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Die reflexive Vernunft und die Überwindung des Negativen Ausgehen von der Kritischen Theorie

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Wenn wir die krankhaften Erscheinungen der Gesellschaft einschätzen wollen, die vom Umschlagen der Vernunft in Barbarei und des Fortschritts in Rückschritt zeugen, lauern zwei Fallen. Die erste besteht in dem Glauben, es sei nicht möglich, den Teufelskreis von Vernunft und Herrschaft zu durchbrechen. Dieser Fatalismus führt in die Hoffnungslosigkeit, weil die Rückkehr zum Schlimmsten unausweichlich erscheint. Man findet sich ab mit der Zunahme von Ungleichheit, der Verarmung der individuellen Erfahrung, der Zerstörung unseres Planeten und dem Aufstieg des Populismus, der unsere Demokratien seit der beschleunigten Modernisierung der Gesellschaft im 20. Jahrhundert schwächt. Die zweite Falle stellt sich im Grunde, wenn man das Übel von oben herab anprangert und vorgibt, man habe die Lösung, die es erlaube, der destruktiven Logik unserer Zivilisation zu entgehen.

Die Wurzel des Übels in der Vernunft selbst zu verorten, als sei die Menschheitsgeschichte lediglich ein Abklatsch der Ideengeschichte und die Essenz der Rationalität das Irrationale, ist ein Irrtum, der von einer gewissen Überheblichkeit der Vernunft zeugt und zum Hass auf sie oder umgekehrt zu ihrer Übersteigerung führt. Um die Übel der Gesellschaft diagnostizieren und die Verbindung zwischen theoretischer Arbeit und transformativer Praxis wiederherstellen zu können, ist es notwendig, größere Vorsicht walten zu lassen. Eben das raten uns die Begründer der Frankfurter Schule, unter anderem auch dann, wenn sie zwischen einer Kritik an der instrumentellen Vernunft, verstanden als einer vom Kapitalismus hervorgebrachten historischen Form der Rationalität, und einer düstereren Diagnose schwanken, die einen unausweichlichen Zwang konstatiert, der im Wesen der vorherrschenden, auf den Beginn der Zivilisation zurückgehenden Vernunft begründet liegt.37

Die Aufklärung, in diesem Kapitel und in der Dialektik der Aufklärung als Fortschrittsdenken verstanden, erreichte mit dem Nationalsozialismus den Höhepunkt ihrer Selbstzerstörung. Diese manifestierte sich auch im Stalinismus und in der Bürokratisierung kommunistischer Regime. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verkehrte sich der liberale Kapitalismus, der den Feudalgesellschaften ein Ende bereitet und die Interessen und Werte des Bürgertums – besonders Freiheit und Eigentum – geschützt hatte, in sein Gegenteil. Diese Wende erfolgte durch die Verwaltung der gesamten Gesellschaft, durch Technik, Warenfetischisierung und Verdinglichung, also durch zeitgenössische Phänomene der Massenkultur, die ein Gleichmachen der Menschen und in diesem Sinne eine Annullierung des Ichs fördert.38 Das Leiden der Ausgebeuteten, sozialer Abstieg, Inflation und Wirtschaftskrise ließen regressive Tendenzen aufkommen. Das Ohnmachtsgefühl und die Frustration von Angehörigen der benachteiligten Gesellschaftsschichten äußerten sich im Wunsch nach Unterwerfung und in Verachtung gegenüber Schwächeren, wie es in den 1930er-Jahren beim Aufstieg des Autoritarismus zu beobachten war; viele leisteten keinerlei Widerstand gegen den Nationalsozialismus und folgten den sadistischen und masochistischen Kompensationsdynamiken.39

Eine Gesellschaftsordnung, die den Interessen des Einzelnen dienen sollte und die Gesellschaft zu diesem Zweck rational organisierte, verwandelte sich also in eine total verwaltete Welt, in der sich Faschismus, Nationalismus und das Aufgehen des Individuums in der Massenkultur mit den anderen gesellschaftlichen Tendenzen des Spätkapitalismus wie der Staatsbürokratie und dem Aufkommen von Konzernen und Monopolisten zu einer Einheit verbanden. Diese auf einer dreifachen Herrschaft (über die Natur, die Gesellschaft und das Seelenleben) basierende Organisation zerstörte zugleich die Vernunft und die Freiheit und gefährdete die Stützpfeiler der liberalen Demokratie, nämlich Autonomie, Gerechtigkeit und Solidarität.

In dieser besonderen gesellschaftlichen Ordnung, die die Vernunft dazu treibt, sich zu erniedrigen, spielt sie verrückt. Das ist die Bedeutung der Dialektik der Aufklärung: Da die gesamte Realität dem Diktat der Rentabilität unterworfen wird, verkommt die Vernunft zum bloßen Messinstrument; sie entwertet und zerstört sich selbst. Dass diese destruktive Logik sich durchsetzen konnte, liegt daran, dass die Vernunft jegliche Objektivität verloren hat, indem sie zum Werkzeug eines Subjekts geworden ist, das ausschließlich durch die Selbsterhaltung, also einen der Leitwerte des liberalen Kapitalismus, definiert war. Stand die Vernunft anfangs im Dienst der Naturbeherrschung und der persönlichen Interessen, verlangte sie nach und nach vom Einzelnen die Unterdrückung seiner Natur und seiner Instinkte und reduzierte sich auf die Berechenbarkeit. Jedes Ding und jedes Lebewesen wird identifiziert, gemessen, quantifiziert, objektiviert und manipuliert. Alles ist unter Kontrolle, und letztlich geht das Individuum in der Masse auf. Da sie nicht mehr als Prinzip dient, das es ermöglicht, die Welt objektiv zu begreifen und eine Hierarchie zwischen den Zielsetzungen aufzustellen, kann die Vernunft weder das Verbot von Straftaten noch die Überlegenheit der Gerechtigkeit gegenüber der Ungerechtigkeit rechtfertigen.40 So sind denn Kalkulierbarkeit, Vereinheitlichung des Realen, Quantifizierung und Verdinglichung die Hauptprinzipien des instrumentellen Rationalismus, der sich im Kontext einer Modernisierung entwickelte, die den aufkommenden, noch den Werten der Autonomie und Gerechtigkeit verpflichteten Kapitalismus früherer Jahrhunderte in einen totalitären Kapitalismus verwandelte – einen Kapitalismus, der aus den ihrer Autonomie beraubten Individuen die Komplizen eines auf Herrschaft gegründeten Systems macht.

Allerdings darf man nicht einfach bei dieser Diagnose stehen bleiben, wenn man der Tiefe von Adornos und Horkheimers Analyse gerecht werden will. Das Negative anzupacken, bedeutet, die destruktive Logik einer Gesellschaft zu analysieren, was jedoch zugleich voraussetzt, ihre Widersprüche und somit einen Rest zu berücksichtigen, der nicht vollständig von dieser zerstörerischen Bewegung erfasst wird. Der Objektivitätsverlust der Vernunft und die Verkehrung des Liberalismus in sein Gegenteil sind einem Ungedachten geschuldet, das mit dem Stellenwert der Subjektivität zusammenhängt: Indem sich die Vernunft ausschließlich auf die Selbsterhaltung fokussiert, führt sie dazu, dass das Ich und die Anderen, das Subjekt und die Natur einander gegenübergestellt werden und die Wirklichkeit dem Begriff untergeordnet wird. Aber die Versöhnung der Vernunft mit ihrem Anderen, namentlich mit der Natur, eröffnet die Möglichkeit, das fatale Band zu zerreißen, das die Aufklärung – oder das Fortschrittsdenken – mit dem Rückschritt verbindet und mit Auschwitz das Scheitern der Kultur bewiesen hat.41 Diese Versöhnung und die Kritik an diesem Ungedachten, das dem instrumentellen Rationalismus eigen ist, stehen im Zentrum der Aufklärung im Zeitalter des Lebendigen.

Sich der Verflechtung dieses Rationalitätsbegriffs mit einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung bewusst zu sein, führt dazu, dass man abgehobene und transhistorische Herangehensweisen verwirft. Die Kritische Theorie warnt uns vor der Illusion, Ideen regierten die Welt – eine Illusion, die von den beiden oben genannten Fallstricken geprägt ist. Tatsächlich postuliert der Idealismus, die Vernunft könne die Realität vollständig erfassen, sie konstituieren und die Geschichte der Moderne synthetisch rekonstruieren, sei es, um ihr die Schuld an sämtlichen aktuellen Übeln zuzuweisen oder in herablassendem Ton Auswege aus der Krise vorzuschlagen. Adorno und Horkheimer stellen diesem Idealismus einen materialistischen Vernunftbegriff gegenüber. Nur eine Analyse der Voraussetzungen des zeitgenössischen abendländischen Rationalismus kann die Vernunft retten und die Versprechungen der Aufklärung einlösen, indem sie mehr Freiheit und Gerechtigkeit in die Welt bringt. Wenn man will, dass die Vernunft nicht länger an die Herrschaft gekettet ist, und wenn man die Logik umkehren will, die zu Auschwitz geführt hat und eine Rückkehr des Totalitarismus in anderen Formen fürchten lässt, muss man die Gleichsetzung der Realität mit dem Vernunftbegriff bekämpfen. Denn sie zeugt von einer Vernunftillusion, die uns blind macht für das, was diesem Konzept entgeht, und die zu einer hegemonialen Nutzung der Rationalität und zur Herrschaft der Kalkulierbarkeit führt, die das Andere auf das Selbst reduziert und verdinglicht, um es zu manipulieren.

Adorno und Horkheimer sind nicht durchgängig der bei Philosophen verbreiteten Tendenz zu einem transhistorischen Vernunftbegriff entgangen. Das ist in der Dialektik der Aufklärung dort festzustellen, wo sie die dominierende instrumentelle Vernunft auf Odysseus zurückführen. Sie behaupten, die Vernunft habe ein totalitäres Wesen, das jegliche Hoffnung zunichtemache, sich eine Form von Rationalität vorzustellen, die zur Emanzipation beitragen könnte.42 Dennoch können ihre Bemühungen, die Widersprüche der Rationalität und der Realität zu analysieren, ohne aus dem Denken ein Instrument der Verleugnung zu machen, sondern indem sie sich den Aporien und dem Negativen stellen, als Vorbild dienen, wie man den Verlauf des berechnenden Denkens ändern kann, denn die „an der Aufklärung geübte Kritik soll einen positiven Begriff von ihr vorbereiten, der sie aus ihrer Verstrickung in blinde Herrschaft löst.“43

Die erste Aufgabe besteht in der Beschreibung, welche Formen die Zerstörung der Aufklärung, der Verrat an ihrem Ideal individueller und gesellschaftlicher Emanzipation im Kontext der Globalisierung und die Transformation ihres Naturbeherrschungsprojekts in eine ökologisch untragbare, sozial ungerechte und politisch gefährliche grenzenlose Ausbeutung der Lebewesen heutzutage annehmen. Welche Phänomene werfen ein Schlaglicht auf die Aktualität der von der Kritischen Theorie aufgestellten Kategorien? Welchen Aporien müssen wir uns heutzutage stellen, um Horkheimers Wunsch zu entsprechen und einen positiven Aufklärungsbegriff vorzuschlagen, auch wenn wir sein ehrgeiziges Projekt, eine interdisziplinäre Theorie der widersprüchlichen Tendenzen der Epoche zu entwickeln, nicht weiterverfolgen können?44

Für eine solche Aufgabe muss man begreifen, dass die – besonders bei Horkheimer – verbliebene Hoffnung, die Gegenwart zu begreifen, untrennbar mit dem Gefühl einhergeht, vom Trauma der Katastrophe überwältigt zu sein. Die Tatsache, nach Auschwitz zu denken, und die Notwendigkeit, nicht nur den Kapitalismus und seine Folgen zu analysieren, sondern auch zu verstehen, was ihn ermöglicht, und sich dabei vom Marxismus abzugrenzen, der dessen Verschwinden vorausgesagt hatte, stehen als Motivation hinter der Dialektik der Aufklärung. Ebenso geht es in Adornos Werken, vor allem in Negative Dialektik und Minima moralia, im Kern um die Verpflichtung, angesichts des Aufstiegs sowohl der Verwaltung als auch der Massenkultur, die die individuelle Autonomie beeinträchtigen und die Ursache für die Erosion der Subjektivität in der Ära des globalen Kapitalismus sind, wachsam zu bleiben, sowie um den Zusammenhang zwischen der Zerstörung des Individuums und der Faszination für autoritäre, sprich totalitäre Machtformen.

So setzt die Kritische Theorie das kritische Vorgehen der Aufklärung fort, das davon ausgeht, dass die individuelle und gesellschaftliche Emanzipation von der Freiheit des Denkens abhängt. Allerdings ist die Rationalität, die sie kennzeichnet, nicht mehr wie zurzeit der Aufklärung triumphierend, hegemonial, von oben herab und transhistorisch; sie ist vielmehr eine reflexive und zugleich verletzte Rationalität. Gezeichnet von einem Trauma, achtet sie auf das Andersartige und Nichtidentische, auf das, was sich nicht unter einen Begriff subsumieren und in einer Totalität fassen lässt. Da sie materialistisch ist, ist sie in die Geschichte und in eine Gesellschaft eingebettet, die von den Produktionsverhältnissen, der Sprache und der Technik bestimmt wird. Diese reflexive Rationalität ist schließlich weniger konstruktiv als rekonstruktiv.

Das philosophische Subjekt, das sich auf diese reflexive Rationalität, diese Askese einlässt, muss erleben, dass es unmöglich ist, sich ohne Weiteres mit den Idealen der Aufklärung und des Fortschritts auszusöhnen. Nur unter dieser Bedingung kann es das Potenzial freilegen, das die Tradition – auch die der Aufklärung – birgt und das die selbstzerstörerische Logik, die in unsere Denkweise eingedrungen ist, verschüttet hat. Der Philosoph muss die Erfahrung der Passivität machen; er muss begreifen, dass alles, woran er seit dem Beginn der Moderne und des politischen Liberalismus festgehalten hat, in sich zusammenbrechen kann. Um zu vermeiden, dass er sich mit leeren Worten begnügt oder mit Slogans zufriedengibt, muss er erkennen, dass die von ihm verwendeten Begriffe – wie „Vernunft“, „Fortschritt“, „Wahrheit“, „Gerechtigkeit“, „Autonomie“ oder „Freiheit“ – ihres Inhalts beraubt wurden. Die Berufung auf neue Prinzipien, die die Aufklärung von ihren anthropozentrischen Vorurteilen befreien können, verlangt von der Vernunft eine Demut, die in Gegensatz steht zu der zuvor heraufbeschworenen herablassenden Haltung. Was die Rettung der Ideale der Vergangenheit angeht, so erfordert sie, dass man sie bewusst und behutsam aufgreift, also neu formuliert.

Das Zeitalter des Lebendigen

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