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Das Subjekt verändern, um die Realität zu ändern

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Um eine Gesellschaft zu schaffen, die das Versprechen der Philosophie auf Menschenrechte hält und dauerhaften Frieden zwischen den Menschen und zwischen den Staaten schafft, muss man den Menschen als körperliches, gezeugtes, sterbliches, verletzliches Wesen begreifen, das „lebt von …“, das also auf natürliche und kulturelle, affektive und spirituelle Nahrung angewiesen ist, die seinen Bedürfnissen entspricht und seiner Existenz Sinn und Würze verleiht. Dieser Ausgangspunkt erklärt, dass die Verantwortung die Ausrichtung der Freiheit verändert, denn nur ein verletzliches Wesen, das „lebt von …“, kann sich mit anderen verbunden fühlen, mit denen es ständig – ob es will oder nicht – in Kontakt steht, sobald es isst oder Ressourcen nutzt. Nur ein Wesen, das den Veränderungen des Körpers unterworfen ist, die Unvollkommenheit seiner Psyche und das Bedürfnis nach anderen erlebt, kann sich dem Anderen öffnen und davon betroffen sein, was ihm zustößt. Die Verantwortung ist eine Alterität an sich; sie impliziert die Anerkennung, dass der Andere sich meiner Macht entzieht, dass seine Würde nicht damit zusammenhängt, was ich von ihm sehe, weiß oder sage, sondern dass ich mich dafür verbürgen muss und dass sogar meine persönliche Identität, meine Selbstheit davon abhängt, wie ich auf seinen Appell und auf den der anderen Lebewesen reagiere. Daher akzeptiere ich diese sich ereignende Andersheit, die mich stört, die die Grenzen meiner Macht und die Schranken unterstreicht, die ich meinem guten Recht setzen muss, und die mich zugleich lehrt, dass der Sinn des Daseins sich weder auf die Selbsterhaltung noch auf den Beweis der eigenen Stärke reduzieren lässt.

Die Körperlichkeit ernst zu nehmen führt zur Überwindung der für die Aufklärung charakteristischen Dualismen und schafft eine neue Anthropologie, die ihr als Grundlage dient, ohne zur Verteidigung eines Holismus zu führen, der eine neue Form von Gegenaufklärung in sich bergen könnte. Tatsächlich bringt eine Philosophie, die von der Körperlichkeit des Subjekts ausgeht, dessen durchweg relationalen Charakter sowie unsere Abhängigkeit von den umweltbezogenen, biologischen, sozialen und affektiven Bedingungen unserer Existenz zum Vorschein. Diese Philosophie der Körperlichkeit und des „Lebens von …“ dient als Grundlage einer politischen Theorie, die den klassischen Politikzielen – Sicherheit und Reduzierung ungerechter Ungleichheit – neue staatliche Aufgaben hinzufügt: Nämlich die Biosphäre, das Tierwohl und das Recht zukünftiger Generationen, anderer Kulturen und anderer Spezies, die Erde zu bewohnen und Nahrung zu finden, zu berücksichtigen.63 Zu ihren praktischen Auswirkungen gehören die Umstrukturierung der Produktionsmodelle, die Organisation der Arbeit entsprechend dem Sinn der verschiedenen Tätigkeiten und der Sorge um die betroffenen Lebewesen sowie die Verbesserung des Tierwohls. Dagegen führt sie nicht dazu, dass das Subjekt in einem großen Ganzen aufgeht, und fesselt es auch nicht an seine ethnische Zugehörigkeit, indem es seine identitären Reflexe fördert. Die Freiheit des Subjekts, seine Fähigkeit, die etablierte Ordnung infrage zu stellen, und seine Autonomie bleiben der Horizont einer Philosophie, die aufzeigt, dass die Ökologie und das Verhältnis zu anderen, auch zu Tieren, Teil unseres Daseins ist.

So mündet das Bewusstsein, einer gemeinsamen Welt anzugehören, nicht in einem „ozeanischen Gefühl“ – also in einem Gefühl, eins mit der grenzenlosen, ewigen Außenwelt zu sein –, das dem Rationalismus entgegenstünde. Die Ausweitung der Subjektivität fördert die Teilhabe des Individuums an der gemeinsamen Welt, und die Vernunft ermöglicht ihm nicht nur einen Zugang zu dem, was universalisierbar ist, sondern bestimmt auch seinen Platz in der Welt und die Mittel, die es legitimerweise für ein verantwortungsvolles Handeln einsetzen kann. Die Vernunft ist kein bloßes Instrument der Berechnung und Ausbeutung mehr, sondern wird wieder zu einem objektiven Prinzip. Das Subjekt, das sich bewusst ist, dass es ein Natur- und Kulturerbe erhalten hat, das es bewahren muss, und das spürt, was es mit allen Generationen und anderen Lebewesen vereint, kann durch seine Mitwirkung seine Zugehörigkeit zur gemeinsamen Welt ausdrücken und seinen Teil beitragen, sich also am gemeinsamen Werk beteiligen, einen bewohnbaren Planeten weiterzugeben und die Praktiken und Institutionen zu erneuern, die ein nachhaltiges und gerechteres ökologisches Entwicklungsmodell fördern können.

Die Vernunft dient nicht mehr dazu, das, was sich nicht beherrschen lässt, auf Distanz zu halten, und negative Emotionen zu verdrängen. Sie steht nicht im Dienst der Verleugnung und all der psychischen Abwehrstrategien, die das Individuum einsetzt, um sich vor der Angst vor Tod und Verfall sowie vor dem Gefühl der Ohnmacht und Scham zu schützen, die die Zerstörung des Planeten und das Massaker an Milliarden sensibler Lebewesen in ihm auslösen. Im Gegenteil: Sie hilft dem Subjekt, seine negativen Gefühle zu überwinden und die in ihnen enthaltenen Erkenntnisse umzusetzen. So kann es die Realität einschätzen und von der Erstarrung zur Wertschätzung gelangen. Diese Wertschätzung bedeutet, dass es sich voll und ganz seines Platzes bewusst ist und begreift, was es auf seiner Ebene dazu beitragen kann, das Übel in der Welt zu reparieren oder zu verhindern und die Menschen in seiner Umgebung darin zu bestärken, dass sie einen anderen Weg einschlagen als den, der uns ins Verderben führt. In der Wertschätzung entfaltet die Rationalität ihre Wirkung auf das, was unterhalb der rationalen Ebene liegt, ohne es zu unterdrücken. Die Vernunft hört auf ihr Anderes in einem Vertiefungsprozess der Erkenntnis des Selbst und der Realität, die dem Intellekt entspringt, aber auch die unbewussten Schichten der Psyche berührt. Die Verankerung des Subjekts in der Körperlichkeit und die Beschäftigung mit der Materialität seiner Empfindungen erlauben es ihm, scharfsichtiger und kreativer zu sein. Es kann Erlebnisebenen erreichen, die normalerweise vernachlässigt werden, und manche seiner Repräsentationen dekonstruieren, die neben einer intellektuellen und gesellschaftlichen auch eine symbolische und archetypische Dimension enthalten.

In Ethik der Wertschätzung habe ich diese Rationalität untersucht, die sich aus dem Erleben des Inkommensurablen und einem erlebten, transformatorischen Wissen speist, das ich als Transdeszendenz bezeichne. Diese Rationalität, die an eine Anthropologie angelehnt ist, die die Dichte unseres Daseins – also die Tatsache, dass Leben „Leben von“, „Leben mit“ und „Leben für“ bedeutet – unterstreicht, ist das Gegenteil der instrumentellen und korrumpierten Rationalität, deren Genealogie die Pioniere der Frankfurter Schule untersuchten.64 Allerdings haben sie keinen Vernunftbegriff entwickelt, der die Aufklärung von der destruktiven Dialektik befreien könnte, in der sie gefangen war. Als Schlüssel zur Rettung der Vernunft schlugen sie lediglich vor, wieder an die natürliche Natur zu erinnern, die die naturwissenschaftlich-technische Rationalität, die Massenkultur und die Ära der Berechenbarkeit als Gegensatz zur Zivilisation aufgefasst und ihr unterworfen hatte.

56 Alle Autoren der Aufklärung hegen keine Verachtung für den Körper, wie man an den Materialisten wie Helvetius und Diderot sieht, die sich gegen den christlichen Asketismus wendeten. Diderot vertrat nachdrücklich die Ansicht, dass unsere Zivilisation auf dem Gebiet der Instinkte zu repressiv sei, vor allem in Nachtrag zu Bougainvilles Reise oder Gespräch zwischen A. und B. über die Unsitte, moralische Ideen an gewisse physische Handlungen zu knüpfen, zu denen sie nicht passen, Frankfurt am Main 1965. Das Fortschrittsdenken, das großenteils aus der Aufklärung hervorging und zunehmend die objektivierende Vernunft in den Vordergrund rückte, war vor allem bestrebt, den Körper zu beherrschen und auf ihn einzuwirken, um einen gewissen Profit aus ihm zu ziehen. Generell gewöhnte man sich daran, die Zivilisation von der Natur loszulösen, Vernunft und Körper zu spalten, Mensch und Tier radikal zu trennen und den zivilisierten Menschen dem wilden entgegenzusetzen.

57 Das wird besonders deutlich bei Hobbes, der in den Augen von Leo Strauss die radikale Aufklärung verkörpert und der den Menschen für den Proletarier der Schöpfung hält, dem Wissenschaft und Technik die Beherrschung der Natur, auch der menschlichen, ermöglichen sollen, damit er überleben kann.

58 Leo Strauss, „Kurz Riezler“, in ders., What is Political Philosophy and other Studies, Chicago 1988, S. 238.

59 Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg i.Br., München 1987, S. 444.

60 Ebd., S. 438–442.

61 Emmanuel Levinas, Wenn Gott ins Denken einfällt: Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, Freiburg i.Br., München 1985, S. 250.

62 Emmanuel Levinas, „Die Menschenrechte und die Rechte des jeweils Anderen“, in ders., Verletzlichkeit und Frieden. Schriften über Politik und das Politische, Zürich, Berlin 2007, S. 97–108. Siehe auch Corine Pelluchon, Pour comprendre Levinas, Paris 2020, S. 213–236.

63 C. Pelluchon, Wovon wir leben, S. 282–306; dies., Ethik der Wertschätzung, S. 149 f., 174 f., 284 f.

64 Der Zusammenhang zwischen Vernunft und Wertschätzung, durch den die Vernunft aus der Herrschaft befreit und zu einem anderen Rationalismus geführt werden könnte, wird im ersten Teil des sechsten Kapitels in einer Passage ausgeführt, die eine Antwort auf das hier angesprochene Problem darlegt.

Das Zeitalter des Lebendigen

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