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Umdenken

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Levente stand am Fenster und schaute in die Nacht hinaus, sah auf die Lichter der schillernden Metropole. Über zwei Millionen Menschen lebten hier. Ein funkelndes Lichtermeer zeugte von ihrer Existenz. Doch er nahm den Lichtertraum nicht wirklich wahr. „Du willst mir jetzt wirklich sagen, dass all das, was du, was wir, in deine Ausbildung gesteckt haben, wofür vor allem du gekämpft hast, dass das alles perdü ist? Das willst du mir sagen? Ist das dein Ernst?“ Ferenc wand sich unbehaglich. Er hatte sich vor dem Gespräch mit seinem Vater gefürchtet. Wirklich und wahrhaftig gefürchtet. Aber es musste sein. Das Verhältnis zu seinem Vater war eigentlich relativ gut. Es war nicht immer so harmonisch, wie es sich der sensible Ferenc gewünscht hätte.

Sein Vater war die leibhaftig gewordene Vorstellung des Self-made-man. Er stammte aus recht kleinen Verhältnissen, aber durch Fleiß, Zielstrebigkeit und harte Arbeit hatte er sich als einer der bekanntesten Architekten des Landes etablieren können. Es hatte seine Eltern manchen Verzicht gekostet den Sohn auf das Gymnasium zu schicken. Sie lebten ein einfaches Leben. Aber Levente stach schon in der Grundschule durch hervorragende Leistungen hervor, so dass der Dorfschullehrer persönlich bei seinen Eltern vorstellig wurde, um ihnen den Gedanken näher zu bringen, dem Sohn eine akademische Ausbildung angedeihen zu lassen. Leventes Eltern waren schier überwältigt. „Ihr Sohn ist ein heller Kopf“, hatte der Lehrer gesagt. „Es wäre eine Sünde, ihn hier in eine Lehre als Schuhmacher oder Bäcker zu schicken. Der Junge ist intelligent und wissbegierig. Versuchen Sie doch, ihm eine weiterführende Schulausbildung möglich zu machen.“ Und der Lehrer hatte auch gleich ein paar handfeste Vorschläge parat. So ermöglichte er dem jungen Levente den Besuch des Gymnasiums. Niemals hätten sich die kleinbäuerlichen Eltern erträumt, dass ihr Junge einmal das Gymnasium besuchen würde. Allein das Geld, das die Unterbringung im Wochentagsinternat, dem Kollegium, kostete, verlangte ihnen Mühen ab. Aber sie nahmen sie gern auf sich. Wenn das alles dazu dienen würde, ihrem Jungen eine bessere Zukunft zu ermöglichen - sei´s drum. Levente dankte es ihnen mit eifrigem Lernen und einem sehenswerten Abschluss, er machte sein Abitur mit Bestnoten. Schon auf dem Gymnasium fiel sein mathematisches Talent auf. Alles, was sich irgendwie berechnen und in Formeln pressen ließ, war seine Welt.

Die zufällige Begegnung mit einem angehenden Architekten war zukunftsweisend. „Es gibt doch nichts Schöneres, als Häuser zu entwerfen. Du lernst die Menschen kennen, du erspürst, was sie für Vorstellungen haben, und dann planst du ihren Traum, lässt ihn durch deine Arbeit Wirklichkeit werden. Das ist doch phantastisch!“ Levente hatte gerade das Abitur in der Tasche. Dass er studieren würde stand fest. Die Fachrichtung war noch nicht so wirklich festgelegt.

Angeregt durch die Begeisterung des Freundes begann er, sich für die Architektur zu interessieren. Und dann packte es ihn. Das, genau das war es, was er machen wollte. Innenarchitektur begeisterte ihn weniger. Aber Häuser bauen, Lebensraum schaffen, Träume in Stein und Mörtel wahr werden zu lassen, das faszinierte ihn. Er absolvierte sein Studium nicht in der kürzest möglichen Zeit. Das lag daran, dass er sich nicht ausschließlich auf seine Studien konzentrieren konnte, sondern nebenbei als Aushilfskellner, Fremdenführer und Taxichauffeur seinen Lebensunterhalt verdiente. Die Studiengebühren und das Leben in der Universitätsstadt waren teuer. Die Eltern konnten es alleine nicht aufbringen. Es war eine harte Zeit. Aber diese Zeit hatte ihn auch reifen lassen. Er wusste immer, was er wollte, verfolgte hartnäckig sein Ziel. Und er war gut. Er brauchte nur wenige Jahre, um sich nach dem bravourösen Abschluss seiner Studien einen Namen zu machen.

Schon bald stieg er zu einem der gefragtesten Architekten des Landes auf. Das war in einer Zeit, zu der einer, der konnte und wollte, wirklich fast alles erreichen konnte. Fast märchenhafte Zustände. Allerdings war der Aufstieg von Einsatz und Zielstrebigkeit geprägt.

Und nun stand er dort am Fenster, sah hinaus auf die prächtige Kulisse der glitzernd aufgezäumten Donaumetropole. Er sah weder sein Spiegelbild in der dunkel schimmernden Scheibe noch die lockenden Lichter der Millionenstadt. Er schaute auf die vergangenen Jahre seines Lebens. Sah den Kampf, sah den glücklich machenden Erfolg. Sah die Niederlagen, die sich zwangsläufig einstellen. Niemand hat pausenlos Erfolg. Er sah sich selbst an eben diesem Schreibtisch sitzen, hinter dem er jetzt am Fenster stand. Stundenlang, nächtelang, wenn andere Menschen schon fest schliefen. Oh, ja, er hatte Erfolg. Aber er hatte ihn hart verdient.

Es war eine Überraschung für ihn, als sein Sohn mit dem Wunsch herausrückte, Schauspieler werden zu wollen. Sicher, Ferenc hatte sich schon als Kind für das Theater begeistert, angeregt und gefördert von seiner Mutter. Hannele hatte den Jungen schon früh zu Theateraufführungen mitgenommen, das Programm steigerte sich mit seinem Alter. Waren es zuerst Märchenspiele gewesen, so machte sie ihn im Laufe der Jahre mit den großen Dramen bekannt. Nicht nur die ungarischen Theaterstücke wie „Bank Ban“ besuchten sie gemeinsam, er lernte durch seine theaterbegeisterte Mutter auch die Dramen Shakespeares und anderer gottbegnadeter Dichter kennen. Seine Leidenschaft wurde entfacht. Irgendwann rückte er noch vor dem Abitur mit dem Berufswunsch heraus: Er wollte Schauspieler werden.

Levente, durchaus kunstsinnig, aber leider beruflich zu sehr eingespannt, um aus dieser Neigung eine Leidenschaft werden zu lassen, hatte absolut Verständnis. So ermöglichte er gemeinsam mit seiner Frau, die für ihren Jungen auch das Unmöglichste möglich gemacht hätte, eine Schauspielausbildung für den Sohn. Mehrere Jahre hatte er studiert, sogar im Ausland. Die Kosten spielten keine Rolle, war er doch einer der angesehensten und besten Architekten des Landes. Was auch immer diese Schauspielausbildung kosten wolle, er würde es für seinen Sohn bezahlen.

Und nun stand der Bengel vor ihm und erklärte in aller Seelenruhe, dass er die Schauspielerei an den Nagel zu hängen wünsche und stattdessen Hotelier werden möchte. Und dazu selbstverständlich Vaters Unterstützung benötigte. Levente starrte durch dunkle Scheiben auf das lichterglänzende Budapest. Er kaute schwer an diesem Brocken. Und wie immer in schweren Stunden war Hannele mal wieder nicht an seiner Seite, wie er verärgert feststellte. Doch gleich darauf rief er sich selbst zur Ordnung. Sie war sehr wohl immer da, wenn er sie brauchte. Dafür, dass der Junior gerade jetzt auftauchte mit seinen bizarren Vorstellungen, konnte sie schließlich nichts. Und die Kur in Heviz dauerte ja auch nur drei Wochen. Seit einiger Zeit plagten sie lästige Arthroseschmerzen. Eine Kur im berühmten Heilbad Heviz mit dem bekannten Thermalsee würde Wunder wirken, hatte der Arzt ihnen vorgeschwärmt. So unterzog sich Hannelore den therapeutischen Anwendungen und hoffte darauf, dass sie nach der Kur in Heviz gewissermaßen runderneuert in die heimische Gefilde zurückkehren würde. Doch indessen stand er, Levente, vor ungeahnten Aufgaben. „Da lässt sie sich nun Massagen und Heilbäder verpassen und ich muss mit dem renitenten Jüngling fertig werden“, dachte er verstimmt.

Dabei – renitent war Ferenc eigentlich nicht. Er hatte nur sehr klar zum Ausdruck gebracht, dass er zwar als hoffnungsvoller Schauspielernachwuchs galt, dies jedoch nicht weiter auszubauen gedenke. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie mich das anwidert.

Wem du alles die Stiefel lecken musst, damit man überhaupt von dir Notiz nimmt. Manche wollen weitaus mehr als nur die Stiefel geleckt bekommen.“ Levente setzte eine indignierte Miene auf. „Ich glaube, ich verstehe das nicht…“ „Lass stecken, Papa, glaub mir einfach, wenn ich dir sage – es gibt Sachen, die ich nicht mal für die Hauptrolle in einem Jahrhundert-Filmevent machen würde.“ Levente nahm das schweigend hin. Ja, so einiges war ihm da auch schon zu Ohren gekommen. Weltfremd war er trotz seines beruflichen Engagements nicht. Aber dass der Bengel nun so mir nichts, dir nichts alles hinschmeißen wollte, wofür sie seit Jahren gemeinsam gekämpft hatten, wollte ihm nicht in den Kopf. „Daran ist nur dieses Mädel schuld“, mutmaßte er. „Sie hat dir diesen Floh ins Ohr gesetzt!“

Schon vor Monaten hatte sich Ferenc seiner Mutter anvertraut und ihr zu verstehen gegeben, dass er sich schwer verliebt habe. Hannele hatte das lächelnd zur Kenntnis genommen. „Ist das ebenso ernst zu nehmen wie die Verlobung, die wir schon erlebt haben?“ Er wurde verlegen. „Naja, ich gebe zu, da war ich wirklich voreilig gewesen, und es war gut, dass ihr es nicht ernst genommen habt. Aber das mit Erzsi ist was anderes.“ „Ahja? Na, dann bring sie doch einmal mit, damit wir uns kennenlernen können.“

Und so entführte Ferenc seine Erzsébet eines schönen Tages in die elegante Villa am Rozsadomb in Budapest, die seine Eltern bewohnten. Erzsi, Hotelierstochter eines der führenden Häuser der Metropole, zeigte sich durchaus nicht eingeschüchtert ob der noblen Adresse. Sie hatte ein wenig Herzklopfen angesichts des bevorstehenden Kennenlernens seiner Familie, war aber weit davon entfernt, sich von der hochkarätigen Adresse beeindrucken zu lassen. Dieses erste Kennenlernen war von gegenseitiger Sympathie getragen. Erzsébet zeigte sich von ihrer charmantesten Seite – und die konnte sich sehen lassen. Seine Eltern waren hingerissen. Diese junge Dame war offenbar nicht nur bildhübsch und intelligent, sondern entstammte obendrein auch noch einer angesehen Familie. Nicht dass das wirklich eine Rolle gespielt hätte, schließlich ist man ja weltoffen und tolerant, aber… nun, besser ist das schon. Und jetzt stand der Bengel da und verkündete, dass er die Schauspielerei aufzugeben und fürderhin der Hotellerie seinen Einsatz zu schenken wünsche. Ganz klar, weil die Angebetete aus dieser Branche kam. Levente kochte vor Zorn. Aber er beherrschte sich. „Ich schlage vor, dass wir die Angelegenheit vertagen, bis deine Mutter aus der Kur in Heviz wieder zurück ist. Dann setzen wir uns mal alle vier zusammen.“ Erleichtert stimmte Ferenc zu. Mit Mama an seiner Seite würde es viel leichter sein. Am Beistand seiner Mama hatte er noch nie zweifeln müssen. Es war sowieso eine dumme Idee gewesen, das Gespräch mit dem Vater zu suchen, ohne vorher mit Hannele gesprochen zu haben, das war ihm klar.

Aber er war gerade von Dreharbeiten in England zurückgekommen, wo er eine kleine Rolle in einem eher wenig anspruchsvollen Fernsehfilm ergattert hatte. Und er musste sofort mit seinem Vater sprechen, sonst wäre er daran erstickt. Er war es so leid. Dieses Hinterherjagen nach Angeboten. Diese Speichelleckerei, die Intrigen der lieben Kollegen – so hatte er sich seinen Traumberuf nicht vorgestellt. Auch das Herumreisen war er leid. Im letzten halben Jahr, vor der kleinen Filmrolle, war er mit einem Stück auf Tournee in Deutschland gewesen. Alle zwei Tage in einer anderen Stadt, zwischen den Auftritten Proben, immer wieder neue Kollegen, auf die er sich einstellen musste, all der Neid und die Missgunst, die ihm vielerorts aus den Kollegenkreisen entgegenschlugen… Einmal hatte ihn sogar ein Kollege geohrfeigt, als er sagte, dass er aus Ungarn kommt. „Geh zurück in deinen Gulaschtopf und nimm unseren Leuten hier nicht die Rollen weg!“, hatte er ihn angeschrien. Ferenc war tödlich beleidigt und zutiefst unglücklich. Ein festes Engagement, wie er es in Wien für diese eine Spielzeit gehabt hatte, das war nach seinem Geschmack gewesen.

Leider hatte er auf seinen Agenten gehört, der sich bemüßigt gefühlt hatte, diesen vielversprechenden jungen Schauspieler ganz groß herauszubringen – was für den Agenten nun auch ein kommerzieller Erfolg gewesen wäre. Aber Ferenc war gar nicht mehr so sicher, ob er „ganz groß“ herauskommen wollte.

Er litt vor allem unter den häufigen Trennungen von Erzsi. Er brauchte sie wie die Luft zum Atmen. Das wurde ihm immer deutlicher bewusst, je öfter und länger sie getrennt sein mussten. Sie arbeitete mittlerweile im elterlichen Hotel, und auch sie hatte sich zu einer Vielreisenden entwickelt, denn sobald es ihr Dienstplan erlaubte, reiste sie ihm nach. Um ihn auf der Bühne bewundern zu können und um an spielfreien Tagen so viel Zeit wie möglich mit ihm zu verbringen. Aber es war immer zu wenig Zeit und es stellte ihre Liebe auf eine harte Probe. Einmal sagte sie: „Ich liebe dich wirklich bis zum Wahnsinn. Aber so, wie es jetzt ist, kann es doch nicht weitergehen. Du hier, ich dort – unser ganzes Glück sind wenige, geklaute Stunden… Soll so unsere Zukunft aussehen? Ich meine, ich könnte auch in einem anderen Hotel arbeiten, ich könnte immer mal wieder wechseln und dort, wo du ein längerfristiges Engagement hast, einen Arbeitsplatz suchen. Gute Leute bekommen überall in der Branche einen Job, aber was machen wir, wenn du wieder so eine dusslige Tournee abschließen musst? Ein gemeinsames Zuhause können wir uns auf diese Weise nie aufbauen.“ Er bemühte sich um ein Engagement in der Hauptstadt, aber das war nicht so einfach. Dann kam das Filmangebot, eine ungarische Produktionsfirma drehte in England. Das klang sehr gut. Aber die Rolle war nichtssagend, die Bezahlung unterirdisch, der Regisseur ein Hitzkopf, der seinen Schauspielern nicht den Hauch von Unterstützung geben konnte. Der Film wurde ein riesengroßer Flop. Ausgebrannt, enttäuscht und verbittert kehrte Ferenc nach Budapest zurück. So konnte und wollte er nicht weitermachen.

Csárdás im Schlosshotel

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