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Säuberungen

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Säuberungen verbinden in Phasen politischen Umbruchs unmittelbar die anbrechende neue Zeit, hier die Nachkriegszeit, mit der jüngsten Vergangenheit. Das galt in besonderem Maße für die Entnazifizierung in Deutschland, die auf Grundlage des in Potsdam von den Alliierten beschlossenen Minimalkonsenses durchgeführt wurde und das Ziel verfolgte, den Deutschen dauerhaft den „Bazillus des Nationalsozialismus“39 auszutreiben. Umgehend wurden daher die potenziell gefährlichen Deutschen (hohe Mitglieder von NSDAP, SS, Gestapo, SD, HJ und SA) interniert, politisch belastete Personen aus ihren Ämtern entfernt und die Kriegsverbrecher, soweit sie sich nicht durch Selbstmord der Bestrafung entzogen hatten, vor Gericht gestellt. Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess stand die erste Garde des NS-Regimes vor dem Internationalen Militärgerichtshof, auf den sich Amerikaner, Sowjets, Briten und Franzosen am 8. August 1945 geeinigt hatten. Angeklagt wurden 22 ehemals führende nationalsozialistische Funktionsträger wegen Verbrechen gegen den Frieden, gegen die Menschlichkeit und wegen Kriegsverbrechen. Dieses Verfahren besaß eine beispielhafte Aufklärungsfunktion und war – trotz des Vorwurfs der „Siegerjustiz“ und des Verstoßes gegen das Gebot „nullum crimen, nulla poena sine lege“ – präzedenzlos, wurden die Täter in Nürnberg doch ohne Rücksicht auf ihren Rang persönlich für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen. Die während der NS-Gewaltherrschaft verloren gegangenen Zivilisationsstandards sollten wiederhergestellt und Kriegsverbrechen durch Pönalisierung zukünftig eingeschränkt werden. Noch heute stellt die Verurteilung der Hauptkriegsverbrecher – in zwölf Fällen zum Tode – einen wichtigen Präzedenzfall für die Ächtung neuer Angriffskriege dar40.

Zu starken Spannungen zwischen Besatzern und Besetzten führte die bürokratische Handhabung der Entnazifizierung, die von jedem Alliierten in seiner Zone nach seiner Façon durchgeführt wurde41. Zur Inkarnation des Unrechts wurde dabei der zuerst in der amerikanischen Zone eingeführte Fragebogen, mit dem die US-Besatzungsmacht die Vergangenheit der Deutschen in ihrer Zone durchleuchten wollte, um im Anschluss über ihre Weiterverwendung zu entscheiden. Fünf Kategorien wurden nach der bis März 1946 durchgeführten Auswertung von immerhin 1,39 Millionen Fragebögen etabliert, nach der sich dann das Strafmaß richtete: (I) Hauptschuldige, (II) Belastete, (III) Minderbelastete, (IV) Mitläufer oder (V) Entlastete. Die Amerikaner beabsichtigten anfänglich eine systematische Entnazifizierung auf Grundlage der Direktive Nr. 1067 JCS (Joint Chief of Staff), doch verfügten sie infolge des ausbrechenden Kalten Krieges weder über die Zeit noch über die erforderlichen finanziellen Mittel. Ab März 1946 wirkten schließlich an den Spruchkammerverfahren auch deutsche Einrichtungen als Laiengerichte mit. Die Franzosen praktizierten ihrerseits eine individuelle und pragmatische Entnazifizierung, zu der sie von Beginn an unbescholtene Deutsche hinzuzogen, so dass sich der Begriff der „Selbstsäuberung“ durchsetzte, um den Prozess in der französischen Besatzungszone zu charakterisieren. Anfänglich fand dieses flexiblere Verfahren bei den Deutschen eine größere Akzeptanz, doch als die Franzosen und die Briten ab Februar 1947 auf die amerikanische Linie einschwenkten, schwärzte sich auch ihr Bild ein42. Die Entnazifizierung endete in der Bundesrepublik offiziell im Jahre 1951, doch war dieser Prozess faktisch bereits im Frühjahr 1948 abgeschlossen worden, als der Kalte Krieg neue Prioritäten schuf. In diesen Jahren war es zu mehr als 3,6 Millionen Verfahren gekommen, in denen 1667 Personen als Hauptschuldige, 23.000 als Belastete, 150 425 als Minderbelastete und über eine Million als Mitläufer (95 %) eingestuft wurden.

Vielen Deutschen drängte sich nach diesen Verfahren der Eindruck auf, dass sie die Minderbelasteten und Mitläufer über Gebühr benachteiligten, während die später verhandelten hohen Funktionäre mit gelinderen Strafen davonkamen. Die Entnazifizierung erschien ihnen ungerecht und inexakt, so dass die Verfahren und Prozesse eine Solidarisierung zwischen Mitläufern und immer noch dem Nationalsozialismus anhängenden Personen provozierten43. Diese Solidarität dehnte sich schließlich bis hin zu den Opfern des „Dritten Reiches“ aus, die den Angeklagten „Persilscheine“ ausstellten. Aus diesen Gründen wird die Entnazifizierung bisweilen auch als „Mitläuferfabrik“ bezeichnet44.

Mag man die Entnazifizierung auch als „Strohfeuer“ bezeichnen, das nicht zu einem tiefgreifenden Austausch der Funktionseliten in Wirtschaft, Justiz, Verwaltung und Erziehungswesen geführt hat, so sollte auch nicht von einem Fehlschlag gesprochen werden. Axel Schildt weist auf die lang andauernde Existenzunsicherheit der Betroffenen hin, die sie in Zukunft in der Regel davon abhielt, sich ein weiteres Mal für dem Nationalsozialismus nahestehende Ideen zu engagieren45. Mit ihrem Wohlverhalten erkauften sie ihre Integration in die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft, die ihrerseits diesen Preis zu zahlen bereit war, um die politische Stabilität zu sichern.

Integration stand auch in den allermeisten Fällen am Ende des Entnazifizierungsprozesses in der SBZ/DDR ab Sommer 1947, politisches Wohlverhalten und Engagement für den neuen Staat vorausgesetzt. So waren 1953 mindestens ein Viertel der Mitglieder der SED ehemals Angehörige der NSDAP oder ihrer Nebenorganisationen gewesen; andere fanden Aufnahme in der NDPD, einem gezielt gegründeten Auffangbecken für ehemalige NSDAP-Mitglieder. Trotz dieser Zahlen war die Säuberung im Osten zweifellos nachhaltiger, war die harte Entnazifizierung sowohl für die Besatzungsmacht als auch für die SED doch der schlagende Beweis für den Bruch mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und den vollzogenen antifaschistischen Wandel auf dem Weg in eine sozialistische Zukunft. In diesem Zusammenhang kam der 1935 von der Komintern formulierten Faschismusdefinition eine tragende Rolle zu, erlaubte sie doch in ihrer universellen Dimension eine Vereinnahmung der Vergangenheit zur Legitimation der Gegenwart: „Mit der verbindlichen Deutung des Faschismus als logischer Konsequenz des Imperialismus wurde der Aufbau des Sozialismus zur einzigen konsequenten Fortführung des antifaschistischen Kampfes“, der sich auch gegen die BRD – als „Machtinstrument der gleichen Klassenkräfte, die den Faschismus hervorgebracht haben“ – richten musste46.

So war die Entnazifizierung zusammen mit den Bodenreformen und den Enteignungen integraler Bestandteil eines übergeordneten Projekts, das die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Umwälzung zum Ziel hatte. Bis zu ihrem Ende im Februar 1948 wurden 520 734 ehemalige Nationalsozialisten entlassen bzw. nicht wieder eingestellt, über 10.000 Angehörige der SS, 2000 der Gestapo und 4300 „politische Führer“ der NSDAP nach offiziellen Angaben der SED angeklagt, insgesamt 12 807 verurteilt, darunter 118 zum Tode47. Damit war es zur breiten Auswechslung des verantwortlichen Personals in Justiz, Wirtschaft, Verwaltung und Bildungswesen gekommen. Über 150.000 entnazifizierte Frauen und Männer kamen in eines der zehn „Speziallager“, die dem sowjetischen Geheimdienst unterstanden und wie Buchenwald und Oranienburg ehemalige nationalsozialistische Konzentrationslager waren; Tausende arbeitsfähige Gefangene wurden von hier aus in die UdSSR zur Zwangsarbeit verschleppt. Handelte es sich bei den Insassen in der Anfangszeit zumeist noch um belastete Nationalsozialisten, so dienten die Lager ab 1946 zunehmend der „Sicherung der sowjetischen Machtpolitik in Deutschland“48. Verhaftet wurden jetzt im Rahmen der Entnazifizierung tatsächliche oder vermeintliche Kritiker bzw. Oppositionelle, die sich der Sowjetisierung der SBZ entgegenstellten und als „bürgerliche Elemente“ diffamiert wurden49.

Setzte die Säuberung in Deutschland – von wenigen Ausnahmen abgesehen – erst mit dem Ende der Kampfhandlungen und dem Eintreffen der Alliierten ein, begann diese in Frankreich bereits vor der Libération50. Mit der Verordnung des in Algier etablierten Comité Français de la Libération Nationale (CFLN) vom 18. August 1943 wurde eine Säuberungskommission eingesetzt, die verschiedene auf nordafrikanischem Boden festgesetzte Vichy-Beamte aburteilte51. In der Metropole begann die Épuration in vielen Fällen bereits, als die deutsche Wehrmacht an allen Fronten auf dem Rückzug war. Jene „wilden Säuberungen“ („épuration sauvage“) erfolgten zu diesem Zeitpunkt in der Regel ohne gerichtliche Grundlage. So konnte der amerikanische Historiker Peter Novick herausarbeiten, dass es bereits vor der alliierten Landung in der Normandie zu 5234 Exekutionen gekommen war, während die Zahl für die Monate danach niedriger lag (4439)52. Dass die „épuration sauvage“ mit der Befreiung von der deutschen Besatzung nicht zwangsläufig ihr Ende fand, lag vor allem an den langsam mahlenden Mühlen der Justiz, die die Mitglieder der Résistance nicht selten zur Verzweiflung trieb53. Sie wollten schnell und heftig zuschlagen, um die offenen Wunden der Besatzung rasch vernarben zu lassen und Vichy weitgehend aus dem öffentlichen Raum zu entfernen54. Henry Rousso sieht in der reinigenden Wirkung einer strengen Säuberung eine vielleicht unverzichtbare Grundlage für die Überwindung der vorangegangenen Mediokrität und damit den Ausgangspunkt für den Weg zu einer wiederaufgerichteten Nation. Zugleich kann sie als eine Form der Wiedergutmachung für die Opfer des nationalsozialistischen Terrors und des Vichy-Regimes verstanden werden55. Unter den Opfern fanden sich überdurchschnittlich viele Landarbeiter, Kleinbauern und Handwerker, während Industriearbeiter, Freiberufler und Führungskräfte unterdurchschnittlich vertreten waren. Das ländliche Frankreich zahlte somit den größten Blutzoll, während die Anonymität der größeren Städte die Verfolgung und Denunziation schwieriger gestaltete. Zudem gelang es den wohlhabenderen Kreisen eher, ihre Anwälte und Netzwerke zu mobilisieren, so dass sie sich oftmals ungerechtfertigt von ihrer Schuld reinwaschen konnten. Insgesamt kamen durch diese Form der Säuberung etwa 10.000 Franzosen ums Leben.

Ein besonderer Platz unter den Opfern der Säuberung soll hier den ca. 20.000 zumeist jungen Frauen eingeräumt werden, die ein Verhältnis mit einem deutschen Soldaten unterhalten hatten („horizontale Kollaboration“) und jetzt als unreine Elemente gebrandmarkt wurden56. Sie sahen sich dem Vorwurf ausgesetzt, die Nation verraten, sie mit ihrem eigenen Körper besudelt zu haben, als gehöre ihr Körper der nationalen Gemeinschaft. Ihre Ankläger schoren ihnen zur Strafe öffentlich das Kopfhaar; sie wurden durch die Straßen getrieben, oft nackt zur Schau gestellt und in Einzelfällen gar gesteinigt. Nicht selten befanden sich unter den Männern, die sich dieser Gewalttaten rühmten, sogenannte „Résistants de la dernière heure“, die zuvor mit den Deutschen dunkle Geschäfte gemacht hatten. Indem die Schmach über die vielfältigen Arrangements mit den deutschen Besatzern auf die machtlosen Frauen abgewälzt wurde, versuchten sich diese „verspäteten“ Widerstandskämpfer reinzuwaschen57. Durch die reinigende Wirkung dieser virilen Formen von Justiz sollte die kollektive Schuld einer Bevölkerung aufgehoben werden, die tagtäglich mit den Deutschen hatte umgehen müssen.

Mit der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung gingen rasch auch die „wilden Säuberungen“ zurück. Die Justiz internierte oft präventiv verdächtige Personen und setzte Wahrheitsfindungskommissionen ein, welche die Vergangenheit der Internierten durchleuchteten und im Anschluss ihr Urteil über das weitere Verfahren abgaben. Auf diese Weise rettete die Justiz viele Franzosen vor der Lynchjustiz bzw. der Exekution. Insgesamt wurden zwischen September 1944 und April 1945 über 126.000 Personen interniert, von denen 55 % schließlich wieder freigelassen und die übrigen 45 % der Justiz übergeben wurden. Anders als der Militärgerichtshof in Nürnberg unterließen es Politik und Justiz in dieser Phase jedoch, die Verbrechen zu definieren, bevor sie die Verantwortlichen verurteilten. Weder wurde die Frage gestellt, was ein Kollaborateur ist58, noch wurde nach den Verbindungen zwischen Kollaboration und nationaler Revolution gesucht.

War der Beginn der Säuberungen in Frankreich von heftiger Gewalt geprägt gewesen, verlief sich ihr Ende in allgemeiner Gleichgültigkeit und Überdrüssigkeit. Größeres Interesse fanden nur noch die Prozesse gegen die führenden Köpfe der Kollaboration. Der mittlerweile 88 Jahre alte Philippe Pétain, der vor den nahenden alliierten Truppen nach Sigmaringen geflohen war und dort am 23. August 1944 eine Délégation gouvernementale pour la défense des intérêts français en Allemagne gebildet hatte59, wurde am 15. August 1945 zum Tode verurteilt, doch umgehend von de Gaulle persönlich begnadigt, so dass er seine lebenslange Haft auf der Île d’Yeu bis zu seinem Tod am 23. Juli 1951 absitzen konnte. Hingerichtet wurde hingegen am 15. Oktober 1945 Pierre Laval, der letzte Ministerpräsident des Vichy-Regimes. Mit diesen Strafmaßen rechnete das „andere Frankreich“ mit der Kollaboration ab. Die IV. Republik richtete den État français und wollte mit der Aburteilung der Hauptverantwortlichen den Bruch mit der Vergangenheit dokumentieren, gleichzeitig aber die Kontinuität der Republik über das Regime von Vichy hinweg belegen.

Priorität vor einer konsequenten und lang anhaltenden Säuberungspolitik besaßen in der zweiten Jahreshälfte 1945 aber schon längst der Wiederaufbau und die Rückkehr Frankreichs in den Kreis der Großmächte, wofür die innere Stabilität des Landes eine wichtige Grundlage war. Der General traf mit dieser Haltung die Mehrheitsmeinung der Franzosen, die den Weg in die Normalität einschlagen und den Blick in die Zukunft richten wollten, was so manchem Kollaborateur zugute kam: „Je länger sich ein Kollaborateur diesen Säuberungsmaßnahmen entziehen konnte, um so glimpflicher kam er davon“60. Bis Dezember 1948 waren 69 % der Verurteilten wieder auf freiem Fuß; die Säuberungstribunale verschwanden bis Januar 1951 ohne großes öffentliches Aufsehen. Als am 6. August 1953 das Amnestiegesetz verabschiedet wurde, befand sich nur noch 1 % der Verurteilten hinter Gitter. Bereits im Jahre 1950 war die Reintegration von vormals verurteilten Beamten aus der Verwaltung und den Ministerien abgeschlossen worden61. Versöhnung erhielt den Vorzug vor weiter gehenden Säuberungen und sollte die innergesellschaftlichen Gräben schließen helfen62.

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