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ОглавлениеWir haben unser Gedächtnis gekappt.
Seit 1860 sind über dreissig Millionen Italiener ausgewandert, aber niemand scheint sich in Italien daran zu erinnern, oder man tut so, als wüsste man es nicht mehr, oder man pflegt eine sehr selektive Erinnerung. Es gibt in Italien beinahe keine Familie, die nicht mindestens einen Verwandten im Ausland hat oder hatte, dennoch haben wir die Entbehrungen der härtesten Jahre und all die Folgen jener Not verdrängt.
Unmittelbar nach dem II. Weltkrieg unterschieden sich die Verhältnisse in Italien gar nicht so sehr von den Beschreibungen in Büchern wie Ignazio Silones Fontamara oder Carlo Levis Christus kam nur bis Eboli. Das Land lag am Boden. Der Krieg hatte Schäden in einer Höhe von 7000 Milliarden Lire verursacht. Wir sind damals so arm, dass das Parlament 1951 eine auf drei Jahre angelegte Untersuchung über das Elend und die Möglichkeiten zur Abhilfe auf den Weg bringt. 11,8 Prozent der Bevölkerung leben unter Bedingungen absoluter Rückständigkeit, in Süditalien schnellt dieser Anteil auf 50 Prozent hoch. In den ersten Jahren des Wiederaufbaus kennen zwei Drittel der Bevölkerung so gut wie keinen Fleischverzehr, über vier Millionen Familien bekommen überhaupt nie Fleisch auf den Tisch. Fast zwei Millionen Familien wissen nicht, was Zucker ist, die Hälfte der Bevölkerung trinkt keinen Wein. Die Ausschussmitglieder entdecken, dass auf Sizilien 22000 Familien in Höhlen oder in Baracken leben.
Der Schlosser Giuseppe Granelli erzählte Giorgio Manzini im Buch Una vita operaia: »Man lebte damals sehr einfach; man ging zu Fuss oder fuhr mit dem Fahrrad in die Fabrik und nach der Arbeit in den Zirkel oder nach Hause. Samstagabend oder Sonntag ins Kino. Es war schon ein Glück, überhaupt Arbeit zu haben. Die Arbeitslosen kamen von überall her, jeden Tag gab es Kundgebungen vor den Fabriken. Ein Heer von Arbeitern wollte hinein, aber die Tore waren eng.«
Der Mezzogiorno, Italiens Süden, lag trotz der Bemühungen einer Landreform, die dem Grossgrundbesitz ein Ende setzte und Brachland an die Bauern verteilte, am Boden. Der Historiker Piero Bevilacqua weist denn auch darauf hin: »Die Reform erfüllte eine wichtige soziale Funktion, hatte aber nur eine eingeschränkte wirtschaftliche Wirkung.« Nicht für alle gab es Arbeit. Das bisschen Arbeit, das es gab, war auf Zeit, unterbezahlt und schwarz. In Reggio Calabria bekamen die Olivenpflückerinnen, die laut Vertrag für acht Stunden Arbeit 500 Lire pro Tag bekommen sollten, nur die Hälfte, mussten aber zwölf Stunden arbeiten. Kinderarbeit war äusserst weit verbreitet. Jugendliche wurden regelmässig als Handlanger in den Schwefelminen oder zum Transport von Säcken eingesetzt. Jeder Dritte kam seiner Schulpflicht nicht nach. Es herrschten Ausbeutung, illegale Tagelöhnervermittlung (caporalato), verdeckte Formen der Sklaverei. Sonntagvormittags warteten die Bauern unter den Balkonen des Landbesitzers auf ihren Lohn, der Besitzer liess sich bei seinem Frühstück Zeit, ab und zu trat er im Pyjama an die Brüstung, liess den Blick über die schwarz wogenden Schiebermützen gleiten und kehrte dann gemächlich zu seinem Milchkaffee zurück. Und wenn die Lümmel rumorten, spuckte er auf sie herab.
1957 begann die Cassa per il Mezzogiorno, mit direkten staatlichen Massnahmen eine Industriewirtschaft aufzubauen, in deren Zug das Stahlwerk in Taranto, die Erdölraffinerie Anic in Gela, die Chemiewerke von Cagliari, Sassari und Porto Torres und das Stahlwerk in Bagnoli bei Neapel entstanden. Die Massnahmen kamen aber zu spät, um das Ungleichgewicht zwischen Norden und Süden wieder ins Lot zu bringen. Ein gehöriger Teil der Italiener gönnte sich keinen Urlaub, auch keinen Restaurantbesuch oder sonstige »Marotten«. Autos waren ein Luxus für wenige, Fernsehen guckte man in der Bar. Noch 1960 besassen im Süden lediglich 15 Prozent der Bevölkerung einen Kühlschrank.
Millionen Frauen und Männer wussten einfach nicht, wie sie mittags und abends etwas auf den Tisch bekommen sollten. Deshalb wanderten sie aus – in Zügen mit Namen wie Freccia del Sud (Südpfeil), Treno del Sole (Sonnenzug), Treno dell’Etna (Zug des Ätna), Freccia delle Puglie (Pfeil Apuliens), Espresso del Levante (Ostküsten-Express). »An den Bahnhöfen«, so der KPI-Vorsitzende Palmiro Togliatti mit näselnder Stimme im Radio, »bin ich beeindruckt von der Menge bedürftiger, verarmter Menschen mit ihren abgewetzten grossen Koffern, die von einem Bindfaden zusammengehalten werden: Leute, die sich auf Arbeitssuche begeben, oft auf gut Glück in fremden Ländern.«
Das Foto auf dem Umschlag der italienischen Ausgabe des Buches Gli italiani in Svizzera. Un secolo di emigrazione (herausgegeben von Ernst Halter, deutsch: Das Jahrhundert der Italiener in der Schweiz) zeigt eine Gruppe von Emigranten am Bahnhof von Zürich 1953. Sie drängen sich auf dem Bahnsteig, um den Zug zu besteigen, der sie zu den Wahlen nach Italien bringen soll. Es geht um die Wahlen nach dem umstrittenen Schwindelgesetz. Die Arbeiter haben Pomade in den Haaren, sie tragen Krawatte und Jackett, denn die Reise verlangt ein anständiges Aussehen, eine gewisse Eleganz. Sie drängeln. Manche tragen ihren Koffer auf der Schulter. Sie kämpfen darum, wer als Erster den Waggon besteigen kann, um sich einen Sitzplatz zu sichern. Der Kampf darum, sich in der Wohlstandsgesellschaft einen Notsitz zu erobern, beginnt in diesen überfüllten Zügen.
Mitte der sechziger Jahre leben über eine halbe Million Italiener in der Schweiz. Wenn sie an den Bahnhöfen mit diesen schwerfälligen Namen wie Winterthur, Schaffhausen, Dietikon aussteigen, stellen sie nur ein Gepäckstück ab: Ihr ganzes Leben ist in dem einen Koffer verstaut.
Tagtäglich fahren bis auf den letzten Platz besetzte Züge aus der Provinz ab, in der die Moderne noch nicht angekommen ist, die Insassen sind oft Analphabeten, die nur gebrochen Italienisch sprechen. Sie waren Tagelöhner oder Halbpächter, Handwerker, die unter der Hand mit einem Taschengeld abgespeist wurden. Jetzt müssen sie sich beeilen, in der Massengesellschaft zu Arbeitern zu werden, sich in der Fabrik Fertigkeiten und einen Beruf anzueignen, sich rasch in die Lebensnerven des modernen Kapitalismus mit seinen Ritualen und seiner Rauheit einzufügen.
Mitten in Europa liegend, ist die Schweiz das verheissene Land, das Schlaraffenland der Vollbeschäftigung. Aber es ist auch eine feindselige Welt. Ausserdem machen unsere Leute, auch wenn sie kein Wort Deutsch können, die Arbeit, die die Schweizer nicht mehr machen wollen: die Klos auf den Bahnhöfen putzen, den Gotthard-Tunnel bauen, die Autobahn Genf-Lausanne, Staudämme in den Alpen hochziehen, in den Küchen der Gasthäuser die Teller waschen, in den Grand Hotels die Koffer auf die Zimmer hochtragen oder die Gäste an den Tischen bedienen, wie der Kellner aus der Ciociaria »Nino« Garofoli aus dem Film Brot und Schokolade. Billige Arbeitskräfte ohne grosse Ansprüche, die nur über die Runden kommen wollen. Sie schuften rastlos im Akkord. Manche lassen sich selbst vom Limit der fünfzig Wochenstunden nicht aufhalten.
Die Schweizer sind nicht zutraulich. »Lustig werden sie nur, wenn sie sich ein Bier reinziehen«, sagen die Migranten. In der Fabrik sind die Schweizer distanziert, förmlich, und sobald sie beim Tor raus sind, laufen sie nach Hause, riegeln sich in ihrem Wohnzimmer oder in den Lokalen ab, um halb sieben essen sie zu Abend, abends gehen sie früh zu Bett. Am Samstagnachmittag schliessen die Läden um vier, die Sonntage sind für den Emigranten, der es gewohnt ist, diesen Tag auf der Piazza zu verbummeln, öd und melancholisch. Der Schweizer sucht sonntags vor allem seine Ruhe. In diesen Augenblicken der Stille, wenn die Produktion stillsteht, macht sich das Heimweh stärker bemerkbar. Dann fangen sie an zu singen. Non ho l’età per amarti / non ho l’età / per uscire sola con te / e non avrei nulla da dirti / perché tu sai molte più cose di me (Ich bin zu jung, um dich zu lieben / Ich bin zu jung, um mit dir auszugehen / Und ich hätte dir nichts zu sagen / Denn du weisst viel mehr als ich). Aus schweren Kofferradios verfolgen sie Tutto il calcio minuto per minuto. Aus dem Mailänder San Siro-Stadion vereint die Stimme von Live-Reporter Sandro Ciotti die Fussballnation auf Mittelwelle.
In der Schweiz tragen alle einen Regenschirm in der Tasche, hundertdreissig Regentage im Jahr, im November legt sich der erste Nebel über das Land, die Strassen sind von gelben und roten Blättern gesäumt. Dann kommt die Zeit von Frost und Schnee, der Himmel wird weiss und es flockt dicht auf Baustellen und Baracken, auf Lebende und Tote. Wenn die Arbeiter sich im Morgengrauen in langen Kolonnen auf den Weg in die Fabriken machen, rutschen sie oft auf dem eisüberzogenen Asphalt aus. Das ganze Weiss schreckt sie.
In einem Schwarzweissfilm des schweizerischen Fernsehens über die italienischen Emigranten in Zürich wird unter anderem eine Gruppe Süditaliener in einem Zug nach Palermo interviewt. »Ich fahre nach Hause, zu meiner Frau und meinen drei Kindern«, sagt ein Mann mit Schnurrbart und zeigt drei Finger. »Wie lange haben Sie sie denn nicht mehr gesehen?«, fragt der Journalist. »Zehn Monate«, antwortet der Arbeiter trocken. »Seit zehn Monaten?«, fragt der Journalist nach. »Zehn Monate«, gibt jener zurück. »Mein Sohn ist viereinhalb Jahre alt. Er heisst Augusto«, sagt ein anderer Reisender. »Ich habe ihn seit neun Monaten nicht gesehen.« Es sind Saisonniers. Ihr Vertrag währt so lange wie eine Schwangerschaft.
Von 1946 bis 1968 sind zwei Millionen Italiener in die Schweiz ausgewandert. Zuerst kamen die Lombarden und fanden in der Landwirtschaft Arbeit. Dann kamen sie aus den Gebirgsgegenden Venetiens und wurden in der Bauwirtschaft eingestellt. Seit Anfang der sechziger Jahre kam dann der gesamte Süden, aus Sizilien, Kalabrien, Apulien, Lukanien, Kampanien und den Abruzzen: 128000 kamen 1960, 152000 1961, 143000 1962, 122000 1963, 105000 1965, 104000 1966. Es gab nicht genug Wohnraum. In einer Szene von Brot und Schokolade ist eine Gruppe illegaler Einwanderer zu sehen, die in einem Hühnerstall wohnen: Und tatsächlich lebten unsere Emigranten in fensterlosen Dachstuben, in ungesunden Bruchbuden mit kaputten Klos auf halber Treppe.
Im Juni 1948 unterzeichneten Italien und die Schweiz ein bilaterales Abkommen über die Anwerbung von Arbeitern. Dieser Pakt brachte beiden Seiten Vorteile. Die Schweiz benötigte riesige Kontingente an billigen Arbeitskräften. Italien wusste nicht wohin mit all seinen Arbeitslosen. Die Schweiz bekam Zugang zu einem weiten Reservoir gefügiger Arbeiter und Arbeiterinnen. Italien wurde sie los.
Das Abkommen sah drei Arten von Aufenthaltsgenehmigungen vor: eine saisonale, eine Jahres- und eine Niederlassungsbewilligung. Die Bewilligung A bekam der Saisonarbeiter, die B der Jahresarbeiter, die C für den Daueraufenthalt war die ersehnteste. Damit wurden die Arbeiter nicht nur nach »fachberuflichen«, sondern auch nach »politischen und persönlichen Kriterien« ausgewählt.
Der Pakt war darauf angelegt, den Zustrom wieder rückgängig machen zu können, um den Arbeitgebern grösstmögliche Flexibilität gegenüber der konjunkturellen Entwicklung zu gewährleisten: befristete, aber erneuerbare Arbeitsverträge für die Saisonniers; für alle anderen Jahresverträge. Ein kompliziertes und prekäres Zugangssystem. Der Emigrant hatte keinen Anspruch auf eine Arbeitslosenversicherung, durfte auch nicht den Arbeitsplatz wechseln oder die Familie nachholen. Warum?
Die schweizerischen Behörden hatten grosse Angst, ihr Wirtschaftswunder könnte sich erschöpfen, und wollten nicht Tausende arbeitsloser Ausländer versorgen müssen. Die zeitliche Befristung der Anstellungen war mit dem sogenannten Rotationsprinzip festgelegt worden, das den Zustrom von Arbeitskräften wie ein Rad regelte. Man wurde auf Zeit eingestellt, die Zeit des Wohlstands. Wenn der Wohlstand ins Stocken geriet, konnte man die Arbeitskräfte wieder zurückschicken.
Die ausländischen Arbeitskräfte wurden nicht umsonst in Gastarbeiter umbenannt. Die Saisonniers kamen im März und fuhren im Laufe des Dezembers wieder nach Hause. Das Rotationsprinzip sah weder Integration noch Inklusion und schon gar nicht Wohlfahrtssysteme vor. Nino Garofoli sagte es so: »Der Saisonnier ist ein Arbeiter, der bei den Pflichten immer in vorderster Reihe steht, bei den Rechten immer in der letzten.«
Das schweizerische Wirtschaftswunder liess aber nicht nach. Im Gegenteil, es boomte von Jahr zu Jahr weiter. Die Wachstumsraten lagen stabil bei 5 bis 6 Prozent. Die Konjunktur verlangte nach neuem Zuzug, nach weiteren Lohnarbeitern, schnell auszubildenden Arbeitern: Strassenarbeitern, Maurern, Zimmerleuten, Textilarbeitern, Fliesenlegern, Schlossern. Der Bedarf an Arbeitern war so akut, dass grosse Unternehmen eigene Emissäre nach Süditalien schickten, um Arbeitskräfte vor Ort zu rekrutieren, wie in Leonardo Sciascias Erzählung Die Prüfung, in der ein gewisser Blaser in ein Dorf im Süden kommt, um junge Frauen anzuwerben, »Mädchen, die nicht unter achtzehn und nicht über dreissig sein sollten«.
Vor der Einreise in die Schweiz hatte jeder Emigrant sich »aus Gründen der öffentlichen Gesundheit« an der Grenze einer eingehenden ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, Saisonniers mussten sie jedes Jahr wiederholen: Röntgenaufnahme des Brustkorbs, Blutuntersuchung, wer Tuberkulose oder Syphilis hatte, wurde nicht ins Land gelassen. Artikel 15 des Abkommens von 1948 lautete: »Die Untersuchung des Gesundheitszustandes bei der Einreise in die Schweiz wird auf das Notwendigste beschränkt. Aus dieser Untersuchung erwachsen dem Arbeitnehmer keine Kosten.« In Chiasso stieg man aus dem Zug aus, die Männer auf der einen, die Frauen auf der anderen Seite, »Oberkörper frei!«, wies der Arzt die Männer an, anhand der Pässe, die alle in der Hand hielten, wurde eine Namensliste erstellt, »In einer Reihe aufstellen!«, rief der Arzt, dann wurden sie nacheinander laut beim Namen aufgerufen, mit dem Pass in der Hand gingen sie einzeln und nackt in einen kleinen Raum, und wenn alles getan war, stempelte der Arzt die Eignung ab, deinen Anteil am Wirtschaftswunder zu leisten.
Der Emigrant erlebte eine Art Spaltung, einen doppelten Groll: gegen Italien, das ihm keine Würde und keine Zukunft zu bieten gewusst hatte, und gegen die Schweiz, die ihn wie eine Ware behandelte. Dieses Ressentiment war immer präsent. In jedem Interview brachten die Emigranten die italienische Regierung ins Spiel, der sie vorwarfen, ihre missliche Lage ausgelöst zu haben, sie zur Ausreise gedrängt und ihrem Schicksal überlassen zu haben. Genau genommen hatten sie damit nicht unrecht, denn die Auswanderung war von der Democrazia Cristiana (DC), die seit kurz nach Kriegsende die Regierung stellte, stark begünstigt worden.
»Unser Land ist nicht in der Lage, allen Arbeit zu geben«, hiess es unverblümt in einem Dokument des Ministeriums für Verfassungsgebung des Jahres 1946. »Italien ist das einzige europäische Land mit einem Überschuss an Arbeitskräften«, schrieb der Wirtschaftswissenschaftler Pasquale Saraceno in einem Bericht an den nationalen Wirtschaftsrat. »Wir müssen Anstrengungen unternehmen, damit die Leute Sprachen lernen, und unsere Schulen und unsere Fortbildungskurse sollen sich auf unsere Auswanderung einrichten«, verlautete Regierungschef Alcide De Gasperi auf dem dritten Kongress der DC 1949. In einer Rede in Camigliatello in Kalabrien forderte er die Süditaliener auf, sich aufzumachen »hin zu den Strassen der Welt«. »Die Auswanderung ist eine Notwendigkeit«, räumte der spätere Ministerpräsident Mariano Rumor ein.
In seinem Unvermögen, der Plage der Arbeitslosigkeit beizukommen, rief der Beirat für Wirtschaft und Soziales der DC noch 1953 dazu auf, »die Auswanderung durch die angemessene Vorbereitung des Emigranten zu fördern«. Diese Politik setzte auf die Heimatüberweisungen der Migranten. Der Meridionalismus-Forscher Guido Dorso stellte fest: »Wenn neues Kapital durch unsere Emigranten zurückfliesst, kann das Problem wieder aufgegriffen werden, die Hälfte unseres Südens in eine grosse Obstplantage zu verwandeln und die Landwirtschaft zu industrialisieren, und unser Land kann nach so langer Zeit der Misswirtschaft wieder aufblühen.«
Von 1958 bis 1963, den Kernjahren des Wirtschaftswunders, aber auch grosser Ungleichgewichte zwischen den verschiedenen Regionen des Landes, wanderten anderthalb Millionen Italiener nach Europa und 400000 nach Übersee aus. Für die junge Republik stellte die Emigration das unerlässliche Überdruckventil dar, um das Schwungrad der Nation wieder anzukurbeln. Wer für einen Arbeitsplatz bei Fiat nach Turin zog oder nach Mailand zu Alfa Romeo oder in irgendein anderes Werk im Industriedreieck zwischen Mailand, Genua und Turin, tat dies, um ein anderes Leben zu führen und um dort sesshaft zu werden. Die Bauernmassen, die es in die Schweiz trieb, waren hingegen überzeugt, nur kurz zu bleiben, gerade so lange, bis sie eine hübsche Summe zusammengespart hatten.
1962 machte ein Lied von Cornelia Froboess Furore, Zwei kleine Italiener. Es geht so: »Zwei kleine Italiener / Die träumen von Napoli / Von Tina und Marina / Die warten schon lang auf sie / Zwei kleine Italiener / Am Bahnhof, da kennt man sie / Sie kommen jeden Abend / Zum D-Zug nach Napoli.« Dann werden sie aber mit Hausbesitzern konfrontiert, die in ihren Wohnungsanzeigen klarstellen: »An Hunde und Italiener wird nicht vermietet«, und an den Türen der Gasthäuser hängen Schilder mit der Aufschrift »Mora verboten«, um die Handlanger aus der Lombardei und dem Veneto fernzuhalten, die in ihrer Freizeit Morra spielen. Dunkelhaarige verboten (mora heisst im Italienischen auch: dunkelhaarig).