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Entwurzelung

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Europa war im Zweiten Weltkrieg unterwegs gewesen28. Mit Kriegsende versiegten die umherziehenden Menschenströme jedoch nicht, im Gegenteil: „Aus einem Verschiebebahnhof unter den Bedingungen des Krieges wandelte sich Europa nach Kriegsende in einen Verschiebebahnhof unter den Hinterlassenschaften des Krieges: Zerstörungen, Grenzverschiebungen, Entwurzelung, Tod“29. In Belgien und Frankreich hatten diese Wanderungsbewegungen bereits mit der Westoffensive der deutschen Wehrmacht im Mai/Juni 1940 begonnen. Ungefähr sechs Millionen Belgier und Franzosen verließen ihre Heimat, um vor deutscher Besatzung und Gewalt zu fliehen30. Die meisten von ihnen kehrten bis September 1940 wieder nach Hause zurück, doch zum Stillstand kam die französische Gesellschaft während der années noires nicht. Diese Feststellung gilt in besonderem Maße für die Einwohner des Elsasses und von Lothringen, von denen über eine halbe Million vor den deutschen Besatzern Zuflucht in Innerfrankreich suchten. Die große Mehrheit kehrte nach dem Waffenstillstand zurück, doch noch im Jahre 1940 wurden im Rahmen der NS-Germanisierungspolitik wieder 45.000 Elsässer und 100.000 Lothringer ihrer Heimat verwiesen31.

Auch in den folgenden Jahren hielten Krieg und Besatzungsmacht die französische Gesellschaft in Bewegung. Aus den von britischen und amerikanischen Verbänden zur Befreiung des französischen Territoriums bombardierten Städten wurden viele Einwohner evakuiert; andere blieben und mussten mit Geduld das Leid ertragen und die Wunden verbinden. Einschneidender für ganz Frankreich war jedoch die Anwerbung von Arbeitskräften durch die deutschen Besatzer angesichts des zunehmenden Arbeitskräftemangels in der deutschen Industrie, der Service du travail obligatoire (STO). Zu den 200.000 Franzosen, die sich freiwillig gemeldet hatten, kamen nun noch einmal zwischen 600.000 und 650.000 französische Zwangsarbeiter. Rassische Gründe hatten die gewaltsame Deportation von 75 721 französischen Juden nach Deutschland zur Folge, von denen nur 2500 nach der Befreiung der Konzentrations- und Vernichtungslager zurückkamen. Das Schicksal der Überlebenden spitzte sich insbesondere in den letzten Kriegsmonaten zu, als die Zwangsarbeiter, Gefangenen und Deportierten angesichts der vorrückenden alliierten Armeen oftmals von einem Lager ins nächste verschleppt wurden. Andere konnten zwar fliehen, mussten jedoch während ihrer Flucht durch Deutschland permanent um ihr Leben fürchten. Insgesamt 1,6 Millionen französische Kriegsgefangene waren zwischen 1940 und 1945 in Deutschland, zu Kriegsende waren es noch 1,2 Millionen, die bis Juni 1945 fast alle wieder heimgekehrt waren. Sie wurden vom neuen Ministerium für Kriegsgefangene, Deportierte und Flüchtlinge in Empfang genommen und in Auffanglagern untergebracht, bevor sie schließlich nach Hause zurückkehren konnten. Nach bisweilen mehrjähriger Abwesenheit verlief die Rückkehr in die Familie und die Wiedereingliederung in die Arbeitswelt jedoch vielfach nicht ohne Komplikationen.

Als der Krieg als Folge des „furiosen Gegenschlags gegen die nationalsozialistische Bevölkerungs- und Rassenpolitik im Osten“32 auch in Deutschland Millionen von Menschen aus ihren bisherigen Lebensverhältnissen riss, wurden Deutsche in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß zu Opfern. 15 Millionen Flüchtlinge, Vertriebene und zwangsumgesiedelte Deutsche mussten ab Herbst/Winter 1944 ihre angestammte Heimat verlassen und reihten sich in eine der „wohl größten Wanderungsbewegungen in der neueren europäischen Geschichte“33 ein, bei der ca. 30 Millionen Menschen ihre Heimat verloren. Die Hälfte der östlich von Oder und Neiße lebenden Deutschen sowie die volksdeutschen Minderheiten in Ost- und Südeuropa34 waren aus Furcht vor Racheakten in Richtung Westen geflohen. Wie berechtigt ihre Angst war, mussten in erster Linie die Frauen und Mädchen erfahren. Über 1,9 Millionen von ihnen wurden bei der Eroberung des Reichsgebietes und in den Folgemonaten durch die Soldaten der Roten Armee vergewaltigt35. Insgesamt starben über zwei Millionen Flüchtlinge und Vertriebene, die mit ihrem wenigen Hab und Gut in der Kälte des Winters zwischen die Fronten des Endkampfes gerieten und bisweilen nur mit großem Glück die Flucht überlebten. In der SBZ wurden 37,2 % von ihnen aufgenommen, in der britischen Zone 32,8 %, in der amerikanischen 28,2 % und in der französischen lediglich 1,4 %. Die soziale und berufliche Integration der Flüchtlinge in die deutsche Nachkriegsgesellschaft gelang relativ schnell und wurde zu einer Grundlage für das sogenannte „Wirtschaftswunder“. Bis Ende der 1990er Jahre drang ihr spezifisches Leid jedoch nicht bis zum kollektiven Bewusstsein vor. Die Kommunikation der Erinnerung an Flucht und Vertreibung blieb auf die Familien beschränkt, die sich dem Schweigensdruck fügten und ihre Erinnerungen einkapselten: „Das Schweigen drückte weniger eine gelungene als eine erzwungene Integration aus: Man schwieg, um nicht als ‚Fremder‘ in Distanz zu den Einheimischen zu geraten; man schwieg auch, weil man nicht mehr an die Vergangenheit denken wollte“36.

Einer unsicheren Zukunft gingen auch die ca. sechs Millionen Ausgebombten und Evakuierten entgegen, die in den letzten Kriegsmonaten vor den alliierten Luftangriffen aufs Land geflüchtet waren und bei ihrer Rückkehr vielfach vor den Ruinen ihres ehemaligen Zuhauses standen. Ungewiss war genauso das Schicksal der ca. zwölf Millionen Displaced Persons (DPs), bei denen es sich um Menschen handelte, die sich im Moment des Kriegsendes außerhalb ihres Landes befanden. In der Regel wollten diese in ihre Heimat zurückkehren oder sich eine neue Heimat suchen, doch gerade im Fall der sowjetischen DPs kam es zu Zwangsrepatriierungen37. Dabei bemühte sich besonders die französische Seite, jenen DPs, die nicht heimkehren wollten, eine Existenzgrundlage in Westeuropa zu verschaffen. Ungeklärt war zu diesem Zeitpunkt auch noch die Zukunft der während des „Dritten Reiches“ aus weltanschaulichen, rassischen und politischen Gründen ins Ausland emigrierten Deutschen.

Zu integrieren galt es weiterhin die vielen Millionen von deutschen Kriegsgefangenen, von denen die letzten erst im Januar 1956 aus der Sowjetunion zurückkehrten. Nach der Kapitulation war ihre Zahl sprunghaft auf über 10 Millionen angestiegen, doch bis zum Frühjahr 1947 wurden bereits alle bis auf zwei Millionen entlassen. Die ehemaligen Wehrmachtssoldaten litten in alliierter Kriegsgefangenschaft unter Hunger, Kälte, Erschöpfung und Zwangsarbeit. Allein in sowjetischer Gefangenschaft verstarben etwa 1,3 Millionen oder blieben vermisst. Obgleich die Bedingungen in den westlichen Ländern in der Regel besser waren, kamen auch hier Tausende ums Leben. In Frankreich weilten zwischen 1945 und 1948 ca. eine Million ehemalige Wehrmachtssoldaten, deren Anwesenheit auf dem französischen Territorium ein Zeichen für den noch nicht abgeschlossenen Konflikt war. Die meisten von ihnen kehrten schließlich nach Deutschland zurück, nicht wenige blieben jedoch auch nach der Entlassung in Frankreich und suchten sich dort eine Arbeit, auch dies ein Zeichen für eine sich herausbildende Friedenskultur zwischen beiden Gesellschaften38.

Die jahrelange Ungewissheit über das Schicksal ehemaliger Wehrmachtsangehöriger belastete die deutsche Nachkriegsgesellschaft nachhaltig, weil sie die Leidenserfahrung über den 8. Mai 1945 hinaus verlängerte und das Kriegsende in erfahrungsgeschichtlicher Perspektive hinausschob. Die Rückkehr der Überlebenden sorgte zwar für eine gewisse Beruhigung, doch verlief ihre Integration nicht immer schmerzlos. Viele fanden ein Zuhause vor, das ihnen fremd geworden war. Bezeichnend für diese gefühlte Entwurzelung war das Schicksal von Wolfgang Borcherts Hauptdarsteller Beckmann in „Draußen vor der Tür“ (1947), der nach überstandener Kriegsgefangenschaft zu jenen gehörte, „die nach Hause kommen und die dann doch nicht nach Hause kommen, weil für sie kein Zuhause mehr da ist. Und ihr Zuhause ist dann draußen vor der Tür“.

WBG Deutsch-französische Geschichte Bd. X

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