Читать книгу Ein Leben mit Freunden - Cornelia Weidner - Страница 7
1. »Freundschaft heißt, gemeinsam einen Sack voll Salz aufessen«2 – Soma Morgenstern und sein Leben mit Freunden
ОглавлениеAls der aus Ostgalizien stammende Journalist und Schriftsteller Soma Morgenstern im Jahr 1976 sechsundachtzigjährig in New York starb, war sein Name dies- und jenseits des Ozeans so gut wie unbekannt. Sein schriftstellerisches Œuvre war nur in Teilen ediert, und auch diese wenigen Werke hatten kaum internationale Beachtung gefunden.3 In seinem Nachlaß fand sich eine Vielzahl unveröffentlichter und zum Teil druckfertiger Manuskripte, die erst im Rahmen einer neuen Werkausgabe, die zwischen 1994 und 2001 im zu Klampen Verlag erschienen ist, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Es stellt sich hier die Frage, warum Soma Morgenstern und sein nicht gerade unbeträchtliches publizistisches und schriftstellerisches Werk – die Werkausgabe umfaßt elf Bände – bis heute in Deutschland und Österreich noch nahezu unbekannt sind? Selbst in den USA, wo Morgenstern die letzten fünfunddreißig Jahre seines Lebens verbrachte und einen Großteil seiner Werke verfaßte, ist es um seine Bekanntheit nicht wesentlich besser bestellt.
Morgensterns Schicksal ist kein Einzelfall. Er zählt zu der großen Schar von Journalisten und Schriftstellern, die nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1933 zunächst ihre Anstellung und dann ihre Heimat verloren. Der in Wien lebende Morgenstern verließ Österreich nach dem sogenannten Anschluß des Landes an das Deutsche Reich im März 1938. Wie viele ging er ins Exil, zuerst nach Frankreich, dann in die USA und kehrte nie wieder nach Europa zurück. Morgenstern war in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts als Feuilletonkorrespondent der Frankfurter Zeitung zunächst in Berlin, später in Wien tätig. Nach ersten Versuchen als Dramatiker wandte er sich Anfang der dreißiger Jahre gänzlich der Schriftstellerei zu. Sein erster Roman Der Sohn des verlorenen Sohnes, der den Auftakt zu einer Roman-Trilogie bildet, war im Jahr 1934 im Manuskript abgeschlossen, doch die sich überschlagenden politischen Ereignisse erschwerten sowohl die schriftstellerische Arbeit als auch eine Veröffentlichung des Werkes. Morgenstern mußte emigrieren, bevor er sich im deutschsprachigen Raum einen Namen als Schriftsteller hatte machen können. Sein erster Roman konnte 1935 zwar noch in Deutschland im Berliner Erich Reiss Verlag erscheinen, durfte jedoch nur an Juden verkauft werden. Im Jahr 1938 ging Morgenstern endgültig ins Exil nach Paris. Dort setzte er die Arbeit an den Fortsetzungsbänden der Roman-Trilogie fort, doch der Beginn des Zweiten Weltkriegs verhinderte die Vollendung und Veröffentlichung der Werke. Darüber hinaus gingen sämtliche Manuskripte auf der Flucht durch das besetzte Frankreich im Sommer 1940 verloren. Barbara Mauersberg faßt Morgensterns Situation in ihrer Rezension von dessen Erinnerungen an den langjährigen Freund Joseph Roth, Joseph Roths Flucht und Ende, mit folgenden Worten zusammen: »Der Erste Weltkrieg raubte ihm die Jugend, der Zweite die Heimat und die Nachkriegszeit brachte ihn um jede literarische Wirkung.«4
Barbara Mauersbergs Satz trifft auf eine Vielzahl sogenannter Exil-Autoren zu. Vielen Zeitgenossen Morgensterns erging es ähnlich. Hitlers Diktatur machte es regimekritischen und vor allem jüdischen Autoren – beides trifft auf Morgenstern zu – nahezu unmöglich, als Schriftsteller Fuß zu fassen, von der Veröffentlichung und Verbreitung ihrer Werke ganz abgesehen. Wer nicht bereits vor Hitlers Machtübernahme im Jahr 1933 seinen Ruf als Schriftsteller hatte festigen und es zu internationaler Bekanntheit hatte bringen können, wie zum Beispiel Stefan Zweig oder Lion Feuchtwanger, der wurde nach 1933 nahezu sämtlicher Publikationsmöglichkeiten beraubt. Und auch nach dem Krieg, im amerikanischen Exil, war Morgenstern, der zeit seines Lebens in deutscher Sprache schrieb, kein Erfolg als Schriftsteller beschieden. Zwar erschienen in den USA noch einige seiner Romane in englischen Übersetzungen, ohne jedoch auf nachhaltige Resonanz zu stoßen. In Deutschland blieb er so gut wie unbekannt.
Nur wenige der sogenannten Exil-Schriftsteller schafften es, sich nach dem Krieg in ihren Exilländern wieder eine Existenz aufzubauen oder an schriftstellerische Erfolge der Vorkriegszeit anzuknüpfen. Viele mußten sich mit Gelegenheitsjobs ihren Lebensunterhalt verdienen. Nicht wenige, die es in die Vereinigten Staaten verschlagen hatte, verdingten sich als Drehbuchautoren bei einer der großen amerikanischen Filmgesellschaften. Auch Morgenstern war vorübergehend als Verfasser von Untertiteln für fremdsprachige Filme tätig, konnte jedoch keine dauerhafte Anstellung finden. Sein Hauptaugenmerk war auf die Rekonstruktion der auf der Flucht verlorengegangenen Manuskripte und die Vollendung der Roman-Trilogie gerichtet. Ende der vierziger Jahre erschien die gesamte Trilogie in einem amerikanischen Verlag unter dem Titel Sparks in the Abyss in englischer Übersetzung. Anfang der fünfziger Jahre veröffentlichte er noch einen weiteren Roman: The Third Pillar/Die Blutsäule, der ebenfalls in englischer Übersetzung erschien. Doch auch hier sollte sich kein nachhaltiger Erfolg einstellen.
Morgensterns Entdeckung als Schriftsteller begann erst Anfang der neunziger Jahre, genauer gesagt im Jahr 1994 mit dem Erscheinen des ersten Bandes der Werkausgabe im zu Klampen Verlag. Eine Vorreiterrolle spielte dabei Ingolf Schulte, der Herausgeber dieser Ausgabe, der, wie er in einem Artikel über den ›vergessenen Autor Soma Morgenstern‹ schreibt, »beschloß, dem Namen nachzugehen, der mir lange zuvor in einigen Brieferwähnungen begegnet war«5. In den Jahren 1991 und 1992 sichtete Schulte Morgensterns Nachlaß in New York, der schließlich zur Grundlange der elfbändigen Werkedition wurde. Die Ausgabe spiegelt die Vielfältigkeit von Morgensterns schriftstellerischer Persönlichkeit. Sie umfaßt zum einen Morgensterns gesamtes Romanwerk, die Trilogie Funken im Abgrund und den Roman Die Blutsäule, die beide bis zu diesem Zeitpunkt nur in den USA und in englischer Übersetzung erschienen waren und hier erstmals vollständig und in deutscher Originalsprache publiziert wurden. Daneben wurde Morgensterns bislang unveröffentlichter letzter Roman Der Tod ist ein Flop zum ersten Mal ediert. Zwei weitere Bände enthalten Morgensterns in der Frankfurter Zeitung erschienene Feuilletons, Theater-, Film- und Literaturkritiken sowie sämtliche Typoskripte, die sich in seinem Nachlaß in den Vereinigten Staaten befanden, darunter auch Manuskriptvarianten, Tagebücher und Notizhefte.
Der weitaus größte Teil der bis dato unveröffentlichten Typoskripte entstand im Rahmen eines großangelegten autobiographischen Projektes, mit dem sich Morgenstern in den letzten fünfundzwanzig Jahren seines Lebens überwiegend beschäftigt hatte und das ursprünglich den Titel Ein Leben mit Freunden tragen sollte. Es ist kein Zufall, daß die Freunde den Mittelpunkt seiner Lebenserinnerungen bilden sollten, schließlich ziehen sich Freundschaften wie ein roter Faden durch sein gesamtes Leben: »Was Freundschaft betrifft, habe ich in meinem Leben besonderes Glück gehabt«, schreibt Morgenstern in seinen Erinnerungen. »Ich kann ohne Übertreibung sagen, daß es der Segen meines Lebens war. Mit vielen bedeutenden Menschen lebte ich in ungetrübter Freundschaft, bedeutenden, die später berühmt werden sollten, wie Joseph Roth, Alban Berg, Robert Musil, Otto Klemperer, Josef Frank, Ernst Bloch, um nur einige zu nennen.«6
Später verwarf Morgenstern den Titel Ein Leben mit Freunden wieder, da er, wie er in den ›Bemerkungen‹ schreibt, die sich beim Typoskript zu Joseph Roths Flucht und Ende im Nachlaß fanden und als Nachwort in diesem Band veröffentlicht wurden, »zu der unglücklichen Generation gehör[t]e, die in einer Flut von Weltgeschichte verunglückte, aus der nur einige ihr Leben gerettet haben, aber keinesfalls ohne Schaden davongekommen sind.«7 Auch ist es nie zum Abschluß dieses schriftstellerischen Vorhabens gekommen. Morgensterns Autobiographie blieb unvollendet. Dennoch soll der Titel Ein Leben mit Freunden gleichsam Motto und Überschrift der vorliegenden Untersuchung sein, sich mit eben diesem Komplex des Morgensternschen Œuvres auseinandersetzt: den – im weitesten Sinne – ›autobiographischen Schriften‹.8 Ziel der Arbeit ist eine erste wissenschaftliche Erschließung dieser Texte, die bislang im Rahmen der ohnehin noch in ihren Anfängen steckenden Morgenstern-Forschung so gut wie unberücksichtigt geblieben sind. Dieser Umstand ist fraglos auch auf die Tatsache zurückzuführen, daß dieser Komplex seines Gesamtwerkes bis vor wenigen Jahren nur in Morgensterns Nachlaß erhalten und einem breiteren Leserpublikum nicht zugänglich war. Vor allem die Roman-Trilogie Funken im Abgrund, aber auch der Roman Die Blutsäule, die zumindest in den Vereinigten Staaten noch zu Morgensterns Lebzeiten eine Veröffentlichung erfahren hatten, haben auch nach ihrem Erscheinen im zu Klampen Verlag die Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaft bereits häufiger auf sich gezogen. Daher ist der Romankomplex in Morgensterns schriftstellerischem Werk nicht Gegenstand dieser Untersuchung.
An dieser Stelle muß auf eine grundsätzliche Problematik hingewiesen werden, die sich bei der Beschäftigung mit Morgensterns ›autobiographischen Schriften‹ ergibt. Der Textkorpus, der dieser Untersuchung zugrunde liegt, setzt sich ausschließlich aus Texten zusammen, die posthum publiziert wurden und die zum Teil nur in fragmentarischer Form in Morgensterns Nachlaß überliefert waren. Bei den ›autobiographischen Schriften‹ handelt es sich, wenn man so will, um Werke aus zweiter Hand, da der Autor selbst nicht für die Veröffentlichung verantwortlich zeichnet. Es muß hier die Frage gestellt werden, inwieweit die Werke in der Form, in der sie in der Werkausgabe vorliegen, Morgensterns Intention entsprechen und wie groß die editorischen Eingriffe des Herausgebers Ingolf Schulte waren.
Eine synoptische Gegenüberstellung der im Exil-Archiv der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main befindlichen Original-Typoskripte von Soma Morgenstern mit den in der Werkedition vorliegenden Ausgaben der ›autobiographischen Schriften‹ hat gezeigt, daß der Herausgeber sehr sorgfältig mit Morgensterns Vorlagen umgegangen ist und sich weitestgehend an die Original-Typoskripte gehalten hat. Sicherlich ist Schultes Vorgehen nicht bar jeder Kritik und es gibt durchaus Punkte, die zu diskutieren wären. So wurde zum Beispiel im Band In einer anderen Zeit ein längeres Typoskript vom Herausgeber in mehrere kürzere Kapitel aufgeteilt, um, so Schulte, »das Gliederungsprinzip des Buches zu wahren.«9 In Alban Berg und seine Idole ergänzte Schulte den in das Typoskript eingegliederten Briefteil um die in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek befindliche Korrespondenz aus dem Nachlaß Alban Bergs. Dieses Vorgehen mag als gravierender Eingriff gewertet werden. Schulte erläutert und begründet sein Vorgehen jedoch stets sehr eingehend in den editorischen Notizen des jeweiligen Bandes, so z. B. zu In einer anderen Zeit: ihm sei »der subjektive Charakter seiner jeweiligen Entscheidung durchaus bewußt.«10
Im Falle des ergänzten Briefwechsels im Band Alban Berg und seine Idole kann sich der Herausgeber darüber hinaus auf eine Aussage Morgensterns berufen, aus der eindeutig hervorgeht, daß Morgenstern durchaus darum bemüht war, die gesamte Korrespondenz mit Alban Berg in seinen Erinnerungen zu veröffentlichen. In einem Brief, den er im Jahr 1970 an die Witwe Alban Bergs, Helene Berg, entworfen hat, den er jedoch nie abschickte und der in Alban Berg und seine Idole erstmals veröffentlicht wurde, schreibt Morgenstern: »Es geschah im Jahre 1968, bei meinem letzten Besuch. Du hast mir noch ein paar von meinen Briefen, die ich an Alban geschrieben habe, ausgesucht und versprachst, noch andere zu suchen, obwohl ich genau wußte, daß Du nicht zu suchen brauchtest. Du wußtest sehr wohl, wo sie sind und hattest längst beschlossen, welche Du mir ›aussuchen‹ und welche Du unterschlagen wolltest.«11 Dieses Zitat zeigt, daß Morgenstern selbst versucht hat, den Korrespondenzteil um die in Alban Bergs Nachlaß befindlichen Briefe zu ergänzen und zu vervollständigen.
Es ist auch nicht Ziel und Zweck der vorliegenden Arbeit, eine Editionskritik der Morgenstern-Werkausgabe zu schreiben. Es sollte hier lediglich auf die außergewöhnliche Textgrundlage hingewiesen werden, mit der man es im Fall von Soma Morgensterns ›autobiographischen Schriften‹ zu tun hat und die es bei der konkreten Arbeit an den Texten zu berücksichtigen gilt.
Die Tatsache, daß zwei der vier Bände, die im Zentrum der vorliegenden Untersuchung stehen, bereits im Titel direkt auf Freunde verweisen – nicht von ungefähr handelt es sich dabei um die Freunde, die Morgenstern am nächsten gestanden haben dürften, den ebenfalls aus Ostgalizien stammenden Romancier Joseph Roth und den Wiener Komponisten Alban Berg –, zeugt von der zentralen Bedeutung, die den Freunden in den ›autobiographischen Schriften‹ zukommt, selbst wenn er den Titel Ein Leben mit Freunden schließlich verwarf. Diese Signifikanz wird keineswegs durch den Umstand geschmälert, daß die beiden anderen Bände der ›autobiographischen Schriften‹ keinen expliziten Verweis auf Freunde oder Freundschaft im Titel enthalten. Die Titel stammen nicht von Morgenstern, sondern wurden nachträglich vom Herausgeber der Edition, Ingolf Schulte, eingefügt. Daher lassen sich hieraus keine direkten Rückschlüsse auf Morgensterns Intention ziehen.
Morgenstern hat im Laufe seines Lebens zahlreiche, langjährige Freundschaften gepflegt. In seinen Lebenserinnerungen berichtet er denn auch in erster Linie aus der Perspektive des Freundes. Aber auch in den Darstellungen seiner Zeitgenossen und Freunde wird Morgenstern überwiegend in seiner Eigenschaft als Freund – und hier vor allem als enger Freund und Vertrauter Joseph Roths – geschildert, weniger als Schicksalsgefährte und gleichermaßen ins Exil getriebener Autor. So schreibt die Schauspielerin und Schriftstellerin Hertha Pauli, die Morgenstern im Pariser Exil begegnete, in ihrer Autobiographie Der Riß der Zeit geht durch mein Herz: »Nie fehlten dort [an Joseph Roths Tisch im Café Tournon] Roths Jugendfreund Soma Morgenstern, ein Heimatdichter aus Galizien, von wo sie beide stammten, und eine schöne, dunkelhäutige Frau, die Roth wie ein Schatten durchs Exil begleitete.«12 Offenbar waren nicht nur die Freunde ein zentraler Punkt in seinem Leben. Auch umgekehrt wirkte er auf seine Umgebung besonders in seiner Eigenschaft als Freund. Der amerikanische Karikaturist Al Hirschfeld, mit dem Morgenstern in New York befreundet war, bemerkt: »Er war ein seltsamer, kreativer Mensch, ein wundervoller ›companion‹. Er hatte eine große Kapazität für Freundschaften. Viele Menschen hingen sehr an ihm.«13
Bei aller verklärenden Stilisierung, die mit dem Titel Ein Leben mit Freunden verbunden ist, trifft dieser offensichtlich einen wesentlichen Charakterzug Morgensterns. Freunde scheinen tatsächlich eine entscheidende Rolle in seinem Leben gespielt, ihm gar als Familienersatz gedient zu haben. Dabei ist es nicht so, daß Morgenstern keine Familie gehabt hätte. Er war verheiratet und Vater eines Sohnes. Die Ehe bestand nach dem Krieg allerdings nur noch auf dem Papier. Das Ehepaar hatte sich auseinandergelebt. Aussagen des Sohnes Dan zufolge hatten sowohl die Mutter als auch der Vater außereheliche Affären. Die Ehe wurde jedoch nie geschieden. Von Morgenstern ist bekannt, daß er mit der Schauspielerin Lotte Andor und mit der Krankenschwester Nora Koster längere Liebesbeziehungen hatte. Näheres über Morgensterns Privatleben ist aus seinen Lebenserinnerungen nicht zu erfahren. Er selbst blendet diesen Bereich seines Lebens nahezu vollständig aus. Lediglich in den Tagebüchern, die nicht im Hinblick auf eine Veröffentlichung entstanden sind, erwähnt Morgenstern einmal »meine Freundin«, mit der er im August 1949 eine Reise nach Kanada unternahm.14 In den weiteren autobiographischen Texten spielen die eigene Familie und das Privatleben eine, wenn überhaupt, untergeordnete Rolle. Der Leser erfährt mehr Einzelheiten und Details über das Privatleben der Freunde Alban Berg und Joseph Roth, über Alban Bergs Frau Helene und die Frauen in Joseph Roths Leben, denen Morgenstern sogar ein gesondertes Kapitel seiner Erinnerungen widmet, als über Morgensterns Familie. Seine Frau Inge und der Sohn Dan erscheinen nur als Randfiguren, wenn es sich im Kontext einer geschilderten Begebenheit ergibt. Die Lebensgefährtinnen werden überhaupt nicht erwähnt.
Die in Morgensterns autobiographischen Texten zu beobachtende Stilisierung und Idealisierung der Freundschaft ist kein Einzelfall in dieser Generation, die, um die Wende zum 20. Jahrhundert geboren, wesentlich durch die Erfahrung von Exil und Heimatverlust geprägt ist. Auch in den Lebenserinnerungen des deutschen Literaturkritikers und Philosophen Ludwig Marcuse findet sich eine ähnlich verklärende Darstellung der Freunde. Wie Morgenstern definierte auch der vier Jahre jüngere Marcuse seinen Lebens- und Wirkungsraum in erster Linie über seinen Freundeskreis und empfand demzufolge den Verlust der Freunde durch Emigration und Vertreibung als besonders schmerzvoll. In Marcuses ›Weg zu einer Autobiographie‹ Mein zwanzigstes Jahrhundert findet sich folgende Passage, die durchaus auch von Morgenstern stammen könnte: »Ich fühlte, wieviel in wenigen Tagen leergeworden war. Wer alt wird, dem bröckelt die Welt jeden Tag etwas mehr ab. Wir waren erst Mitte Vierzig – und schon war mein kleines All, das nicht so sehr von Sternen als von Freunden gerahmt ist, nur noch eine Ruine.«15 Lotte Andor, Morgensterns zeitweilige Lebensgefährtin, geht in ihren Memoiren einer unbekannten Schauspielerin, in denen ihr Verhältnis mit Morgenstern im übrigen ebenfalls keine Erwähnung findet, sogar noch weiter und schreibt: »Und doch bin ich auch in Deutschland nicht mehr zu Hause. Wie könnte es nach all den grausigen Begebenheiten anders sein? Bin ich also heimatlos? Ich glaube es nicht. Meine Heimat ist da, wo meine Freunde sind. Meine Hymne lautet: Freundschaft, Freundschaft über alles, über alles in der Welt.«16
Allen drei Autoren ist das Erlebnis von Exil und Vertreibung gemein. Die Häufung der idealisierenden Darstellung von Freundschaft läßt einen Zusammenhang vermuten zwischen der Exilerfahrung und der Tatsache, daß sie den Freunden und der Freundschaft einen besonders hohen Stellenwert beimessen. Offenbar entspringt die Stilisierung der Freundschaft einem inneren Bedürfnis, das durch die Exilerfahrung hervorgerufen wurde. Die Freunde ersetzen die Heimat in der Fremde. Durch die Konzentration auf die Freunde wird der Verlust von Familie und Heimat weniger schmerzlich empfunden. Besonders deutlich wird dies in der zitierten Passage aus Lotte Andors Memoiren, die ihren Heimatbegriff nicht an ein bestimmtes Land knüpft, sondern ihn über die Freunde definiert. Inwieweit die Konzentration auf die Freundschaft nicht auch einer Wunschprojektion und einem stets retrospektiven Verschließen gegenüber der Realität und der Gegenwart entspringt, kann nur schwer nachgeprüft werden. Zumindest impliziert diese Sichtweise auch eine einseitige, ja strategische und selektive Darstellung des eigenen Lebens, denn die Schattenseiten des Lebens wie zum Beispiel die Existenz von Kontrahenten oder Widersachern – oder wie in Morgensterns Fall die gescheiterte Ehe und die außerehelichen Affären – werden ausgeblendet.
Da Morgensterns ›autobiographische Schriften‹ nicht als ein in sich abgeschlossener Lebensbericht konzipiert sind, sondern als vier einzelne, eigenständige und in sich abgeschlossene Bände, wird der Anspruch einer lückenlosen, chronologischen und detaillierten Darstellung nicht erhoben. In jedem der vier Werke beleuchtet Morgenstern einen besonderen Bereich, eine besondere Phase seines Lebens.
Ziel der vorliegenden Arbeit ist eine Typologie von Morgensterns ›autobiographischen Schriften‹. Es geht hierbei nicht um eine detaillierte Textanalyse – diese würde den Rahmen der Untersuchung sprengen und sollte Aufgabe einer weiterführenden Beschäftigung mit diesem Komplex des Morgensternschen Œuvres sein –, sondern um eine Klassifizierung der Texte und um das Herausarbeiten der unterschiedlichen Herangehensweisen und literarischen Techniken, derer sich Morgenstern in den einzelnen Teilen seiner autobiographischen Aufzeichnungen und Veröffentlichungen bedient. Autobiographie, Memoiren, Erinnerungen – keine dieser Bezeichnungen vermag, den besonderen Stil Morgensterns autobiographischer Schriften hinreichend zu charakterisieren. Die unter dem Motto Ein Leben mit Freunden entstandenen Texte nehmen vielmehr eine Zwitterstellung ein zwischen Autobiographie, Lebenserinnerungen, Generationenbild, Biographie und Zeitdokument, die sich nicht eindeutig einer Kategorie zuordnen läßt, was im übrigen zu den formalen Eigenheiten der Autobiographie an sich gehört. So schreibt Georg Misch in seinem Beitrag über ›Begriff und Ursprung der Autobiographie‹: »Die Selbstbiographie ist keine Literaturgattung wie die andern. Ihre Grenzen sind fließender und lassen sich nicht von außen festlegen und nach der Form bestimmen. […] Und keine Form fast ist ihr fremd.«17
Zur Charakterisierung der unterschiedlichen thematischen Schwerpunkte und literarischen Herangehensweisen, derer sich Morgenstern in den einzelnen Teilen seiner Lebenserinnerungen bedient, werden die Begriffe ›autobiographisch‹, ›chronistisch‹ und ›autofiktiv‹ eingeführt. Sie umreißen schlagwortartig die formale Spannweite, innerhalb derer sich Morgensterns autobiographische Texte bewegen. Die Dopplung des Begriffs ›autobiographisch‹ als generischer Überbegriff für alle vier Werke zum einen und als spezifische Klassifizierungskategorie für die Kindheitserinnerungen In einer anderen Zeit läßt sich hier nicht vermeiden. Sie resultiert aus der Tatsache, daß alle vier Werke einen autobiographischen Hintergrund haben, jedoch nur eines, eben die Kindheitserinnerungen, deutliche Züge einer Autobiographie trägt.
An dieser Stelle sei noch auf eine Problematik hingewiesen, die sich grundsätzlich bei der Beschäftigung mit autobiographischen Texten ergibt – die Frage nach der Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit der Darstellungen. Autobiographisches Schreiben impliziert eine Grundspannung zwischen dem Anspruch des Autobiographen, eine historische Realität wiederzugeben, und seiner subjektiven Autorposition. Diese steht zuweilen einer dokumentarischen und objektiven Schilderung entgegen. Morgenstern war sich offensichtlich dieser Problematik bewußt. So schreibt er in einem Manuskriptentwurf zu Alban Berg und seine Idole: »Damals war ich schon alt, meine besten Freunde waren tot. Sie vertrugen bereits die ganze Wahrheit. Dennoch beschloß ich eine Autobiographie zu schreiben die erst nach meinem Tode veröffentlicht werden sollte. Da stand der ganzen Wahrheit noch ein Freund entgegen: ich. Erst als ich beschloß, von mir selber so rückhaltlos zu schreiben als bestünde keine Wahrscheinlichkeit, mir selbst auf einem anderen Planeten zu begegnen, floß mir die Wahrheit so ungehemmt aus der Feder […].«18
Nach außen hin vertritt Morgenstern den Anspruch, nach bestem Wissen und Gewissen zu schreiben und die Dinge wahrheitsgemäß darzustellen. Inwieweit ihm das wirklich gelingt, wo ihn das Unterbewußtsein, das Gedächtnis oder auch die konkrete Absicht dazu verleiteten, Sachverhalte und Ereignisse beschönigend darzustellen, zu seinen Gunsten auszulegen oder ganz zu verschweigen, kann nicht mehr nachvollzogen werden. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß mit der Stilisierung der Freundschaft auch eine Vernachlässigung anderer Lebensbereiche einhergeht. Es ist überdies ein bekanntes Phänomen, daß der Mensch dazu neigt, im Rückblick Dinge zu verklären und vor allem positive Erlebnisse im Gedächtnis zu behalten, wohingegen die negativen verdrängt werden. Darüber hinaus besteht häufig eine Diskrepanz zwischen dem Selbstbild, das ein jeder – auch der Autor einer Autobiographie – von sich hat, und dem Bild, das die Umwelt von dieser Person entwickelt. Jeder autobiographische Text muß vor dem Hintergrund dieser grundlegenden Problematik gelesen werden.
Im Falle der Morgensternschen Erinnerungen wird die Sachlage noch durch den Umstand erschwert, daß es kaum verläßliche Quellen gibt, anhand derer sich seine Schilderungen überprüfen ließen. Der informative und dokumentarische Gehalt ist seinen ›autobiographischen Schriften‹ bei allen Vorbehalten jedoch nicht abzusprechen und soll im Zuge dieser Arbeit aufgezeigt werden. Als ein Zeitzeuge der ›Wiener Moderne‹, der in den intellektuellen Kreisen verkehrte und mit zahlreichen prominenten Zeitgenossen aus Literatur, Musik, Architektur und bildender Kunst befreundet war, sind seine Erinnerungen ein unschätzbares Dokument ihrer Zeit.
Zum Abschluß dieses Einleitungskapitels sei kurz die weitere Vorgehensweise erläutert. Morgensterns vergleichsweise geringe Bekanntheit erfordert es, den Lebensweg des Autors nachzuzeichnen und sein schriftstellerisches Gesamtwerk dem Leser vorzustellen. Dies wird in Kapitel 2 geschehen. Das dritte Kapitel versucht, den literaturgeschichtlichen Hintergrund – den Bereich der sogenannten Exilliteratur – und insbesondere das Genre der Exil-Autobiographie in großen Zügen zu umreißen. Es kann sich hierbei nur um eine erste Annäherung an den Themenkomplex handeln, da das Gebiet der Exilliteratur Gegenstand eines eigenständigen Forschungsbereichs innerhalb der Literaturwissenschaft darstellt und eine auch nur annähernd erschöpfende Darstellung desselben im Rahmen dieser Untersuchung nicht möglich wäre.
Das vierte Kapitel bildet das Zentrum der Arbeit und nimmt dementsprechend den größten Raum innerhalb der Untersuchung ein. Es werden zunächst Kriterien zur Klassifizierung von Morgensterns ›autobiographischen Schriften‹ und eine Typologie derselben entwickelt, bevor die vier Werke vor dem Hintergrund dieser Einteilung und in Hinblick auf die unterschiedlichen autobiographischen Verfahren im einzelnen vorgestellt und ihre besonderen stilistischen und formalen Merkmale erörtert werden.