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2. »Ein geistvoller und dem Geiste dienender neuer Dichter«19 – Leben und Werk Soma Morgensterns 2.1 »Ein Intellektueller und Kosmopolit«20 – Wer war Soma Morgenstern?

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Salomo Morgenstern wurde am 3. Mai 1890 als jüngstes von insgesamt fünf Kindern des Gutsverwalters Abraham Morgenstern und dessen Frau Sara in einem Dorf der ostgalizischen Gemeinde Budzanów geboren. Das Dorf lag etwa fünfzig Kilometer südlich der Stadt Tarnopol am Fluß Sereth im österreich-ungarisch-russischen Grenzgebiet. Galizien gehörte seit der ersten polnischen Teilung von 1772 als Kronland zur österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie. Nach der Einnahme Lembergs durch die polnische Armee im Jahr 1918 wurde dieses Gebiet zunächst Teil des unabhängigen Polen. Heute ist nur noch der westliche Teil Galiziens polnisch. Morgensterns Heimat, das frühere Ostgalizien, fiel nach dem Zweiten Weltkrieg an die UdSSR und gehört heute zur Ukraine. Die im Anhang befindlichen Karten 1 und 2 zeigen die Situation im südöstlichen Europa um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert und die Lage der heutigen Ukraine. Sie sollen dem Leser das Gebiet, in dem Morgenstern seine Kindheit und Jugend verbracht hat, anschaulich machen.21

Morgensterns Vater, ein streng gläubiger und gelehrter Chassid, ließ seine Kinder nach den Lehren der jüdisch-orthodoxen Tradition erziehen. Ab seinem dritten Lebensjahr wurde Salomo durch einen jüdischen Hauslehrer unterrichtet, danach im Cheder.22 Der junge Salomo wuchs mehrsprachig auf. In der Familie wurde Jiddisch gesprochen. Die vorherrschenden Umgangssprachen in Ostgalizien waren Polnisch und Ukrainisch. Da Salomo von einer ukrainischen Amme großgezogen wurde, war die erste Sprache, die der Knabe sprechen lernte, Ukrainisch, so daß er zeit seines Lebens einen leichten ukrainischen Akzent behielt, gleich welche Sprache er auch erlernte. In seinen Kindheitserinnerungen, die 1995 unter dem Titel In einer anderen Zeit erschienen, beschreibt Morgenstern die Vorteile und Nachteile, die ihm diese Erziehung bereitete: »Ich habe früher vom Nachteil und vom Vorteil dieses Familienzuwachses gesprochen. Der Nachteil war, daß die erste Sprache, die ich gelernt habe, nicht meine Muttersprache, sondern die Sprache meiner Amme war, nämlich Ukrainisch. Mit dem Erfolg, daß ich sämtliche Sprachen, die ich später gelernt habe – und es sind nicht wenige –, mit einem ukrainischen Akzent sprach. Jiddisch lernte ich schon als zweite Sprache teils von meiner Mutter, teils von meiner Schwester, die die Älteste in der Familie war, um zehn Jahre älter als ich.«23 Da der Vater eine besondere Vorliebe für die deutsche Sprache hegte, ließ er seine fünf Kinder bereits vor der Schulzeit im Hausunterricht auch in Deutsch unterweisen. Daneben lernte Salomo bereits ab seinem dritten Lebensjahr die Bibelsprache Althebräisch, ein obligatorischer Bestandteil einer jeden jüdischen Erziehung. Später sollten noch Griechisch, Latein, Französisch und Englisch hinzukommen.

Gegen den erbitterten Widerstand des Vaters, der den Richtlinien der jüdisch-orthodoxen Erziehung folgend den Besuch einer weltlichen Schule ablehnte, setzte Morgenstern seinen innigsten Wunsch durch und besuchte von 1904 bis 1912 das Gymnasium in Tarnopol. Der Vater hatte sein Einverständnis zum säkularen Bildungsweg des Sohnes allerdings nur unter der Bedingung gegeben, daß dieser auch weiterhin vor der Schule am morgendlichen Gebet in einem Bethaus teilnehme und nach Abschluß des Gymnasiums Jura studieren und Richter werden würde.

Im Jahr 1908 starb Abraham Morgenstern an den Folgen eines Schlaganfalls. Der frühe und unerwartete Tod des Vaters, dem Morgenstern besondere Liebe und Verehrung entgegengebracht hatte, traf den achtzehnjährigen Salomo schwer. Zudem befand sich der junge Gymnasiast zu jener Zeit in einer Phase der Orientierungslosigkeit. Die Lektüre von Ludwig Büchners Buch Kraft und Stoff hatte ihn in eine tiefe Glaubenskrise gestürzt, ihm »zeitweise seinen Glauben genommen.«24 Die Bekanntschaft mit dem Atheismus ließ ihn an seinem Glauben zweifeln. Er vernachlässigte die morgendlichen und abendlichen Gebete. Auf der anderen Seite wirkte in ihm immer noch die tiefreligiöse Atmosphäre seines Elternhauses nach. Morgenstern selbst bezeichnet die Wirkung, die die Lektüre dieses Buches auf ihn ausübte, als »traumatisch«.25 Der Tod des Vaters verschärfte den Gewissenskonflikt des jungen Gymnasiasten noch zusätzlich. Als gläubiger Jude hätte er nach dem Vater Kaddisch, das jüdische Totengebet, sagen müssen. Da er sich selbst nicht mehr als Gläubiger empfand, wäre das Beten dem Aufsagen einer leeren Formel gleichgekommen. So suchte er in den ersten Jahren einen Mittelweg zwischen dem Atheismus und der Achtung gegenüber dem toten Vater. Erst im dritten Jahr nach dem Tode des Vaters fand er zu seinem Glauben zurück und war in der Lage, »in aller Inbrunst meiner Sohnesliebe« Kaddisch zu sagen.26

Morgensterns Verhältnis zu seinem Glauben blieb dennoch zeit seines Lebens zwiespältig. Obwohl nach jüdisch-orthodoxen Grundsätzen erzogen und in einem strenggläubigen Haushalt aufgewachsen, lebte Morgenstern als Erwachsener in Wien und später in New York assimiliert. Sein Sohn Dan schildert die Religiosität des Vaters folgendermaßen: »Mein Vater hatte eine sehr starke jüdische Identität […]. So sehr mein Vater sich auch mit dem Judentum identifizierte, hielt er sich nicht an die Rituale. […] Mein Vater wurde als Chassid erzogen, später lebte er assimiliert. Aber er blieb immer sehr an der Religion interessiert.«27 Auch Morgensterns Freund Al Hirschfeld bestätigt diesen Eindruck: »In gewisser Weise war er sehr religiös. Ich glaube, er ging nicht in die Synagoge, weil er nicht an organisierte Religion glaubte, aber er war ein bewußter Jude.«28 Morgenstern selbst äußert sich in seinem ›Amerikanischen Tagebuch‹ aus dem Jahr 1949 zu seinem Verhältnis zu Religion und Glauben: »Weil ich den ungeheuren Betrug, der mit ›Glauben‹ und ›Religion‹ getrieben wird –, immer getrieben wurde und immer getrieben werden wird – durchaus verabscheue, ja ich könnte sogar sagen: hasse. Dieser Abscheu ist so stark, daß ich, ein Gläubiger durch und durch, auch das Wort: Religion verabscheue. Gottseidank: in der Sprache der Hebräer gibt es dieses Wort gar nicht. Bei uns heißt es: Emunah = Glauben.«29 Dennoch tun sich Widersprüche auf zwischen Morgensterns tief religiösem Schreiben in einigen seiner Werke – immerhin wurden einige Passagen aus seinem Roman Die Blutsäule in ein jüdisches Gebetbuch für die Hohen Feiertage aufgenommen und zum festen Bestandteil der jüdischen Liturgie am Jom Kippur30 – und seiner assimilierten Lebensweise. Diese Widersprüchlichkeit zwischen Leben und Schreiben ist im Rahmen dieser Arbeit zweitrangig, da Morgensterns Verhältnis zu seinem Judentum in seinen ›autobiographischen Schriften‹ von sekundärer Bedeutung ist. Es wäre jedoch im Rahmen einer eigenständigen wissenschaftlichen Untersuchung und vor allem in bezug auf die Roman-Trilogie Funken im Abgrund und den Roman Die Blutsäule, in denen der jüdische Glaube eine zentrale Rolle spielt, von Interesse, diesem Widerspruch nachzugehen.

Nach Beendigung des Gymnasiums ging Morgenstern im Herbst 1912 nach Wien und nahm dort, dem Wunsch des Vaters folgend, sein Jurastudium auf. In Wien begegnete er Joseph Roth wieder, den er bereits im Jahr 1909 in Lemberg auf einer Konferenz der zionistischen Mittelschüler Galiziens kennengelernt hatte. Es entwickelte sich eine enge Freundschaft zwischen Morgenstern und dem vier Jahre jüngeren Roth. Die beiden in Wesen und Charakter so unterschiedlichen Männer verband zum einen ihr großes Interesse an Literatur, zum anderen aber auch die Liebe zu ihrer ostgalizischen Heimat. Roth stammte aus Brody, das etwa 50 km nordöstlich von Lemberg und 60 km nordwestlich von Tarnopol, nahe der damaligen österreichisch-russischen Grenze liegt.31 Beider Freundschaft sollte drei Jahrzehnte, bis zu Joseph Roths Tod im Jahr 1939, dauern.

Im Jahr 1913 wechselte Morgenstern aus unbekannten Gründen die Universität. Er ging nach Lemberg und absolvierte dort das Wintersemester 1913/14 und das Sommersemester 1914. Die politischen Ereignisse vom 28. Juni 1914 zwangen ihn zur Unterbrechung des Studiums. Überstürzt flüchtete er im August 1914 mit seiner Mutter und einer der beiden Schwestern vor den anrükkenden russischen Truppen aus der ostgalizischen Heimat und kehrte nach Wien zurück. Dort sah er sich mit einem Male mit der Situation konfrontiert, zu den Tausenden meist jüdischen Kriegsflüchtlingen aus den östlichen Grenzländern des Kaiserreiches zu gehören, mittel- und heimatlos: die erste Exilerfahrung.

In Wien schrieb sich Morgenstern erneut an der Juristischen Fakultät ein, konnte das Wintersemester 1914/15 jedoch nicht abschließen. Im Dezember 1914 wurde er zum Kriegsdienst in der österreichischen Infanterie berufen. Sein Regiment, das Tarnopoler Hausregiment I.R. No. 15, war im steiermärkischen Wildon stationiert. Ab August 1915 war das Regiment an der Ostfront im Einsatz. Er überstand den Kriegsdienst in Ungarn und Serbien unversehrt und kehrte im Januar 1918 nach Wien zurück. Drei Jahre später, im Mai 1921, schloß Morgenstern sein Studium mit der Promotion zum doctor juris ab. Von diesem Titel sollte er allerdings keinen Gebrauch machen, hatte er doch niemals ernstlich erwogen, den Beruf des Juristen praktisch auszuüben. Vielmehr hatte er die Studienjahre in Wien dazu genutzt, seinen wahren Interessen nachzugehen. Neben den obligatorischen Juravorlesungen hatte er bereits in den ersten Studiensemestern auch Vorlesungen in Literaturgeschichte und Philosophie besucht. So heißt es in Joseph Roths Flucht und Ende: »Zum Beginn des Wintersemesters 1913 trafen wir uns [Morgenstern und Joseph Roth] bei den Vorlesungen über griechische Philosophie von Professor Heinrich Gomperz, dem berühmten Verfasser des Werks: Griechische Denker.«32

Der Herausgeber Ingolf Schulte merkt zu dieser Schilderung Morgensterns an: »Im Typoskript steht: Leopold Gomperz. Morgenstern dürfte aber wohl den berühmten Gräzisten und Philosophen Theodor Gomperz, von dem das genannte Werk stammt, im Sinn gehabt haben. Der jedoch war bereits Ende August 1912 gestorben. Roth kam erst im Herbst 1913 nach Wien. So war es wohl Theodor Gomperz’ Sohn, der Philosoph Heinrich Gomperz (1873–1942); er lehrte seit 1904 als Privatdozent an der Wiener Universität und hatte im selben Jahr begonnen, sein dreibändiges Werk Die Lebensauffassung der griechischen Philosophen zu veröffentlichen. Bei ihm hatte Morgenstern schon in seinem ersten Semester, im Winter 1912/13, philosophische Prolektionen zur Ästhetik belegt, wie seine erste ›Nationale‹ (Stammrolle) für ordentliche Hörer der juristischen Fakultät aufweist.«33 Das starke Interesse an den geisteswissenschaftlichen Fächern war bei Morgenstern offensichtlich bereits sehr früh ausgeprägt und das Jurastudium von Anfang an ein eher halbherziges Unterfangen, um dem Wunsch des Vaters zu entsprechen.

Nach Beendigung des Studiums änderte Morgenstern seinen Vornamen in ›Soma‹. Welche Beweggründe ihn dazu veranlaßt haben, den ursprünglichen Namen Salomo abzulegen, ist nicht überliefert. Morgenstern hat sich in seinen Texten nie dazu geäußert. Da er sich zu diesem Zeitpunkt endgültig dazu entschlossen hatte, eine literarische Laufbahn einzuschlagen, liegt die Vermutung nahe, daß er in der zunehmend antisemitischen Atmosphäre Mitteleuropas Repressalien infolge des jüdischen Vornamens Salomo befürchtet hatte, die ihm den Einstieg in die Literaturbranche erschwert hätten. Dieser Schritt, das Ablegen des jüdischen Vornamens, ist zudem Ausdruck jener assimilierten Lebensweise, die Morgenstern im Wien der zwanziger und dreißiger Jahre und auch später in New York pflegte.

Morgenstern verdiente sich seinen Lebensunterhalt zunächst als Lehrer für schwerbehinderte Kinder.34 Er lebte zu jener Zeit »das Leben eines gemäßigten Bohémiens«, wie er es selbst in den Erinnerungen an Alban Berg nennt.35 Den fünf Jahre älteren Komponisten und Schönberg-Schüler Alban Berg lernte Morgenstern in eben jenen Jahren des Wiener Bohème-Lebens, im Herbst 1920, kennen. Es entwickelte sich eine enge Freundschaft, die 1935 durch Bergs frühen und unerwarteten Tod ein abruptes Ende fand.

Morgenstern verkehrte in diesen Jahren in den zahlreichen Kaffeehäusern, die im Wien der Nachkriegsjahre Treffpunkt vieler namhafter Literaten, Musiker und Maler waren, und nahm rege an deren intellektuellen Auseinandersetzungen teil. Durch die Freundschaft mit Alban Berg hatte er zudem im Jahr 1923 die Bekanntschaft mit Alma Mahler gemacht, der Witwe des Komponisten Gustav Mahler und geschiedenen Ehefrau des Architekten und Bauhaus-Begründers Walter Gropius. Alma Mahler pflegte freundschaftlichen Kontakt zu prominenten Größen aus Musik, Literatur, Architektur und bildender Kunst. Ihr Salon in der Elisabethstraße war Treffpunkt zahlloser Künstler und Intellektueller der Wiener Zwischenkriegsjahre. Zu dem Zeitpunkt, als Morgenstern Alma Mahler kennenlernte, war sie mit dem Schriftsteller Franz Werfel liiert, mit dem sie im Jahr 1929 ihre dritte Ehe eingehen sollte. Auch Morgenstern verkehrte in Alma Mahlers Salon und blieb ihr bis zu ihrem Tod im Jahr 1964 in enger Freundschaft verbunden.

Nach ersten literarischen Versuchen mit der Übersetzung von Stanislav Wyspiańskis Drama Sȩdziowie – Die Richter aus dem Polnischen ins Deutsche versuchte sich Morgenstern schließlich als Bühnenautor. Er verfaßte zwei Theaterstücke, für die sich allerdings keine Bühne fand und die beide unveröffentlicht blieben. Die Liebe zum Theater war bei Morgenstern bereits sehr früh geweckt worden. In den Kindheitserinnerungen beschreibt er den fahrenden Händler Jukel, der den Kindern im Dorf chassidische Geschichten vorlas. »Er [Jukel] war der erste Schauspieler, den ich als Kind erlebt habe. Er erzählte keine Geschichte. Er spielte Szenen. […] Kurzum, Jukel war, er allein, ein Volkskabarett. Ihm danke ich die erste Verführung zum Zauber des Theaters, namentlich meine Leidenschaft für die Kunst des Schauspielers.«36 Diese Leidenschaft verstärkte sich noch in den Jahren, da Morgenstern als Gymnasiast in Tarnopol lebte, wo er zunächst vorwiegend Gastspiele des jiddischen Theaters aus Lemberg besuchte. Später, »mit wachsender Leidenschaft für die Bühne«37, wie er es in den Erinnerungen bezeichnet, sah er auch Stücke polnischer und ukrainischer Wandertruppen. In seinen Erinnerungen widmet er allein vier Kapitel den Theatererlebnissen seiner Jugend, ein Zeichen dafür, wie nachhaltig ihn diese beeindruckt und geprägt haben. Resümierend heißt es dort: »Alle diese Theatererlebnisse meiner Jugendzeit habe ich in dankbarer Erinnerung. Sogar die, die ich in späteren Jahren im Wachsen der Erfahrungen und Reifen des Geschmacks als ›Schmieren‹ belächeln mußte, möchte ich nicht vermißt haben. Es waren meine Theaterlehrjahre.«38

Angesichts dieses früh geweckten Interesses für die Bühne verwundert es nicht, daß es sich bei Morgensterns literarischen Erstlingen um Dramen handelt. Sein erstes Stück, das ›Spiel in 4 Akten‹ ER oder ER, entstand in den Jahren 1921/22. Das Stück spielt vorwiegend in der Traumwelt der weiblichen Hauptfigur Elva Blinde, einer kunstliebenden Frau, wie das Personenverzeichnis Aufschluß gibt. Die von ihrem Leben an der Seite ihres Mannes, des Psychoanalytikers Dr. Richard Blinde, gelangweilte Elva träumt sich während ihrer Nachmittagsruhe in eine opernhafte Welt hinein. Dort erscheinen ihr die vom Tod für kurze Zeit auferstandenen Gestalten der Kunstfiguren Don Juan Tenorio, bekannt aus Tirso de Molinas Schauspiel Der Wüstling und Wolfgang Amadeus Mozarts Oper Don Giovanni, und der historische Giacomo Girolamo Casanova, Chevalier de Seingalt. Im Traum wetteifern die legendären Frauenhelden um die Gunst der Schlafenden: der kalt berechnende Don Juan, ein »Feldwebel der Liebe«, wie Casanova ihn im Stück abschätzig bezeichnet39, »liebesleer, doch voller Gier«, für den nur der schnelle Erfolg zählt, um die Liste der von ihm verführten Frauen um eine weitere Trophäe erweitern zu können, und der stolz von sich behauptet, keine der unzähligen Frauen je geliebt zu haben – »ich habe immer mit kalter Nadel gearbeitet«40 – und der heißblütige Casanova, »Ritter der Sehnsucht«, von nie gestillter Sehnsucht getrieben und jede einzelne seiner zahllosen Frauen inbrünstig liebend. Sie stellen Elva vor die Wahl: ER oder ER. Diese entscheidet sich für die moderne Form der Liebe: Er UND Er – denn als praktisch denkende Frau weiß sie: »Lieber zwei als keiner.«41

In der Gestalt des Ehegatten, des Psychoanalytikers Dr. Blinde, der Elvas Traum sofort fachmännisch als »erotische Traumarbeit« deutet, flicht Morgenstern einen parodistischen Seitenhieb auf die Psychoanalyse Sigmund Freuds ein, die zu jener Zeit immer größere Bekanntheit erlangte. Morgenstern stand Freud und dessen Lehre nicht so bedingungslos ablehnend gegenüber wie sein Freund Joseph Roth. Aus seinen Lebenserinnerungen geht allerdings auch hervor, daß er kein großer Verfechter oder gar Anhänger dieser neuen Wissenschaft war.

Morgensterns zweiter Bühnentext, das dreiaktige Drama Im Dunstkreis, spielt in den Wiener Künstlerkreisen zwischen den Weltkriegen. Nach eigenen Angaben hatte Morgenstern das Stück im Jahr 1924 beendet.42 In den Erinnerungen an Alban Berg findet sich auch der Hinweis, daß er sein zweites Stück ursprünglich Im Kunstkreis hatte nennen wollen. Den endgültigen Titel erhielt es erst später. Alban Berg war im übrigen so angetan von dem neuen Drama des Freundes, daß er es sogleich vertonen wollte. Dazu ist es jedoch nie gekommen, da Morgenstern mit dem Stück noch nicht vollends zufrieden war, so daß er dem Freund diese Idee ausredete. Zudem befürchtete er, als Librettist abgestempelt zu werden und infolge dessen nur noch als solcher arbeiten zu können.

Der ›Dunstkreis‹, den Morgenstern in seinem Drama beschreibt, ist das Milieu, in dem er sich zu jener Zeit selbst bewegte. Er läßt den ersten Akt des Stücks in einem Wiener Kaffeehaus spielen, einem »Künstlercafé«, so Morgensterns Regieanweisung. Mit scharfem, sarkastischem Blick zeichnet er die künstlerische Gesellschaft seiner Umgebung nach – mit all ihren moralischen und geistigen Abgründen. Der ›Glossentisch‹ repräsentiert die oberflächliche und klatschsüchtige Wiener Kaffeehausgesellschaft. Auch auf seine eigene Zunft, die der Feuilletonisten und Kritiker, wirft er einen äußerst kritischen Blick. Nicht von ungefähr heißt der im Stück vorkommende Literatur- und Theaterkritiker Willy Besser, der zudem noch die Meinung vertritt: »Ein richtiger Kritiker muß sich vor Objektivität hüten.«43 Womöglich schlägt sich bereits hier jene Unzufriedenheit mit der eigenen Tätigkeit als Journalist nieder, die wenige Jahre später zur endgültigen Abkehr von diesem Metier führen sollte. Die bitterböse Satire auf das Milieu, in dem Morgenstern sich selbst bewegte, endet tragisch mit dem Selbstmord des jungen Schriftstellers Hans Einhold, der zum Opfer der ehrgeizigen und karrieresüchtigen Bestrebungen seines älteren Liebhabers und Mentors, des bereits etablierten Schriftstellers Franz Gavor, wird. »In diesem Drama handelt es sich hauptsächlich um die Beziehung zwischen Meister und Schüler, die ein fatales Ende für den Schüler nimmt«, formuliert Morgenstern in Alban Berg und seine Idole den Plot des Dramas.44 Auch die immer stärker werdende antisemitische Stimmung dieser Zeit greift Morgenstern in seinem Stück auf. Nicht Franz Gavor wird für Einholds Tod zur Rechenschaft gezogen, sondern der Außenseiter der Gesellschaft, der Jude Gad Jahir, der nach einem der zwölf Stämme Israels benannt wurde.

Im Herbst 1926 folgte Morgenstern Joseph Roth nach Berlin, der bereits im Jahr 1920 in die Theater- und Zeitungsstadt übergesiedelt war. Morgenstern hoffte, hier bessere Möglichkeiten vorzufinden, um sich seinen Lebensunterhalt als freier Literatur- und Theaterkritiker zu verdienen. Er war zunächst als Buchkritiker für die Zeitschrift Die Literatur und für die Vossische Zeitung tätig. 1927 bekam er eine Stelle in der Kulturredaktion der renommierten Frankfurter Zeitung, für die Joseph Roth bereits seit 1923 als Feuilletonist beschäftigt war. Morgenstern siedelte zunächst nach Frankfurt über, bevor er Mitte 1928 als Kulturkorrespondent der Frankfurter Zeitung nach Wien zurückkehrte. Dort erhielt er endlich die österreichische Staatsbürgerschaft, die ihm vor seinem Berlin-Aufenthalt noch verwehrt worden war. Wie Joseph Roth lebte Morgenstern in den Jahren 1919/1920 in Wien im VIII. Bezirk. Die christlichsoziale Mehrheit in diesem Bezirk hatte beider Option auf das neue Österreich zurückgewiesen, so daß sie als Kriegsflüchtlinge bis zu diesem Zeitpunkt noch im Besitz polnischer Pässe waren.

Im September 1928 heiratete Morgenstern Ingeborg von Klenau, die Tochter des dänischen Dirigenten und Komponisten Paul von Klenau und Nichte Heinrich Simons, des Herausgebers der Frankfurter Zeitung. Beide hatten sich im Jahr 1924 im Hause Alban Bergs kennengelernt. »Mit meinem zukünftigen Schwiegervater habe ich gleich bei dieser ersten Begegnung eine scharfe Debatte über Literatur geführt – ich glaube, über Oscar Wilde. Papa Klenau war damals schon von seiner ersten Frau geschieden, und zum Beginn unserer Bekanntschaft hat er ein Jahr lang es gern gesehen, daß ich mit seiner ältesten Tochter in Verbindung blieb.«45 Knapp ein Jahr später, im Oktober 1929, kam beider Sohn Dan Michael zur Welt. Es sollte Morgensterns einziges Kind bleiben.

In Wien pflegten die Morgensterns einen ausgedehnten Freundeskreis, der sich in erster Linie aus den namhaften Wiener Künstlerkreisen der zwanziger Jahre rekrutierte. Zu Morgensterns engsten Freunden dieser Jahre gehörten neben Alban Berg und Joseph Roth die Komponisten Karol Rathaus, Eduard Steuermann und Hanns Eisler, der Rezitator Ludwig Hardt sowie der Schriftsteller Robert Musil. Daneben war er mit dem Schönberg-Schüler Anton Webern, den Dirigenten Otto Klemperer und Jascha Horenstein, dem Wiener Architekten Josef Frank und dem aus Melník bei Prag stammenden Journalisten Karl Tschuppik bekannt. Zudem verkehrten die Morgensterns häufig bei Anna Mahler, der Tochter Gustav Mahlers, deren Wohnatelier ebenfalls ein Treffpunkt für zahlreiche Wiener Künstler war.

Auch wenn dies nur ein kurzer Einblick in den Freundes- und Bekanntenkreis ist, den Morgenstern während seiner Wiener Jahre pflegte, so ist er dennoch repräsentativ und ein Zeichen für Morgensterns reges Interesse am kulturellen Leben seiner Zeit. Er zeigt zudem, daß sich der Freundeskreis aus den unterschiedlichsten, zumeist künstlerischen Kreisen zusammensetzte. Auf der Liste der eben genannten Namen, die keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, finden sich neben Journalisten und Schriftstellern auch Komponisten, Dirigenten und bildende Künstler. Dementsprechend breitgefächert war auch Morgensterns Einblick in die künstlerischen und intellektuellen Strömungen seiner Zeit.

Anfang der dreißiger Jahre ließ Morgensterns journalistisches Interesse zunehmend nach. In Joseph Roths Flucht und Ende beschreibt er den Sinneswandel jener Zeit folgendermaßen: »Drei Jahre später hatte ich so genug davon [von seiner Tätigkeit als Theaterkritiker in Wien], daß ich eines Tages beschlossen habe: Ich habe es satt, über etwas zu schreiben. Wenn ich nichts andres kann, wenn ich nicht etwas schreiben kann, werde ich mich auf meine Juristerei gutbürgerlich zurückziehen.«46 So weit kam es allerdings nicht

Seitdem Morgenstern dem Weltkongreß der Vereinigung orthodoxer Juden, ›Agudas Yisroël‹, im September 1929 als Beobachter im Auftrag der Frankfurter Zeitung beigewohnt hatte, trug er sich mit dem Gedanken, das Erlebnis dieses Kongresses in einem Roman zu verarbeiten. Im Jahr 1930 machte er sich an die Umsetzung dieses Vorhabens. Er begann mit der Arbeit an seinem ersten Roman, den er bereits jetzt als Auftakt einer Trilogie konzipierte. Nachdem Morgenstern durch den sogenannten Arierparagraphen des NS-Schriftleitergesetzes vom 4. Oktober 1933, der Juden von Presseberufen ausschloß, seinen Posten bei der Frankfurter Zeitung verloren hatte, beschloß er, sich gänzlich der Schriftstellerei zu widmen. Die Arbeit an seinem ersten Roman wurde jedoch durch die bürgerkriegsähnlichen Unruhen im Februar 1934 unterbrochen, bei denen sämtliche Organisationen der Sozialdemokratie und der freien Gewerkschaften in Österreich durch die autoritäre Regierung Dollfuß ausgeschaltet wurden. Morgenstern beschloß, seinem Freund Joseph Roth ins Exil nach Paris zu folgen: die zweite Exilerfahrung.

Die Angst vor einer Verhaftung war nicht unbegründet. In der Frankfurter Zeitung waren im Vorfeld der Unruhen einige Angriffe Morgensterns gegen die Vorbereitungen des Februarputsches veröffentlicht worden, die ihn ins Visier der Nationalsozialisten gerückt hatten. Vornehmlich sein Artikel ›Worte fallen in den Herbst der Wahlen‹, der am 25. Oktober 1930 in der Frankfurter Zeitung erschienen war, erregte ihre Aufmerksamkeit und trug ihm ›die Ehre‹ ein, »auf die Schwarze Liste der Nazis zu kommen«, wie er in den Erinnerungen an Joseph Roth schreibt.47 Morgenstern beschreibt in diesem Feuilleton unter dem Motto ›Nationalsozialisten werden betrachtet‹ zwei junge Nazis, die auf dem Wiener Ring zu Propagandazwecken flanieren: »Dem hübschen, noch jüngeren Jungen saß das Braunhemd wie eine Haut am Leibe. (Gibt es Braunhemden nach Maß?) Das große Hakenkreuz blühte ihm wie die Blume einer exotischen Krankheit am Arm. Als sei er für die Politik schwer geimpft worden, ein Pockenträger des Hitlerheils. […] Ein Dunst knabenhaft rührender Eitelkeit spiegelte er sich in seiner unformierten Gefälligkeit, ein kleiner Narziß von einem Nazi: ein lieblicher Nazi!«49


Abb. 2: Soma Morgenstern, Zeichnung von Bil Spira 1939 48

Morgenstern erfuhr durch seinen Freund Karol Rathaus, daß sein Name auf die Schwarze Liste gesetzt worden war. Er nahm die Nachricht nicht allzu ernst. Daß er nur durch einen glücklichen Zufall den Fängen der Gestapo entgangen war, sollte er erst im Jahr 1940 in Marseille erfahren: »Eines Tages, im Jahre 1940, wurde ich zur Polizeipräfektur vorgeladen, und der Beamte tat so, als ob er sich um mein Schicksal kümmerte und mein Dossier studierte. Plötzlich und ohne mich anzublicken, so nebenbei, stellte er mir die Frage: ›Monsieur Morgenstern, vous conaissez par hasard une Madame Sonia Morgenstern?‹«50 Die Gestapo hatte Morgenstern fälschlicherweise als Frau Sonia Morgenstern in ihre Liste eingetragen. Ein Irrtum, der ihm das Leben gerettet hat.

Im Pariser Exil vollendete er noch im gleichen Jahr seinen ersten Roman Der Sohn des verlorenen Sohnes, der den Auftakt zu der Trilogie Funken im Abgrund bildete. Die Vollendung dieser Trilogie wurde jedoch durch die auf Europa einstürzenden politischen Ereignisse immer weiter hinausgezögert, so daß Morgenstern den dritten und letzten Teil erst Anfang der vierziger Jahre in Hollywood fertigstellen konnte. Im Mai 1934 hatte sich die politische Lage in Österreich unter dem neuen Regime soweit stabilisiert, daß Morgenstern an eine Rückkehr nach Wien denken konnte. Ihm schien keine direkte Gefahr mehr zu drohen. Zudem konnte er auf einflußreiche Freunde vertrauen, die ihn zunächst vor dem Zugriff der Heimwehrführer schützen konnten. Morgenstern zog es zurück an seinen Schreibtisch, der, wie er in Joseph Roths Flucht und Ende schreibt, »in meinem bisherigen Leben der einzige Schreibtisch [war], vor dem ich gerne saß. Es zog mich zu ihm hin mit einer Kraft, als hätte ich schon eine Ahnung, daß dieser Schreibtisch auch der letzte sein wird, von dem ich das behaupten kann.«51

Morgensterns Freude über seinen ersten Erfolg als Schriftsteller währte nicht lange. Im Dezember 1935, kurz nach dem Erscheinen des Romans, starb unerwartet sein engster Freund Alban Berg. Hinzu kam noch, daß sich seine wirtschaftliche Lage nach dem Stellenverlust bei der Frankfurter Zeitung zunehmend schwieriger gestaltete. Am 13. März 1938, am Tage des sogenannten Anschlusses Österreichs an Nazideutschland, flüchtete Morgenstern ein weiteres Mal nach Paris.

Dieses zweite Pariser Exil sollte endgültig sein. Morgenstern kehrte nicht mehr nach Österreich zurück. Der zweite Teil seiner Trilogie, der Roman Idyll im Exil, war zu diesem Zeitpunkt bereits im Manuskript fertiggestellt. Seine Frau Ingeborg und den achtjährigen Dan mußte Morgenstern in Wien zurücklassen. Dan litt an Scharlach und war nicht in der Lage, die Reise nach Paris anzutreten. Wenig später konnten Mutter und Sohn nach Dänemark flüchten. Als Tochter des dänischen Komponisten Paul von Klenau besaß Ingeborg Morgenstern auch die dänische Staatsbürgerschaft. Das erleichterte die Ausreise.

In Paris lebte Morgenstern gemeinsam mit Joseph Roth im Hôtel de la Poste. Joseph Roths angestammter Tisch im dem Hotel zugehörigen Café Tournon entwickelte sich zum Treffpunkt der österreichischen Emigranten. Morgenstern schildert diese Zeit ausführlich in seinen Erinnerungen an Joseph Roth, die im Jahr 1994 als erster Band der Werkausgabe unter dem Titel Joseph Roths Flucht und Ende erschienen sind. An Roths Tisch im Café Tournon dürfte Morgenstern auch die Arbeit an dem dritten Teil seiner Trilogie, Das Vermächtnis des verlorenen Sohnes, begonnen haben. Beide Manuskripte – sowohl das des zweiten Bandes Idyll im Exil wie auch das des dritten – mußte Morgenstern in seinem Zimmer im Hôtel de Poste zurücklassen, als er im Mai 1940 von der französischen Polizei verhaftet wurde. Sie fielen wie auch alle weiteren Aufzeichnungen, Briefe und persönlichen Papiere Morgensterns in die Hände der Pariser Geheimpolizei.

Im Mai 1939 starb Joseph Roth. Morgenstern, der sich seit längerem vergeblich darum bemüht hatte, die nötigen Papiere für eine Emigration in die USA von den Pariser Ämtern zu bekommen, versuchte, eine Ausreise nach Palästina zu forcieren. Dieses Vorhaben wurde durch den Kriegsbeginn im September 1939 zunichte gemacht. Als ›feindlicher‹ Ausländer kam Morgenstern in französische Internierungshaft. Nachdem er kurzzeitig wieder auf freiem Fuß gewesen war, wurde er beim Beginn der deutschen Invasion im Mai 1940 abermals verhaftet und in das Internierungslager von Audièrne in der Nähe der bretonischen Hafenstadt Quimper deportiert. Von dort gelang ihm im darauffolgenden Monat, als das Lager bereits von deutschen Truppen besetzt war, die Flucht. Gemeinsam mit einem Lagergenossen konnte er sich bis nach Marseille durchschlagen, das in der unbesetzten Zone lag. Diese Erlebnisse hat er im ›Romanbericht‹ Flucht in Frankreich verarbeitet.52

Nach siebenmonatigem Aufenthalt im unbesetzten Marseille, wo er die verlorenen Teile seines Romans Das Vermächtnis des verlorenen Sohnes zu rekonstruieren versuchte, konnte er sich nach Casablanca durchschlagen und gelangte schließlich nach Lissabon. Dort schiffte er sich auf einem Überseedampfer nach New York ein. Am 1. April 1941 verließ das Schiff Lissabon. Erst neun Jahre später, im Sommer 1950, sollte Morgenstern wieder einen Fuß auf europäischen Boden setzen. Mitte April des Jahres 1941 erreichte Soma Morgenstern New York – ein fünfzigjähriger, exilierter Schriftsteller ohne nennenswerte Reputation, nahezu mittellos und von der Familie getrennt.

In New York angekommen mietete sich Morgenstern im Hotel Park Plaza an der Upper West Side in der Nähe des Central Park ein. Dieses Hotel war offenbar eine Anlaufstelle für viele österreichische Emigranten, so hatten dort auch Walter Mehring, Hermann Kesten, Leonhard Frank und Hertha Pauli eine Unterkunft gefunden. Letztere war auf demselben Weg wie Morgenstern am 12. September 1940 nach New York gekommen. In ihrer Autobiographie Der Riß der Zeit geht durch mein Herz beschreibt sie die Situation im Hotel Park Plaza folgendermaßen: »Kesten quartierte uns in einem Hotel ein, wo er selbst mit seiner Frau Toni wohnte. Es liegt gegenüber dem Naturhistorischen Museum, mit einem freundlichen Blick auf den Central Park West. Damals schien mir das Hotel als ein Feenschloß, heute ist es ganz heruntergekommen. Kesten erzählte, daß Theodore Dreiser hier logiert hat. Adrienne Thomas sei auch da. Später sollten [Walter] Mehring und [Bruno] Frank noch hinzukommen, auf ihrem Weg nach Hollywood. Mit neun meiner zehn Dollar zahlte ich die Rechnung für die erste Woche. Dann begann das Hungern. […] Neben unserem Hotel befand sich ein kleines griechisches Restaurant, in dessen Fenster die Tageskarte hing. Es gab ein Dinner, drei volle Gänge, für 50 Cent. […] für mich in New York waren 50 Cent ein Luxus, den ich mir nicht leisten konnte. Ich pflegte die drei Gänge deshalb mit meinen Blicken durch das Glas zu verschlingen und holte mir dann in der Bäckerei für einen Nickel, d.h. fünf Cent, zwei Krapfen.«53

Morgenstern befand sich in den ersten Monaten in New York in einer ähnlichen Situation. Auch er erwähnt in seinen Erinnerungen das griechische Café in der Nähe des Hotel Park Plaza. So heißt es in den Kindheitserinnerungen In einer anderen Zeit: »Ich zog mich schnell an und ging hinunter in das griechische Lokal in meiner nächsten Nachbarschaft, das sich Café Museum nennt und mich an das liebe Café Museum in Wien erinnert, obwohl es mit dem Wiener Café soviel Ähnlichkeit hat wie ein Affe mit einem Menschen.«54 Den Angaben seines Sohnes Dan zufolge war sein Vater in den Jahren seines Hotellebens ein täglicher Gast im Café Museum: »Während er im Hotel lebte, ging er in ein griechisches Restaurant um die Ecke, wo sie genau wußten, was er essen wollte. Es hieß Café Museum, was ein lustiger Zufall war.«55

Im Jahr 1946 erhielt Morgenstern die amerikanische Staatsbürgerschaft. Nun konnte er seine Frau und seinen Sohn nach New York nachholen, die sich nach der Besetzung Dänemarks durch die deutsche Wehrmacht nach Schweden hatten flüchten können. Doch die Eheleute Morgenstern hatten sich während der langen Trennung auseinandergelebt. »Meine Eltern hatten in ihrer Ehe einige Probleme«, beschreibt ihr Sohn Dan die Situation.56 Morgenstern blieb im Hotel Park Plaza wohnen. Für seine Frau und den Sohn besorgte er eine Wohnung. Erst nachdem er infolge eines Herzanfalls im Jahr 1967 nicht mehr allein im Hotel leben konnte, bezog er wieder eine gemeinsame Wohnung mit seiner Frau, die ganz in der Nähe des Hotel Park Plaza gelegen war. Morgenstern erging es ähnlich wie den meisten der vor der Naziherrschaft geflohenen Emigranten. Sein vordringlichstes Problem in den USA war zunächst ein wirtschaftliches, nämlich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Dem Journalismus hatte er in der französischen Internierung für immer abgeschworen, wie Alfred Hoelzel in seinem 1989 veröffentlichten Artikel über Morgenstern schreibt.57 Aussagen seines Sohnes Dan zufolge versuchte der Vater zunächst Arbeit zu bekommen. Er war vorübergehend für eine Filmfirma tätig und verfaßte Untertitel für fremdsprachige Filme. Diese Tätigkeit gab er jedoch nach kurzer Zeit bereits wieder auf.58 Er sollte nie wieder einer geregelten Arbeit nachgehen, sondern versuchte nach wie vor, als freier Schriftsteller Fuß zu fassen. Auf der Suche nach einem Verleger für den bereits fertiggestellten zweiten Teil seiner Roman-Trilogie gelangte Morgenstern schließlich an die ›Jewish Publication Society of America‹, die ihm für die geplante Veröffentlichung der Roman-Trilogie einen Vorschuß gewährte und auch die Übersetzung der beiden ersten Teile in die Wege leitete. Zudem übernahm der Verlag die Vorbereitungen für die Veröffentlichung des dritten noch nicht fertiggestellten Romans.

Finanzielle Unterstützung erhielt er zudem durch eine von Deutschland ausbezahlte ›Wiedergutmachungsrente‹, eine Entschädigungszahlung für seine Entlassung aus der Frankfurter Zeitung, die ihm zumindest das tägliche Überleben sicherte. Daneben waren es immer wieder die Freunde, von denen er auch monetäre Hilfe bekam. So zum Beispiel von Dr. Conrad Lester, den Morgenstern 1938 in Paris kennengelernt hatte und der inzwischen ebenfalls in die Vereinigten Staaten emigriert war. In den Jahren 1942 und 1943 lebte Morgenstern in Lesters Haus in Hollywood, wo er den Großteil des dritten und letzten Teils seiner Trilogie fertigstellen konnte.

Im Frühjahr 1943 kehrte Morgenstern nach New York zurück. Die nunmehr vollendete Roman-Trilogie erschien in den Jahren 1946 bis 1950 bei der ›Jewish Publication Society of America‹ in amerikanischer Übersetzung unter dem Gesamttitel Sparks in the Abyss.59 Eine Veröffentlichung der Gesamttrilogie in Deutschland sollte Morgenstern nicht mehr erleben. Lediglich der dritte Band wurde 1963 unter dem Titel Der verlorene Sohn bei Kiepenheuer & Witsch in Köln verlegt, allerdings in einer gekürzten und vom Verlag bearbeiteten Textversion, die dem Werk mehr schadete, als daß sie dazu beitrug, Werk und Autor in Deutschland zu größerer Bekanntheit zu verhelfen.60 Die erste Gesamtausgabe der Trilogie in deutscher Sprache erschien im Jahr 1996 unter ihrem Originaltitel Funken im Abgrund im zu Klampen Verlag als vierter, fünfter und sechster Band der Morgenstern-Werkausgabe.

Wie in seinen Wiener Jahren pflegte Morgenstern auch in New York einen ausgedehnten Freundeskreis, der sich auch hier wie seinerzeit in Wien vorwiegend aus dem Intellektuellenmilieu rekrutierte. Zu Morgensterns amerikanischem Bekannten- und Freundeskreis zählten der namhafte New Yorker Theaterkritiker und Journalist Brooks Atkinson, der New Yorker Zeichner und Karikaturist Al Hirschfeld sowie dessen aus Deutschland stammende Ehefrau, die Schauspielerin Dolly Haas, der aus Rumänien stammende, in England aufgewachsene und seit 1914 in den USA lebende Publizist, Erzähler und Übersetzer Maurice Samuel und der deutsch-amerikanische Publizist, Romancier, Übersetzer und Professor der deutschen Literatur Ludwig Lewisohn, der auch die englische Übersetzung zweier Romane Morgensterns übernahm. Zudem begegnete er in New York auch alten Freunden seiner Wiener Jahre wieder, wie zum Beispiel dem Rezitator Ludwig Hardt, zu dem er bis zu dessen frühen Tod – er starb bereits 1947 im Alter von einundsechzig Jahren – einen engen Kontakt pflegte.

Während seines Aufenthaltes im Hause Conrad Lesters in Hollywood begegnete Morgenstern auch Alma Mahler wieder, der im Jahr 1940 gemeinsam mit Franz Werfel auf ähnlich abenteuerlichem Wege wie Morgenstern die Flucht aus dem besetzten Frankreich gelungen war und deren Haus in Los Angeles sich zu einem Treffpunkt exilierter Künstler und Intellektueller entwikkelt hatte. Mit Alma Mahler, die er bereits aus seinen Wiener Jahren kannte, verband Morgenstern auch später noch in New York eine enge Bekanntschaft. 1952, wenige Jahre nach Werfels Tod, zog seine Witwe nach New York und lebte dort offenbar in unmittelbarer Nähe von Morgensterns Hotel an der Upper West Side. Einer Aussage seines Freundes Al Hirschfeld zufolge, frühstückten Morgenstern und Alma Mahler jeden Sonntag gemeinsam.61 Wie nahe Morgenstern der legendären Künstlermuse gestanden hat, zeigt der Umstand, daß er bei der Trauerfeier für Alma Mahler in Campbell’s Funeral Chapel am 20. Dezember 1964 einen Nachruf auf die Freundin verlas. Aus den Worten, die er für Alma Mahler gefunden hat, spricht große Wärme und Zuneigung für eine außergewöhnliche Frau sowie eine intime Kenntnis ihrer Persönlichkeit: »Sie komponierte nun ihr Leben. Das sollte ihr Meisterwerk werden. […] Dieses Leben hatte ihren Stil, ihren eigenen Wert, ihre Würde, ihre Großzügigkeit. […] Im Schatten stand Alma nie. Sie hatte eben ihr eigenes Licht, den Segen der Persönlichkeit. […] Von ihrem Leben ging ein so starker Glanz aus, daß sogar wir, die nahen Freunde, erstaunlich selten innewurden, daß in ihrem Leben nebst vielem Glück viel Unglück und viel Leid Platz hatte. […] Es lag aber wohl nicht an Alma selbst, wenn ihre Freunde in ihrem Leben die Schattenseiten übersehen haben. Denn wir sind alle so geartet, daß wir unsere Legenden im Licht ohne Schatten sehen wollen.«62

Die Tatsache, daß Morgenstern seine neuen Bekanntschaften und Freundschaften wieder vorwiegend in künstlerischen und intellektuellen Kreisen schloß, zeigt, wie wichtig ihm dieser Umgang und diese Art des intellektuellen Austausches gewesen sein müssen. Sie haben die Person Morgenstern wie auch sein Schreiben entscheidend geprägt. Das intellektuelle Umfeld, in dem sich Morgenstern zeit seines Lebens bewegte, sein ausgedehnter Freundes- und Bekanntenkreis, haben vor allem die ›autobiographischen Schriften‹ wesentlich beeinflußt. Die Tatsache, daß Morgenstern beabsichtigte, seinen Memoiren den Titel Ein Leben mit Freunden zu geben, unterstreicht den besonderen Stellenwert, den die Freunde in seinem Leben eingenommen haben. Es ist nicht zuletzt dieser Aspekt in Morgensterns Erinnerungen, der die Memoiren zu einem herausragenden Dokument ihrer Zeit macht.

Nach den Erlebnissen des Krieges und der Verfolgung fiel Morgenstern das Schreiben äußerst schwer. Die Nachrichten über die schrecklichen Verbrechen der Nazis, deren grauenhaftes Ausmaß erst Ende der vierziger Jahre im Zuge der Nürnberger Prozesse vollends bekannt wurde, stürzten ihn in eine tiefe seelische Krise, die sich zu einer Schaffenskrise ausweitete. Sie machte ihm das Schreiben vorübergehend unmöglich. Zudem mußte er erfahren, daß auch seine zweiundachtzigjährige Mutter sowie sein ältester Bruder Moses und seine Schwester Helena in Konzentrationslagern ums Leben gekommen waren. In der Zeit dieser Depression, da ihm das schriftstellerische Arbeiten nicht möglich war, begann Morgenstern zum ersten und auch letzten Mal in seinem Leben, Tagebuch zu führen, obwohl ein Tagebuch, wie er selbst schreibt, »nicht zu meinem Charakter nicht zu meinem Temperament nicht zu meinen Gewohnheiten« paßte.63 Das Gefühl, zusehen zu müssen, wie sein Leben dem Ende zuging, ließ ihn die Abneigung gegen das Tagebuchschreiben überwinden.

Die Jahre nach 1945 waren begleitet von Selbstmordgedanken. Er wäre nicht der erste Emigrant gewesen, der seinem Leben ein Ende bereitete, nachdem er Hitlers Regime heil entkommen war und endlich in Sicherheit und Freiheit leben konnte.64 Doch so weit kam es nicht. Das Verantwortungsgefühl für seinen noch halbwüchsigen Sohn Dan hielt Morgenstern am Leben. Wie viele Schriftsteller, die von Hitlers Regime aus ihrer Heimat vertrieben worden waren und im Exil leben mußten, so fühlte sich auch Morgenstern im fremden Land seiner Sprache und damit seines Werkzeugs, seines Mediums, beraubt. So notiert er am 18. Mai 1949 in seinem Tagebuch: »Das alles ändert nichts an der Tatsache, daß ich mich seit einigen Jahren schon – ich weiß nicht genau, wann es angefangen hat – als ein Schriftsteller ohne Sprache fühle. Ich habe mich in die Deutschen so sehr verhaßt, daß ich auch die deutsche Sprache nicht lieben kann. Und ein Schriftsteller, der seine Sprache nicht liebt, hat keine Sprache.«65 Im Nachlaß Morgensterns fand sich darüber hinaus eine Notiz, in der er seine Situation nach dem Krieg mit einem Alptraum vergleicht, in dem man versucht zu schreien und feststellen muß, daß man seine Stimme verloren hat: »Like in a nightmare, trying to cry and finding you lost your voice. Problem is to find voice again to write about horrors.« 66

Dieses Gefühl, diese im wahrsten Sinne des Wortes ›Sprachlosigkeit‹, sollte Morgenstern zeit seines Lebens nicht mehr ganz verlassen. Dennoch hielt er im Gegensatz zu manch anderem Exil-Schriftsteller an der deutschen Sprache fest und verfaßte auch weiterhin alle Manuskripte auf Deutsch. In seinem Tagebuch begründet er diesen Entschluß damit, daß er sich zu alt fühlte, um noch einmal die Sprache zu wechseln: »Jetzt ist es zu spät. Der einzige Trost, der mir übrig bleibt, ist: es war schon vor 10 Jahren zu spät. Was für eine Art hebräischer Schriftsteller wäre ich schon geworden? Eine Sprache wechseln kann man spätestens zwischen 20–30. Später ist es immer zu spät. Im Grunde halte ich nichts davon auch zwischen 20–30.«67 Interessant ist, daß Morgenstern es offensichtlich niemals in Erwägung gezogen hat, ein englischsprachiger Schriftsteller zu werden. Die einzige Alternative, die es für ihn zur deutschen Sprache gegeben zu haben scheint, war das Hebräische, so wie Israel ihm als einzig wirklich erstrebenswerter Ort erschien, an dem er seinen Lebensabend verbringen wollte. Die Verwirklichung dieses Traumes scheiterte allerdings an seiner finanziellen Situation, so daß es lediglich zu einer Reise nach Israel im Jahr 1950 gekommen ist.

In seinen Lebenserinnerungen erwähnt Morgenstern eine Anekdote, die Aufschluß darüber gibt, warum er auch in Amerika an der deutschen Sprache festgehalten hat, die ja nicht einmal seine Muttersprache war. Im zweiten Teil seiner Erinnerungen an Alban Berg schildert er eine Begegnung ›Mit Schönberg in Kalifornien‹ – so auch der Titel des entsprechenden Kapitels: »Beim ersten Besuch bei ihm zu Hause war er [Schönberg] zunächst nicht gerade herzlich. […] Auf einmal sagte er: ›Sie werden natürlich jetzt anfangen, englisch zu schreiben.‹ Ich erklärte ihm, daß ich zu alt sei, die Sprache zu wechseln. […] ›Ich schreibe alles in englisch‹, sagte er, ›Sie müssen das auch tun.‹ Ich meinte, daß ich wahrscheinlich mit der Zeit es so weit bringen würde, einen Artikel in englischer Sprache zu schreiben, aber sicherlich nie einen Roman. […] ›Wenn man einen Artikel schreiben kann, kann man auch einen Roman schreiben.‹ Ich versuchte, ihm den Unterschied klar zu machen. Ohne Erfolg. Er insistierte, und zwar nicht ohne Strenge. […] Als ich ihm sagte: ›Herr Schoenberg. Sie sind Komponist. Die Noten, die Sie schrieben, haben nicht deutsch gesprochen, und die Noten, die Sie jetzt schreiben, sprechen nicht englisch. Was Sie englisch schreiben, ist nicht Literatur und will es nicht sein.‹ Das genügte ihm noch immer nicht, obwohl er etwas nachdenklich wurde. Ich fragte ihn, wie er die vielen schönen Palmen empfinde, an denen wir in Kalifornien im Auto vorbeifahren. ›Für mich‹, sagte ich ihm, ›ist eine Palme noch lange kein Baum. Ich glaube, ich werde jahrelang hier wohnen müssen, bis ich soweit bin. Vorläufig ist für mich eine Reihe von Palmenbäumen eine sehr schöne Kulisse.‹ – ›Sie sind doch kein Maler‹, sagt er. ›Was gehen Sie die Palmen an?‹ Jetzt wurde ich etwas streng und sagte zu ihm: ›Herr Schoenberg, nehmen wir an, ich wäre kein Schriftsteller, sondern ein Pianist. Und Sie verlangen von mir, daß ich Geiger werde. Wäre das nicht zu spät verlangt?‹ Das hat er endlich eingesehen.«68

Ende der vierziger Jahre begann Morgenstern mit der Arbeit an einem neuen Roman, in dem er die schrecklichen Nachrichten, die er über den Holocaust erfahren hatte, zu verarbeiten versuchte. Das Buch sollte ein ›Aufschrei‹ sein, mit dem Morgenstern den grauenhaften Bildern von Auschwitz Ausdruck verleihen wollte, die ihn vorübergehend hatten verstummen lassen.69 Er mußte die Arbeit jedoch wieder unterbrechen, da, wie er in den Kindheitserinnerungen schreibt, die Stimme brach und er erneut verstummte.70 Erst die im Jahr 1950 unternommene Reise nach Israel und vornehmlich der Besuch des Grabes von Rabbi Isaak Luria in Safed konnten die Schreibblockade endgültig lösen.71

Nach seiner Rückkehr in New York beendete Morgenstern umgehend die Arbeit an dem vierten Roman, der im Jahr 1955 unter dem Titel The Third Pillar bei Farrar & Strauss erschien. In Deutschland wurde der Roman erstmals im Jahr 1964 unter dem Titel Die Blutsäule. Zeichen und Wunder am Sereth vom Hans Deutsch Verlag veröffentlicht. Morgenstern selbst bezeichnete dieses Werk auch als Epilog zu seiner Trilogie Funken im Abgrund. The Third Pillar sollte das letzte seiner Werke sein, dessen Veröffentlichung Morgenstern selbst noch erlebte.

Nach The Third Pillar – Die Blutsäule verfaßte er neben der Arbeit an seinen ›autobiographischen Schriften‹ nur noch ein einziges Werk, das sich nicht unmittelbar auf seine eigene Lebensgeschichte bezog. Wohl noch unter dem Eindruck einer Herzattacke, die er im Jahr 1969 erlitten hatte und nachfolgend schreibend zu verarbeiten suchte, schrieb er Ende der sechziger Jahre seinen letzten Roman, den er lapidar Der Tod ist ein Flop betitelte. Dieses Fragment gebliebene Werk steht, auch wenn dies zunächst überraschend anmutet, in der Tradition der sogenannten Inselutopie-Romane. Morgenstern erzählt hier die Geschichte des ungarischen Schriftstellers Aladar Csanda. Csanda ist im Begriff, ein neues Buch zu schreiben, das er sein ›Totenbuch‹ nennen will und in dem er seine Erfahrungen im Konzentrationslager von Auschwitz zu verarbeiten gedenkt. Es soll der Erinnerung an seine Freunde gewidmet sein, die Auschwitz nicht überlebt haben. Csanda wird durch einen mysteriösen Besucher an der Fertigstellung seines Buches gehindert. Der Besucher erweist sich als Bruder und Gesandter von Csandas Verleger Sidney Condon, der Csanda und dessen Freunde auf eine Reise zu der phantastischen Insel Edenia mitnimmt. Mit Edenia entwickelt Morgenstern eine utopische Gegenwelt zu dem »in mancher Hinsicht mörderischsten« Jahrhundert der Weltgeschichte.72 Die aufgeklärten Bewohner Edenias haben jeglichem Kult abgeschworen, der – in welcher Religion auch immer – um und mit dem Tod getrieben wird. Für sie gibt es den Tod nicht, sondern nur das Sterben, denn »den Tod haben die Religionen erfunden.«73 Zu einer Veröffentlichung des Werks ist es zu Morgensterns Lebzeiten nicht mehr gekommen. Der Tod ist ein Flop war lediglich in Form eines undatierten Typoskriptkonvoluts von acht zum Teil unvollendeten Kapiteln im Nachlaß erhalten. Das Romanfragment erschien erstmals im Jahr 1998, fast zwanzig Jahre nach seiner Entstehung, als neunter Band der Morgenstern-Werkausgabe im zu Klampen Verlag.

Anfang der siebziger Jahre waren zwei der autobiographischen Projekte so weit fortgeschritten, daß Morgenstern sie für eine Veröffentlichung vorbereiten konnte. Es handelt sich hierbei um jene Teile seiner Erinnerungen, die seinem Jugendfreund Joseph Roth und seinem, wie er ihn selbst bezeichnete, »nächsten Freund«74, dem Komponisten Alban Berg, gewidmet sind. Beide Bände fanden sich in einer druckbereiten Fassung im Nachlaß. Bevor es zu einer Publikation kommen konnte, verstarb Morgenstern nur wenige Wochen vor seinem sechsundachtzigsten Geburtstag am 17. April 1976 in New York.

Sein Tod fand dies- und jenseits des Ozeans kaum Beachtung. In den Vereinigten Staaten brachte lediglich die New York Times einen Nachruf auf den verstorbenen Schriftsteller.75 In Europa veröffentlichte der Journalist und Musil-Herausgeber Adolf Frisé gut eine Woche nach Morgensterns Tod, am 26. April 1976, seinen Nekrolog auf Morgenstern in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.76 Aus umbruchtechnischen Gründen erschien Frisés Artikel hier jedoch in stark gekürzter Form. Der ungekürzte Abdruck erfolgte einen Monat später unter dem Titel ›Besuch bei Soma Morgenstern. Erinnerungen an einen Europäer in New York‹ in der österreichischen Tageszeitung Die Presse und wird vom Verfasser selbst als die einzig maßgebliche Fassung bezeichnet.77 Frisés Nachruf ist weniger ein Nekrolog im Sinne einer posthumen Würdigung des Verstorbenen als vielmehr die Schilderung von Frisés Zusammentreffen mit Morgenstern im Oktober 1973. Im Zuge seiner Recherchen für die Herausgabe der Musil-Tagebücher war Frisé auf den Namen Morgensterns gestoßen. Musil erwähnt den Freund in einem Eintrag vom 16. März 1930. Das Gespräch mit Morgenstern weckte Frisés Interesse. »Die Fragen nach RM traten nicht zurück, im Gegenteil, aber der sie beantworten sollte, sie, in keiner Sekunde seine Reminiszenzen ordnend, mühsam animierend, ungemein plastisch, umweglos beantwortete, wurde unversehens auch selbst zum Objekt des Interviews, eine Figur, die Fragen aufwarf, das Interesse, die Neugier provozierte.«78

Frisé dürfte es auch gewesen sein, auf dessen Anregung die ›Internationale Robert Musil Gesellschaft‹ einen Nachruf auf Morgenstern in ihrem halbjährlich erscheinenden Periodikum Musil-Forum veröffentlichte.79 Damit erschöpft sich die Liste der Würdigungen. Zumindest ist nichts über weitere Nekrologe bekannt. Morgensterns Tod verhallte so gut wie unbeachtet. Um so notwendiger ist die zumindest posthume, geistige Wiederbelebung dieses in Vergessenheit geratenen Schriftstellers und seines Werkes. Bislang war dies der Arbeit einiger weniger überlassen – allen voran Ingolf Schulte und dem zu Klampen Verlag.

Wer war Soma Morgenstern? – der obige kurze Abriß über Morgensterns Leben kann diese Frage nur zu einem Teil beantworten. Er kann Lebensdaten und -stationen benennen, doch die Frage nach dem Wesen und Charakter dieses Schriftstellers bleibt damit unbeantwortet. Ihre Beantwortung fällt heute schwer, da es nur wenige Menschen gibt, die Morgenstern noch persönlich gekannt haben. Deshalb soll zum Abschluß dieses einführenden Kapitels ein Mann zu Wort kommen, der Morgenstern äußerst nah gestanden hat und der ihn besser gekannt haben dürfte als die meisten: sein engster Freund Alban Berg.

In einem Brief an Morgensterns zukünftige Schwiegermutter, Annemarie von Klenau, schreibt er über den Freund: »[…] Ist damit schon gesagt, daß mich sein äußeres und inneres Wesen, seine menschlichen Züge, seine charakterlichen Eigenschaften so ungemein sympathisch berühren, wie es mir noch selten im Leben passiert ist, so möchte ich, wenn ich von ihm als Künstler spreche, sagen, daß er nicht nur einer von ganz exceptioneller Intelligenz ist, dank welcher er in allem Geistigen und Künstlerischen zuhaus ist, sondern daß er auch einer mit einem Wissen um die Dinge seines eigentlichen Berufs ist, wie dies sicherlich Wenige seinesgleichen aufzuweisen haben. […] Es wäre falsch, ihn, weil er Künstler ist und vielfach nach außen hin das Leben eines Bohémiens führt, für einen Phantasten zu halten, für einen der den praktischen, sagen wir sogar: den bürgerlichen Forderungen des Leben fremd gegenübersteht. Im Gegentheil: Dank seiner großen Menschenkenntnis, seiner Lebenserfahrung weiß er wohl, auf was es im Leben ankommt und – so macht es mir wenigstens den Eindruck – es wird ihm im gegebenen Fall an der, zur Gründung einer Existenz und überhaupt zum Leben, nötigen Energie, Zähigkeit, ja Härte sicher nicht fehlen, für welche Annahme auch seine, bei allem Mangel an Robustem überraschende körperliche Zähigkeit und Ausdauer (er ist Hochtourist) spricht.«80

»Ich sagte mir: entweder kannst du Brot liefern oder nicht. Kannst du kein Brot liefern, gutes, gesundes Brot, das das Herz und den Magen des Menschen erfreut, dann gib’s auf. […] Torten, Luxus werde ich nicht produzieren.«

Soma Morgenstern81

Ein Leben mit Freunden

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