem Winkel der Werkstatt, dann steckte ich die Scheine tief in die Hosentasche. Die Hand fest um das Sümmchen geballt, lief ich zur Litturina, dem Triebwagen der Ferrovia Circumetnea, der pfeifend aus Randazzo anrollte. Sie fährt hinunter nach Giarre: Die Fahrt dauert vierzig Minuten. Schwarze Lavalandschaften, Zitronenhaine, schliesslich das Ionische Meer. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schön es ist, sich ein Möbelstück vorzustellen und es dann Stück für Stück zusammenzusetzen«, leuchtet es in ihm auf.

Die Werkstatt riecht nach Leim und Farbe. Der Geruch lässt ihn auch während der Mahlzeiten nicht los, die er an der Werkbank zu sich nimmt: ein mit Basilikum gewürztes kaltes Nudelgericht, ein Stück Ricotta, viel Brot, ein Apfel. Er trägt eine blaue Schürze und einen Bleistift hinterm Ohr. Und er ist imstande, den ganzen Tag lang kein Wort zu sagen, und nur über die Möbel gebeugt zu sein. Abends um 19 Uhr nimmt er dann den Zug. Die Nonna erwartet ihn an der Haustür.

Samstag ist Zahltag, der Lohn wird in bar in einem Umschlag überreicht. Das ist sein Leben als Arbeiterjunge. Sonntag ist hingegen der Tag des guten Anzugs, des vor dem Spiegel im Wohnzimmer geknüpften Krawattenknotens, der gierigen Züge an einer Muratti in den Gassen von San Rocco nach der Messe. »Der Sonntag dient der Erholung«, sagt mein Vater. Auf einer Bank in der Sonne liest er die Zeitung, taucht in die magische Dunkelheit eines Filmtheaters ein, um einen Film gerne auch zweimal hintereinander zu sehen (»Rocco und seine Brüder kann ich auswendig«), und abends bummelt er mit den Freunden über die Piazza, wobei er sich diejenigen aussucht, die klüger sind als er selbst.

Eines Tages kommt ihm zu Ohren, dass Oliva, ein bekannter Kunsttischler aus Catania, der seine Werkstatt in der zentralen Via Firenze hinter dem Justizpalast hat, Fachkräfte sucht. Papa bewirbt sich und wird eingestellt. Das ist eine Beförderung. Er zieht in die Stadt. »Ich wohnte in einer einzimmrigen Ladenwohnung in Viale Mario Rapisarda und verdiente 1000 Lire am Tag, jetzt konnte ich mir jeden Abend das Kino leisten und kaufte jeden Morgen Il Giorno: Als ersten Artikel las ich abends nach dem Abendessen immer den von Giorgio Bocca.« Catania ist eine lebendige und unordentliche Stadt, die Zeitungen bezeichnen sie als »Mailand des Südens«, um ihren Geschäftsgeist zu unterstreichen.

Nonna Nina sagt zu den Nachbarinnen: »Melo hat in Catania seinen Platz gefunden.« »Da hat er eine gute Stellung«, gratulieren die Frauen anerkennend.

Rund um ihn herum blüht Italien auf. Wir sind nicht mehr arm, behaupten die christdemokratischen Bonzen. Wir gehören jetzt zum Club der Weltmächte. Das BIP macht beachtliche Sprünge. Von 1958 bis 1963 – während Millionen Italiener ins Ausland abwandern – beträgt die jährliche Wachstumsrate des Landes im Schnitt 6,3 Prozent. Der städtische Italiener kauft Kleinwagen, Kühlschränke, Fernseher, er fährt in Urlaub und gönnt sich Fleisch und Zucker. 1960 werden in Rom die Olympischen Spiele ausgetragen, als wolle man damit symbolisch das Ende der Armut besiegeln, und die Italiener sind Dritte im Medaillenspiegel. Der Krieg ist eine ferne, lästige Erinnerung. Niemand redet mehr darüber. Feierlicher Optimismus und zur Schau gestellter Jugendwahn bekommen Oberwasser. Der Wirtschaftswissenschaftler Pasquale Saraceno schreibt: »Wir sind dabei, die Probleme Süditaliens mehr als zu jedem anderen Zeitpunkt in der Geschichte des Vereinten Italien zu lösen.«

Doch für wen gilt eigentlich die ungezügelte Expansion, dieses »Wunder«, wenn tagtäglich Züge voller Menschen aus den kleinsten Bahnhöfen des Südens abfahren? Allein in die Schweiz wandern 1962 143143 Italiener aus, darunter auch mein Vater.

Es gibt zwei Italien. Das Pro-Kopf-Einkommen eines Kalabresen beträgt 1965 268268 Lire, exakt die Hälfte des italienischen Durchschnitts. Im Augenblick seines grössten Wachstums verliert Italien Millionen von Menschen durch die Emigration: von der gescheiterten Landreform enttäuschte Bauern, junge Menschen, die es leid sind, ausgebeutet zu werden, Frauen auf der Suche nach einem würdigeren Dasein. Dank dieser Massenflucht biblischen Ausmasses halbiert sich die Arbeitslosigkeit im Mezzogiorno in der Zeit von 1960 bis 1963. Die DC schreibt sich das als eigenes Verdienst zu. Alles ist Wasser auf die Mühlen der Wirtschaftswunderrhetorik.

Im Herbst 1961 entlässt Oliva plötzlich und ohne Vorwarnung alle seine Beschäftigten. Mein Vater ist damals zwanzig Jahre alt. Er versucht, in der Stadt eine andere Anstellung zu finden, klopft an verschiedene Türen, aber umsonst. »Ich bin dann zurück zu Fresta, nach Giarre, ein wenig verschämt. In den zwei Jahren war alles anders geworden, nur er und ein Lehrling hielten den Laden noch am Laufen. Ich weiss nicht warum, aber er stellte mich wieder ein, er gab mir auch wieder 800 Lire am Tag, er zahlte mich jeden Samstag in bar aus. Etwas wehmütig zog ich wieder zu meiner Mutter ins Dorf. Ich hatte mich schon an die Stadt gewöhnt. Dann fing auch Fresta an, in den Strudel der Rezession zu geraten, die Schlinge der Krise zog sich von Tag zu Tag immer mehr zu.«

»Wie ist das möglich?«, frage ich. »War da nicht das Wirtschaftswunder?«

»Die grossen Fabriken im Norden, vor allem in der Gegend der Brianza nördlich von Mailand, und bald auch jene aus den Marken, hatten mit der industriellen Fertigung von Möbeln begonnen, die sie zu einem günstigen Pauschalpreis verkauften, während wir in unseren Werkstätten noch jedes Stück einzeln herstellten. Da konnte man nicht mithalten. Fresta wurde von Tag zu Tag trübsinniger. Ich beobachtete ihn still und spürte auch selbst Bitterkeit aufkommen. Eines Tages nahm er mich zur Seite und kündigte mir an, mich entlassen zu müssen. Es machte ihm mehr aus als mir selbst. Ich brachte die letzten Aufträge zu Ende, er zahlte mich aus und wünschte mir viel Glück.«

Wir schreiben Ende Juli 1962. Die Ferien stehen vor der Tür, in den Tanzlokalen tanzen die Italiener Twist, sie singen Guarda come dondolo, sie begeistern sich für die von Omar Sívori geschossenen Tore. Mein Vater zieht Bilanz seiner misslichen Lage.

Es ist auch das Jahr von Dino Risis Film Il sorpasso (Verliebt in scharfe Kurven). Giorgio Bocca veröffentlicht im Juni das Buch Miracolo all’italiana (Das Wunder auf Italienisch), seine Reportage über den Wirtschaftsaufschwung aus den Fabriken von Vigevano (»das grosse Geld machen, um Geld zu machen, um Geld zu machen: Wenn es dabei um etwas anderes geht, pardon, aber davon habe ich nichts gesehen«), aus Bergamo, wo es keine Arbeitslosen mehr gibt, aus der wohlgenährten Emilia, wo man eine Stunde warten muss, bis man in den Restaurants von Carpi einen Tisch bekommt, dem neuen Distrikt der Strickwarenindustrie. Nur eine Passage ist einer Stadt des Südens gewidmet, Foggia, obwohl die Cassa per il Mezzogiorno enorme Beträge für den Bau von Infrastrukturen bereitgestellt hat, und die staatlichen Unternehmen, von der Iri bis zur Eni, angewiesen wurden, 60 Prozent ihrer Anlagen südlich von Rom zu errichten.

»Ich war damals der festen Meinung«, sagt mein Vater, »wenn einer arbeiten will, findet er immer einen Job, aber mein Optimismus geriet bald ins Wanken. Unter der brennenden Sonne habe ich Zoll um Zoll die ganze Industriezone von Catania abgeklappert. Die boten einem höchstens Gelegenheitsarbeiten an, oder Schwarzarbeit, oder mies bezahlt. Was war da das Richtige? Ich wollte die Nonna nicht allein lassen, wollte aber auch nicht ein Leben voller Entbehrungen fristen. Die Nonna schlief nicht, ich hörte sie im Dunkeln herumschlurfen. Eines Tages, von der x-ten Ablehnung frustriert, entschloss ich mich, mir einen Pass zu besorgen. Ich stieg aus der Litturina und ging in das Reisebüro in der Via Manzoni, das einzige im Dorf. Ich war noch nie dort gewesen. ›Ich will eine Fahrkarte für die Schweiz‹, sagte ich. Ich hatte Onkel Vincenzo als Anlaufstelle. Er hatte eine Schwester von Nonna Nina geheiratet und war seit ein paar Jahren Saisonnier in einer Kiesgrube in Wildegg im Kanton Aargau, im deutschen Teil der Schweiz. Im März reiste er ab und kam im Dezember zurück. Die Frau und die vier Kinder blieben im Dorf. Ich schrieb ihm heimlich. Wenige Wochen später bekam ich Antwort von ihm: ›Du kannst bei mir wohnen, komm: Hier gibt es Arbeit für alle‹.«

Papas Pass von damals habe ich vor mir liegen, mit grünem Deckel. Ich konzentriere mich auf das Foto. Sein vom Blitzlicht des Fotografen geblendeter Blick bringt dieselbe Anspannung zum Ausdruck, die ich auch jetzt wahrnehme, während er mir gegenübersitzt. Der Stempel trägt das Datum seiner Einreise in die Schweiz: 2. Oktober 1962.

»Zweiter-Oktober-Zweiundsechzig«, wiederholt mein Vater.

»Zwei Wochen später bin ich wieder ins Reisebüro gegangen und habe das Zugticket bezahlt: von Giarre nach Arth-Goldau, einfache Fahrt. Am selben Abend ging ich zu Nonna Nina und legte die Fahrkarte auf den Küchentisch. Keinem von uns beiden war danach zu essen. Die Nonna hätte mir eine Szene machen können, sie hätte versuchen können, mich zu überreden, doch nicht zu fahren, hätte bei den Gefühlen ansetzen können. Mit all diesen Reaktionen hatte ich gerechnet und mir mental entsprechende Antworten darauf zurechtgelegt. Stattdessen sagte sie: ›Es soll dich nicht belasten, wenn ich hier allein bleibe. Es ist dein Leben‹.«

Soeben ist La cuccagna (Das Schlaraffenland) von Luciano Salce erschienen, »ein Film über das schnelle Geld und die irrsinnige Verschwendung, die Eile und den Sex der sechziger Jahre«. Er konterkariert das Wirtschaftswunder, Luigi Tenco spielt darin eine Hauptrolle. Es ist der letzte Film, den mein Vater im Kino seines Dorfes sieht. »Zieh dich warm an, bei der Kälte«, trägt ihm die Nonna auf. Sie stopft ihm drei lange Wollunterhosen in den Koffer, schliesslich verabschieden sie sich.

Diese Szene habe ich dann viele Male miterlebt, als Kind. Der Simca auf dem Bahnhofsvorplatz war bis obenhin mit noch warmen Cuddurre, den Osterkuchen, und Weckgläsern mit Tomatensosse beladen, die Nonna erdrückt Papa geradezu mit ihren Liebkosungen: »Jesus, du bist gerade mal vier Tage geblieben«, sagt sie zu ihm; und ich denke: »Warum sagt sie vier Tage, wir waren doch einen ganzen Monat hier?« Meine Mutter verdreht schon die Augen, sie ist die nicht enden wollende Zeremonie leid: »Melo, warum fahren wir nicht los?« Mein Vater lässt den Motor an, legt den ersten Gang ein, rollt ein paar Meter vor, bleibt stehen und steigt resolut aus. »Melo, wo willst du hin?«, versucht Mama ihn zu stoppen. Ich drehe mich um und durch das verstaubte Fenster hindurch kann ich sie sehen: Nonna Nina und mein Vater verschmelzen mitten auf dem Platz unter der brennenden Sonne in einer Umarmung. »Beddu Melu«, weint die Nonna und fährt ihm mit der Hand durch die Haare. »Accura!«, sagt sie, pass auf dich auf. »Was machen sie denn jetzt noch?«, fragt meine Mutter mich genervt. Dann steigt Papa wieder ein, er wankt wie ein vom Sturm gebeutelter Baumstamm. Mama ergreift seine Hand: »Beruhige dich jetzt«, flüstert sie ihm zu. Wir fahren wieder los. Vor der Kurve der Via Umberto sehe ich die Nonna ein letztes Mal: Sie steht noch da, reglos wie eine Statue, ein Pünktchen, das sich in der Überblendung immer mehr entfernt.

Mein Vater hatte noch nie einen Fernzug bestiegen. Es war Nacht. Die Freccia del Sud durchschneidet die verödeten Landschaften des Mezzogiorno. Im Gang hält er den Koffer zwischen den Beinen eingeklemmt. Ab und zu fasst er mit der Hand an das kleine Täschchen, das ihm die Nonna in die Unterhose eingenäht hat: Hier sind hinter einem Reissverschluss seine Ersparnisse verborgen.

»Woran erinnerst du dich noch?«, insistiere ich.

»Ich habe kein Auge zugekriegt«, räumt er ein. »Ich hatte Angst, mich zu verirren. Meinen Weg nicht zu finden. Als ich an die Grenze kam, erklärte man mir, dass sonntags keine ärztlichen Untersuchungen stattfinden.«

Nun sitzt er am Bahnhof von Chiasso fest und wartet, bis der Betrieb wieder aufgenommen wird.

»Was hast du inzwischen gemacht, um die Zeit totzuschlagen?«

»Ich habe die Nacht in einem Barackenlager nebenan verbracht.«

»Ein Barackenlager?«

»Ja, in einer Baracke für Grenzpendler. Im ersten Morgenlicht bin ich rausgeschlichen und habe mich für die ärztliche Untersuchung in die Reihe gestellt.«

Mit der gesundheitlichen Eignung in der Tasche besteigt er den Waggon, der bald darauf in Airolo in den langen und dunklen Gotthardtunnel einfährt: Zwanzig Minuten später tauchen die grünen Wiesen von Göschenen auf, die Bergspitzen wie in den Zeichentrickfilmen von Heidi, weidende Kühe, die Heimat von Wilhelm Tell. Die Deutschschweiz. Er schaut aus dem Fenster. Welches Leben mag ihn hier wohl erwarten?

In Arth-Goldau steigt er aus, der Anschlusszug nach Lenzburg wartet bereits. Ein Städtchen mit einem hübschen Schloss zwischen Zürich und Basel.

»Der erste Mensch, dem ich begegnete, als ich den Koffer auf dem Bahnsteig des kleinen Bahnhofs abstellte, war Santo Vecchio.«

»Santo Vecchio, der Mann von Maria?«, frage ich.

»Unglaublich, nicht wahr?«

Santo erklärt ihm, wie er zur Wohnung von Onkel Vincenzo findet. »Ich kam gegen Abend in Niederlenz an. Er wohnte in einer Querstrasse der Wildeggerstrasse: Langeichen 505«, wiederholt er jetzt, als wäre es ein Gedicht. Onkel Vincenzo wohnt bei einem alten Ehepaar, den Gerbers. Sie haben ihm das Zimmer der Kinder vermietet, die ausgezogen sind. Im Keller darf er eine kleine Herdplatte benutzen, auf der er kocht. Im Garten der Gerbers zieht er Gemüse, Kartoffeln und Zwiebeln, denn man spart auch bei den fünfzig Rappen für einen Salat. Der Onkel kocht ihm eine Suppe, bietet ihm das Sofa in seinem kleinen Zimmer an, »heute Nacht schläfst du hier«, dann löschen sie das Licht.

Am nächsten Morgen holt er ein Fahrrad aus dem Keller. »Das brauchst du heute, du kannst es haben. Es gibt drei Tischlereien hier in der Nähe. Auf diesem Blatt habe ich sie dir aufgezeichnet, so findest du sie«, sagt er, dann macht er sich auf den Weg in die Kiesgrube.

Ich habe nie verstanden, wie mein Vater es geschafft hat, sich an diesem fremden Ort zurechtzufinden, ohne ein Wort Deutsch zu können, ohne Google Maps, ohne irgendwelche Bezugspunkte, ein Schiffbrüchiger, der verzweifelt an ein Ufer will.

»Ich behalf mich mit Handzeichen«, sagt er achselzuckend. »Und mit etwas Glück stiess man früher oder später auf einen Italiener, der einem half.«

Während ich seine Antwort notiere, versuche ich ihn mir vorzustellen, wie er mit dem Fahrrad die Dörfer des Mittellands abklappert, das Fahrrad an eine Mauer lehnt und an die Türen der Werkstätten klopft, denen er nur sein handwerkliches Können bieten kann und seinen festen Willen, eine Arbeit zu finden.

»Onkel Vincenzo sagte zu mir: ›Versuch es zuerst bei der Wisa Gloria.‹ Ich fuhr nach Lenzburg und entdeckte, dass Pippo Emmi dort arbeitete. Sie sagten zu mir: ›Wir sind voll belegt, versuch es bei Fischer.‹ Ich schrieb den Namen der Firma auf einen Zettel, machte mir eine Skizze für den Weg, schliesslich kam ich, nachdem ich mich mehrmals verfahren hatte, nach Wildegg. Auch bei Fischer wurden meine Erwartungen enttäuscht. ›Vielleicht suchen sie bei Thut noch Arbeiter‹, redete mir der Abteilungsleiter gut zu. Es war beinahe Abend, als ich dort ankam. Es war kalt. Das Werk lag am Ende einer Schotterstrasse in Möriken. Sie bauten dort in der ganzen Schweiz bekannte Designermöbel. Der Sohn des Besitzers, Kurt Thut, war einer der bekanntesten Architekten des Landes. Aber das wusste ich damals nicht. Ich klingelte. Der Werksleiter musterte mich wohlwollend, dann holte er einen Arbeiter als Dolmetscher heran, Franz aus der Gegend von Bergamo, der etwas Deutsch sprach. Überrascht erblickte ich einen aus meinem Heimatort, er hiess Marano, den kannte ich, weil er in der Via Don Diego wohnte, auch wenn wir uns kaum grüssten. ›Carmelo ist in Ordnung, stell ihn ein‹, sagte Marano zu Franz. Franz meldete es dem Chef.«

Wie viele Jahre ist das her? Fast sechzig.

»Ohne Arbeit ist der Mensch kein Mensch«, sagt mein Vater.

Man stellt ihn auf die Probe und lässt ihn einen Schrank zusammenbauen. Ab und zu kommt der alte Thut vorbei und beobachtet seine Handgriffe. Handfertigkeit und Technik, sagt mein Vater sich vor, als er nach dem Holz greift. »Die Technik ist alles«, sagt er auch jetzt, während er hier auf dem Sofa sitzt. »Franz war Bauer gewesen und sprach nur seinen Dialekt. ›Ruhig weiter so‹, ermutigte er mich. Ich setzte den Schrank mit sicherer Hand zusammen, Thut verfolgte die Szene ohne ein Wort. ›Er kann drei Tage bei uns bleiben, dann werden wir sehen‹, sagte er nur. Am nächsten Morgen fand ich mich in der Fabrik ein, als sie noch geschlossen war. Sie gaben mir eine blaue Schürze, die ich wie eine Uniform anzog. ›Mettici ’a sputazza ’u nasu‹ (Zeig, was du kannst und wer du bist), hatte die Nonna mir aufgetragen. Nach den drei Probetagen bestellte der Leiter mich in sein Büro. Mein Herz klopfte wie wild. ›Sehr gut‹, sagte er, und angesichts meines fragenden Blicks übersetzte er lachend: ›Molto bene‹.«

»Und so bekam ich die Stelle«, sagt mein Vater jetzt.

»Überraschenderweise wies man mich der Lackiererei zu. Das war nicht mein Beruf, ich baute die Möbel zusammen, aber ich tat keinen Mucks. Man musste mit der Schutzmaske arbeiten, um sich vor den Dämpfen zu schützen. Ich blieb dort sechs Monate, dann sagte mir der alte Thut an einem Tag im April, an der Montagebank sei eine Stelle freigeworden. Endlich konnte ich die Arbeit machen, die mir zusagte.«

Er findet Unterkunft bei einer Bauernfamilie, der er 60 Franken im Monat für die Miete zahlt. Er verdiente 290, die man ihm wöchentlich in bar auszahlte. »Die Bauern waren ein altes Paar, das seine Rente aufbesserte, indem es die Zimmer vermietete. Viele Schweizer lebten davon, sie redeten nicht viel, und das bisschen verstand ich nicht. Ich besorgte mir eine Herdplatte, mit der ich ungeschickt hantierte. Abends, wenn ich aus der Fabrik kam, empfand ich eine grosse Wehmut. Ich beschloss, über Weihnachten nicht nach Hause zu fahren. Ich hatte bis dahin erst zwei Monatslöhne verdient, so arbeitete ich auch während der Feiertage. Den Weihnachtstag verbrachte ich in Einsamkeit, am Morgen ging ich zur Messe; am Spätnachmittag, als ich es leid war, in dem kleinen Zimmer Zeitung zu lesen, nahm ich den Zug nach Zürich. Die eiskalte Stadt glänzte nur so vor lauter Weihnachtsbeleuchtung. Die Strassen waren leergefegt, ab und zu ratterte eine Strassenbahn vorbei. Ich ging die Bahnhofstrasse, ich weiss nicht wie oft, auf und ab, wärmte mich an einem Kaffee in einem Lokal, dann landete ich vor einem Nachtclub, wo Tänzerinnen auftraten. Ich versuchte, durch die Milchglasscheiben hineinzuspähen, ich war mir lange unsicher, ob ich hineingehen sollte oder nicht. Als ich wieder nach Hause kam, teilte ich den Bauern mit, dass ich nicht länger dort bleiben wollte. Nach Dreikönig fand ich einen anderen Schlafplatz in der Wohnung einer sehr betagten Frau: Frau Säuberli. Sie war Protestantin und ging dauernd in die Kirche. Sie vermietete mir das Zimmer für 50 Franken und kochte jeden Abend für mich, wobei sie mich aufforderte, zu Tisch zu kommen: ›Karmello!‹ Dann kam die Nebelzeit, frühmorgens kreisten die Krähen am Himmel. Abends, wenn ich nach Hause kam, lag alles in tiefer Stille.«

Mit einem Handzeichen bittet er mich um eine Pause. »Ich brauche ein Glas Wasser«, rechtfertigt er sich.

Was hat dieser Rückblick auf die Fremdheitserfahrung ausgelöst, ein ganzes Knäuel von Erinnerungen, die er hier zum ersten Mal ausrollt?

Jagt sie weg!

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