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Erste Überlegungen zur französischen Deutschlandpolitik vor 1945
ОглавлениеDie französischen Vorbereitungen nahmen um die Jahreswende 1944/45 Fahrt auf, doch hatten die ersten Überlegungen über die Art, wie man Deutschland für den Wiederaufbau Frankreichs und Europas nach der Niederlage des „Dritten Reiches“ heranziehen könne, schon zu einer Zeit eingesetzt, als der Sieg der Alliierten noch nicht feststand und die Beteiligung Frankreichs an der Besetzung Deutschlands eher unwahrscheinlich schien. Nicht umsonst notierte Andreas Wilkens: „Der Nullpunkt der französischen Nachkriegsdiplomatie liegt nicht im Jahre 1945 oder 1944, er liegt im Jahre 1943“4.
Überlegungen über die Zukunft Frankreichs, des besiegten Deutschlands und Gesamteuropas – alle drei untrennbar miteinander verbunden – hatte zuvor nicht nur die innere Résistance, sondern auch die France Libre angestellt. Hervorzuheben ist der Einfluss der Gruppe Combat um Henri Frenay und Claude Bourdet auf die Errichtung einer künftigen europäischen Föderation. Beide unterschieden zwischen dem NS-Regime und dem deutschen Volk und konnten sich das Europa der Zukunft ohne Deutschland nicht vorstellen5. Lange sahen verschiedene Historiker in diesen Zirkeln die einzigen Vertreter einer integrativ-konstruktiven Politik für die Nachkriegszeit6. Die Genannten waren mit ihren Vorstellungen jedoch nicht allein, denn auch in Algier diskutierten und planten in der unmittelbaren Umgebung von de Gaulle7 im Herbst 1943 drei CFLN-Kommissare, Jean Monnet, Hervé Alphand und René Mayer, drei umfängliche Projekte. Mit einer Portion Realismus versehen beschäftigten sie sich im Rahmen ihrer Überlegungen zu „Wiederaufbau“ und „Modernisierung“ mit Fragen der Wirtschaftsordnung des zukünftigen Nachkriegseuropas, das nach ihren Vorstellungen nicht wieder in den Protektionismus der Vorkriegszeit verfallen sollte. Die Erfahrungen mit dem Wiederaufleben des deutschen Nationalismus als Folge des von den Deutschen als „Karthago-Friede“ empfundenen „Diktats von Versailles“ hatten diese Kräfte umdenken lassen. Ihnen schienen Reparationen zum eigenen wirtschaftlichen Wiederaufbau zwar genauso unverzichtbar, doch sollten die Deutschen nicht wie nach 1918 über Jahre am wirtschaftlichen Tropf hängen und sich desillusioniert politischen Laienpredigern an den Hals werfen. Auch aus innenpolitischer Perspektive und zur Stärkung der eigenen Wirtschaft hielten sie eine solche Politik für erfolgversprechender.
Jean Monnet hatte aus dem Scheitern des Völkerbundes gelernt und strebte die Stabilisierung der europäischen Ordnung durch die Zusammenarbeit in übernationalen Strukturen an, um nicht wieder in einen wirtschaftlichen Nationalismus zu verfallen. Deutschland sollte nach seinem Dafürhalten als integraler Bestandteil in diese europäische Einheit eingebunden werden:
„Man kann die politische Teilung Deutschlands anstreben, aber nur unter der Voraussetzung, dass jeder der deutschen Staaten ein Element des europäischen Ganzen bildet und wie die anderen Elemente die gleichen Vorzüge genießt. Anderenfalls werden die verschiedenen Länder des geteilten Deutschlands dazu neigen, sich wieder zu einem deutschen Flächenstaat im Zentrum Europas zu vereinigen“8.
Der Wirtschaftskommissar der CFLN (und nach dem Krieg Direktor für Wirtschaftsfragen am Quai d’Orsay), Hervé Alphand, plante die Entstehung einer Zollunion zwischen Frankreich und den Beneluxländern, ohne sich direkt mit der deutschen Frage zu beschäftigen. In seinen späteren Notizen unterstrich er hingegen, dass es nicht genüge, die deutsche Wirtschaft zu kontrollieren und Reparationszahlungen durchzusetzen; die beste Kontrolle Deutschlands entstehe aus der Einbindung seiner Wirtschaft in das europäische Wirtschaftssystem9.
In dem dritten, von René Mayer, dem Kommissar für das Verkehrswesen der CFLN (und künftigen Minister der IV. Republik sowie 1953 Ministerpräsident) verantworteten Projekt ging es um die Frage eines Rheinstaats. Mayer schwebte eine „westeuropäische Föderation“ der Länder Frankreich, Belgien, Luxemburg und Niederlande vor, die in einen Rheinstaat auch das Ruhrgebiet mit einschließen sollte und die Sicherheit der Rheinanrainerstaaten und vor allem die französischen Wirtschaftsinteressen schützen sollte. Um ein Gegengewicht zum deutschen Einfluss zu schaffen, war der Beitritt von Italien und Spanien angedacht10.
Diese Projekte wurden im Oktober 194311 diskutiert und von de Gaulle schließlich entschieden. Der General bevorzugte das traditionelle Bündnissystem, von dem er sich größere Sicherheit für Frankreich versprach, blieb gleichzeitig aber auch offen für die Möglichkeit einer westeuropäischen Union mit Frankreich und den Beneluxstaaten als Kern. Er stellte klar, dass die rheinisch-westfälische Industrieregion mit der westeuropäischen Union zu vereinen sei12. Abgesehen vom Rheinstaat, den man „nach Maßgabe des Möglichen“ abtrennen müsse, beabsichtigte er keine Zerstückelung Deutschlands13. Damit war der integrative Ansatz von Jean Monnet weitgehend gescheitert. De Gaulle konnte sich damals eine spätere deutsch-französische Wirtschaftsunion noch nicht vorstellen und befürchtete, dass von der Konzeption seines Kommissars vor allem die deutsche Industrie profitieren würde. Ohne in Teleologie zu verfallen, lassen sich hier jedoch bereits konzeptionelle Gedanken ausmachen, die später im Schuman-Plan wieder aufgenommen wurden14.
Anfang 1944 orientierten sich die französischen Überlegungen viel eher daran, die Frage der Neuorganisation Westeuropas aufgrund zweier Faktoren vom Problem der Behandlung Deutschlands abzutrennen. Zum einen wurde im Februar 1944 die sowjetische Absicht bekannt, alle deutschen Ostgebiete zu vereinnahmen, was de Gaulle veranlasste, die Frage einer Abtrennung von linkem Rheinufer und Ruhrgebiet zugunsten eines Rheinstaats nun mit aller gebotenen Aufmerksamkeit zu verfolgen. Zum anderen erwiesen sich die einst so zahlreichen Gespräche mit den westeuropäischen Partnern über die geplante Union als zunehmend inhaltsleer. Die Belgier blieben zwar weiterhin interessiert, aber die Niederländer und Engländer zeigten sich zugeknöpft; die Sowjetunion betrachtete die Pläne eines westeuropäischen Zusammenschlusses15 ohnehin mit größtem Misstrauen.