Читать книгу Liebe und andere Straftaten - C.T. Sanchez - Страница 4

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Tom lag wach in seinem Bett. Nur wenige Zentimeter über ihm quietschten die Federn des Hochstockbettes. Burt drehte sich schon wieder. Das ging nun fast die ganze Nacht so. Eine Nacht in der Tom mal wieder nicht schlafen konnte. Unruhig rutschte er hin und her, ohne dabei viel Lärm zu machen. Er wollte auf keinen Fall riskieren, seinen mürrischen Mitbewohner aufzuwecken.

Plötzlich ertönte ein lautes Klingeln durch den Lautsprecher, der über der Tür in die Wand eingebaut war. Es war 6 Uhr. Der Weckruf. Selbst am Wochenende wurden sie zu dieser frühen Stunde geweckt. Es gab keine Ausnahme. Der Tagesablauf war streng geregelt und immer der gleiche, bis auf das Wochenende. Denn dann blieben die Häftlinge zu den üblichen Arbeitszeiten in ihren Zellen eingesperrt. Die Wochenenden kamen Tom daher wie eine halbe Ewigkeit vor. Sie waren mit das Schlimmste an diesem Gott verlassenen Ort.

Er saß in einem dieser moderneren Gefängnisse, in denen die Zellen, die spärlich eingerichtet waren, komplett voneinander getrennt waren. Eine schwere Eisentür riegelte jeden Raum ab, sodass die Insassen nicht in den Flur spähen konnten, wie es sonst bei vergitterten Zellen üblich war. Das verstärkte natürlich das Gefühl der Einsamkeit erheblich.

Tom stand auf, putzte sich die Zähne am kleinen Waschbecken, das sich neben der Toilette befand. Eine kleine halbhohe Mauer, hinter der die Toilette versteckt war, diente lediglich als Sichtschutz. Privatsphäre gab es im Knast nicht. Saß man auf dem Klo, schaute noch der ganze Oberkörper über der Mauer hervor. Tom hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass ihm jemand beim Pinkeln zusehen konnte. Er fand es erniedrigend und beschämend.

Gegenüber dem Waschbereich standen zwei Spinde, in denen private Kleinigkeiten und saubere Kleidung aufbewahrt wurden. Tom hatte ein Foto seiner Familie in die Innenseite der Spindtür gehängt.

Auf der anderen Seite von dem Hochstockbett stand ein kleiner Ecktisch mit einem Brett als Ablagefläche darüber an die Wand geschraubt. Ansonsten gab es nichts mehr in der kleinen Zelle. Alleine war es schon sehr eng und bedrückend, doch zu zweit war es kaum erträglich, besonders wenn man sich mit seinem Mitbewohner nicht verstand.

Tom zog sich seine Hose an und wechselte in ein sauberes T-Shirt. Das einzige, was nicht in grellem Orange ertönte, waren ein paar weiße Sneakers und ein weißes langärmliges Sweatshirt, welches er als Unterhemd trug. Die Klappe an der Tür wurde von außen geöffnet und ein Wachmann brüllte ein kurzes „Morgen!“ bevor er nacheinander zwei Tabletts durch die Öffnung schob. Tom nahm eines davon entgegen. Nachdem auch Burt sein Frühstück in Empfang genommen hatte, wurde die Klappe mit einem lauten Knall wieder geschlossen. Tom setzte sich mit seinem Essen auf sein Bett, da Burt den Tisch für sich reserviert hatte. Er hatte Tom vom ersten Tag an klar gemacht, dass der Tisch seiner sei, zum Essen und auch sonst zu jeder Zeit. Den zweiten Stuhl, benutzte Burt, um seine Füße hochzulegen. Auch dieser war Burts Eigentum. Tom hatte sich nicht getraut, dem zu widersprechen und so musste er sich daran gewöhnen, sein Frühstück im Bett zu sich zu nehmen.

Wenigstens wurde das Mittagessen pünktlich um 12 Uhr im großen Speisesaal an alle Häftlinge verteilt. Dort gab es runde Tische, an denen Hocker fest am Boden montiert waren. Diese waren zwar nicht sehr bequem, aber wenigstens konnte er dort an einem Tisch essen, wie ein normaler Mensch. An einem Tisch hatten bis zu acht Häftlinge Platz. Somit lernte man öfters neue Leute kennen, wenn man keiner festen Gruppe angehörte. Nur die Gangs saßen immer zusammen und duldeten keine anderen an ihren Tischen. Die rivalisierenden Gangs gingen auch immer sicher, möglichst weit weg von einander entfernt zu sitzen. Und zwischendrin tummelte sich der Rest. Tom betete jeden Tag, dass sie nicht eines Tages aufeinander losgingen, denn dann säße er ziemlich ungünstig. Bis jetzt verhielten sich aber alle ruhig. Er hatte noch keine Revolte oder Prügelei miterleben müssen.

Ab 7:30 Uhr wurden die Zellentüren geöffnet, damit die Insassen zu ihrer täglichen Arbeit ausrücken konnten. Davor hatte Tom seinen ersten Besuch in der Krankenstation. Dafür wurde er immer von einem Aufseher abgeholt, der ihn nach der Behandlung auch wieder zurück in die Zelle brachte. Erst als alle Zellentüren pünktlich entriegelt wurden, ging es zur Arbeit. Tom war erst seit drei Monaten im Gefängnis und arbeitete in der Wäscherei. Dort oder bei der Putzkolonne fingen alle an, die neu waren. Wenn man sich das Vertrauen verdient hatte, konnte man zu anderen Arbeitsplätzen wechseln. Allerdings gab es auch Häftlinge, die auf Grund ihrer Verurteilung nur putzen oder in der Wäscherei arbeiten durften. Tom gehörte zum Glück nicht zu denjenigen und hoffte, bald woanders arbeiten zu dürfen. In der Wäscherei war es stickig, schwül und stank nach Chemikalien, die zur Reinigung benutzt wurden.

Nach dem Mittagessen ging es wieder an die Arbeit und um 16 Uhr hatten alle Freizeit. Das hieß, sie hatten Hofgang oder konnten sich sportlich betätigen. Es gab einen großen Fitnessraum, einige Geräte im Hof und ein Basketballfeld. Manche gingen zu ihren Zellen zurück, um mal alleine für sich zu sein oder versäumten Schlaf nachzuholen. Es gab sogar einen kleinen Kiosk, in dem die Häftlinge ihr spärlich verdientes Geld für Zigaretten, Süßigkeiten und andere Kleinigkeiten ausgeben konnten. Tom ging am liebsten in die Gefängnisbücherei. Dort konnte man Bücher lesen oder sich auch welche ausleihen und mit in sein Zimmer nehmen. Seit Tom inhaftiert war, hatte er bereits einige dicke Schmöker verschlungen. Was sollte er auch sonst an den langen Wochenenden tun, in denen er stundenlang mit dem verhassten Burt eingesperrt war?

Vor dem Abendessen, welches es um 18 Uhr abermals im Speisesaal gab, musste Tom wieder auf die Krankenstation für seine zweite Insulinspritze. Nach dem letzten Mahl am Tag durften sich die Häftlinge weiterhin relativ frei im Gefängnis bewegen. Bis spätestens um 21 Uhr mussten jedoch alle in ihren Zellen sein, denn dann wurden die Türen wieder für die Nachtruhe verriegelt.

An diesem Tag als die Zellentüren gerade geöffnet wurden und Tom sich auf den Weg zur Wäscherei machen wollte, um seinen Dienst anzutreten, wurde er von einem Aufseher vor seiner Zelle angehalten.

„Heute nicht. Sieht so aus als bist du befördert worden. Wie gefällt dir die Gärtnerei?“

Ohne auf eine Antwort zu warten, packte er Tom am Arm und schubste ihn wieder zurück in seine Zelle. Er sollte sich seine Jacke anziehen, denn draußen war es kalt. Es war zwar bereits Frühlingsanfang, aber trotzdem immer noch eisig. Selbst mittags im Sonnenschein stiegen die Temperaturen nicht über 15 Grad. Der Winter war diesmal auch besonders kalt gewesen.

Der Justizvollzugsbeamte brachte Tom in einen Teil des Hofes, in dem er noch nie zuvor gewesen war. Der Boden war nicht, wie im großen Pausenhof mit Asphalt bedeckt, sondern strahlte im saftigen Grün des frisch gemähten Rasens. Hier gab es Beete, in denen Gemüse angepflanzt wurde und wunderschöne Blumen, die trotz der Kälte bereits ihre Blütenpracht zeigten. Es war ein außergewöhnlich schöner und friedlicher Ort und allmählich freute sich Tom auf seine neue Aufgabe.

In dem Hof gab es einen kleinen Holzschuppen, an dem ein weiterer Aufseher wache stand. Hier wurden die Arbeitsmaterialien ausgegeben: Schaufeln, Rächen, Arbeitshandschuhe und so weiter. Die Sachen wurden allerdings nicht durch einen Beamten verteilt, sondern von einem Mithäftling, der als Chef dieser Arbeitstruppe fungierte. Dieser war ein grimmig aussehender Mann Mitte 40. Seine Haare waren ordentlich nach hinten gegelt, sein Gesicht glatt rasiert. Unter seinem linken Auge zog eine längere Narbe die Aufmerksamkeit auf sich. Er strahlte eine Autorität aus, die jeden Widerspruch untersagte. Es war klar, dass er sich von niemandem etwas sagen lassen würde, weshalb er wohl auch den Chef hier spielen durfte. Tom hatte gleich ein ungutes Gefühl, in der Nähe dieses Mannes zu sein.

„Du bist also mein neuer Mann“, er begutachtete Tom genau. „Wie ist dein Name Kleiner?“

„Tom.“

Es gab eine merkwürdige Stille. Wieder wurde er gemustert und Tom fürchtete das Schlimmste. Dann aber streckte er die Hand aus. Tom nahm sie zögernd an.

„Ich bin Rodchenko. Ich habe hier das Sagen, und damit meine ich nicht nur hier im Gemüsebeetchen. Alles klar?“

Der Name kam Tom bekannt vor. Burt hatte ihn an seinem ersten Tag erwähnt. Tom wusste nicht mehr genau, was er gesagt hatte, nur dass er am besten von ihm fern bleiben sollte.

Rodchenko hatte Toms Hand fest im Griff und zog ihn näher zu sich. Er kam beim Sprechen dichter heran und sprach mit gedämpfter Stimme, die ihn noch furchteinflößender machte. Tom war sich sicher, Rodchenko war ein verurteilter Mafia Boss, denn genauso stellte er sich solche vor. Damit sollte er auch nicht Unrecht haben. Tom schluckte. Außer einem braven Nicken konnte er nichts entgegnen. Der Boss ließ ihn wieder frei und übergab ihm mit einem zufriedenen Grinsen Handschuhe und eine Spitzhacke, mit der er die Erde für die neue Saat auflockern sollte.

Es gab genug Arbeit in dieser sogenannten Gärtnerei, in der mit Rodchenko eingeschlossen acht Häftlinge arbeiteten. Er stellte Tom kurz den anderen vor. Dann machten sich alle an die Arbeit. Ihr Treiben wurde stets von zwei Beamten überwacht, doch die Befehle erteilte Rodchenko. Er selber suchte sich die leichte Arbeit aus und sein Arbeitstempo kam nicht annähernd an das seiner Untergebenen heran, die sich auch nicht gerade sputeten. Es war eine im Vergleich zur Wäscherei angenehme Arbeit. Geredet wurde nicht viel. Jeder erledigte friedlich seine Aufgabe. Es wurde Erde umgegraben, Saat gestreut, Obst und Gemüse gepflückt und Unkraut gejätet. Hin und wieder musste der Rasen gestutzt werden.

Schon nach den ersten Minuten fing Tom an, sich vollends zu entspannen. Das erste Mal, seit er inhaftiert worden war, fühlte er sich nicht so eingeengt. Zwar war dieser Abschnitt des Hofes, der auch durch einen hohen Drahtzaun abgegrenzt war, nicht annähernd so groß wie der allgemeine Pausenhof, aber da sie sich hier nur zu zehnt aufhielten, hatte man fast so etwas wie ein wenig Privatsphäre. Vor allem aber Ruhe.

Nach gut zwei Stunden fingen Toms Rücken und Knie an, sich zu melden. Das ständige Bücken und herumrutschen auf allen Vieren war er nicht gewohnt. Den beiden Mithäftlingen in seiner Nähe entging sein allmählich lauter werdendes Ächzen nicht.

„Was ist los? Keine körperliche Arbeit gewohnt?“, lästerte einer der Beiden, der sich als Riker vorgestellt hatte.

„Doch schon“, verteidigte sich Tom, „nur nicht diese Art körperliche Arbeit. In der Wäscherei steht man den ganzen Tag aufrecht.“

„Dafür ist die Luft da aber nicht so gut wie hier“, lachte Riker.

Nun meldete sich der andere zu Wort, dessen Name Tom noch nicht kannte, da er bis jetzt noch kein Wort mit ihm gewechselt hatte.

„Du kannst jeder Zeit eine Pause einlegen und was trinken, solange du es damit nicht übertreibst.“

„Sonst tritt dir Rodchenko in den Arsch“, ergänzte Riker. „Doc weiß, wovon ich rede, nicht wahr?“

„Ja, Rodchenko und ich sind dicke Freunde… wenn wir uns aus dem Weg gehen“, nickte Doc.

Bis zum Mittagessen arbeiteten sie stillschweigend weiter. Im Speisesaal suchte Tom einen freien Platz, nachdem er sich bei der Essensausgabe seine Ration abgeholt hatte. Er entdeckte einen leeren Hocker und ein bekanntes Gesicht. An dem Tisch saß sein Arbeitskollege, den alle Doc nannten. Er war nicht sehr freundlich rüber gekommen, aber vielleicht lag es auch daran, dass er bis jetzt nicht viel mit ihm gesprochen hatte.

„Darf ich mich zu euch setzten?“, fragte Tom höflich und erntete ein kollektives Heben der Augenbrauen.

Ach ja, es war nicht üblich, dass man hier um Erlaubnis fragte. Wenn man nicht erwünscht war, wurde man schon weggejagt. Tom schaute sich noch einmal genauer die Gruppe an dem Tisch an und bereute ein wenig seine Entscheidung, sich hier niederzulassen. Da saß ein schwarzer glatzköpfiger und überaus muskulöser Riese, ein alter grauhaariger Mann mit langem Bart, zwei jüngere Mexikaner, ein weiterer Afro-Amerikaner, der wesentlich kleiner als der Riese war oder zumindest neben diesem so erschien, ein Fleischklops von einem Mann und Toms Arbeitskollege Doc.

„Setz dich Kleiner“, befahl der Riese. Seine Stimme war so tief und rau, dass jedes Wort wie eine Bedrohung klang.

Tom nahm Platz. Er löffelte seinen Eintopf und versuchte dabei, unauffällig seine Tischnachbarn zu mustern. Der alte Mann murmelte vor sich hin als spräche er mit sich selbst. Die beiden Mexikaner unterhielten sich auf Spanisch. Der Rest aß still vor sich hin. Tom bemerkte, dass Doc tätowiert war. Er hatte sein Sweatshirt hoch gekrempelt. Auf einem seiner Unterarme stand in verschnörkelten Buchstaben „Familie & Freunde“. Nett. Das klang doch vielversprechend. Er fasste seinen Mut zusammen und versuchte eine Unterhaltung zu starten.

„Arbeitest du schon lange in der Gärtnerei?“

Keine Antwort. Doc schaute nicht einmal vom Teller auf.

„Wie lange sitzt du schon im Knast?“

Keine Antwort. Eine Augenbraue wanderte nach oben.

„Ist Doc eine Abkürzung von einem Namen oder warum nennen dich alle Doc?“

Docs Blick fiel endlich auf Tom, sein Kopf allerdings blieb über seinem Teller gesenkt. Er schien genervt.

„Weil ich der Doc bin“, flüsterte er geheimnisvoll.

Damit war die Konversation auch schon wieder vorbei. Tom wagte keinen neuen Versuch. Es war offensichtlich, dass er nicht erwünscht war. Er verabschiedete sich schnell, als sein Teller leer war und ging erst mal in Richtung Waschraum. Dort befanden sich die Duschen sowie einige Toiletten, die während des Freigangs gerne genutzt wurden, weil sie sich tatsächlich hinter kleinen Kabinen verbargen, so wie man es bei öffentlichen Toiletten gewohnt war. Das einzig Andere war die Tatsache, dass man die Kabinen nicht abschließen konnte. Statt dessen wurde einfach ein Schild an der Tür umgedreht auf dem „Besetzt“ stand. Tom hatte Glück und fand eine freie Kabine. Er blieb ein paar Minuten länger darin als es notwendig war, nur um für sich alleine zu sein. Wie sollte er das nur weitere 11 Monate hier aushalten? Alle Insassen, die keiner Gang angehörten, blieben am liebsten für sich und hatten kein Interesse, auch nur ein bisschen freundlich gegenüber anderen zu sein. Er hatte bemerkt, dass, wenn es so was wie Freundschaften hier gab, sie meist zwischen den Zellengenossen entstand. Seiner war jedoch der schlimmste von allen. Tom hatte von sich aus keine Lust, sich mit Burt anzufreunden, selbst wenn dieser es gewollt hätte. Während der Schließungszeiten herrschte immer eine eisige Stille in ihrer Zelle. Wenn sie mal miteinander sprachen, dann war es meist Burt, der ihn mal wieder wegen etwas belanglosem anschnauzte. Er musste sich wohl weiter damit begnügen, nur an den wöchentlichen Besuchszeiten sich mit jemandem tatsächlich zu unterhalten. Naja das stimmte nicht ganz. Nun war ja Sera da. Er sah sie morgens und abends in der Krankenstation und konnte, wenn auch nur für ein paar Minuten, mit ihr sprechen. Er blickte in ihr strahlendes Gesicht und ihr breites Lächeln hob jedes Mal seine Stimmung. Ihr liebevolles Wesen war einzigartig. Sie war die Art Mensch, die immer das Gute in anderen suchte und meist auch fand. Aber er konnte mit ihr nicht über seine Ängste sprechen. Sie würde sich nur Sorgen machen. Das wollte er auf keinen Fall. Er hatte ihr bereits genug Kummer beschert.

Plötzlich bemerkte Tom, dass es sehr ruhig geworden war. Vorsichtig machte er die Toilettentür auf. Es war tatsächlich niemand mehr da. Hatte er so lange nachgedacht? Kam er zu spät zurück zu seiner Arbeit? Über der Eingangstür hing eine große Uhr. Nein, es war gerade mal zwanzig nach zwölf. Erst in zehn Minuten mussten sich alle wieder an ihre Arbeitsplätze begeben.

„Ein hübsches Kerlchen.“

Die Stimme kam von den Duschen. Toms Herz machte einen Satz. Da kamen drei finstere Gestalten auf ihn zu und er war wohl gemeint als das Kerlchen. Tom wollte instinktiv wegrennen, doch einer der drei versperrte ihm rasch den Weg. Ein anderer mit langen Haaren, die zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden waren, trat bedenklich nahe an ihn heran.

„Du bist noch nicht sehr lange hier, was Kleiner? Ich habe dich noch nie gesehen“, sprach der Mann, während er Tom von oben bis unten musterte.

Tom stand wie versteinert da. Wie kam er aus dieser Situation nur wieder raus? Es war zu offensichtlich, was diese Typen mit ihm vorhatten. Davor hatte er sich am meisten gefürchtet, als er das Gefängnis das erste Mal betreten hatte.

„Ich glaube, wir sollten den Frischling mal gebührend willkommen heißen“, sagte der Langhaarige und benetzte demonstrativ langsam mit der Zunge seine Lippen während sein Blick Tom durchbohrte.

Scheiße, dachte Tom und schubste in einer Kurzschlussreaktion den Kerl um, der ihm zuvor den Weg versperrt hatte. Allerdings war dieser ein Muskelprotz, der nicht so leicht das Gleichgewicht verlor. Sofort hatte er Tom am Arm gepackt und ihn diesen auf den Rücken gedreht. Der Dritte im Bunde versetzte ihm einen Schlag in die Magengrube, sodass ihm die Luft weg blieb. Tom bemerkte, wie zwei Männer das Gemeinschaftsbad betraten. Er rief kurzatmig „Hilfe!“ aber die beiden hoben nur ihre Hände als wollten sie damit sagen, sie wollen mit der Sache nichts zu tun haben. Sie verschwanden so schnell sie kamen. Verzweifelt versuchte Tom sich zu befreien, doch er war um einiges schwächer als seine Gegner. Als der mit dem Pferdeschwanz sich an Toms Hose zu schaffen machte, brach er völlig in Panik aus. Er fing an zu treten, einen Arm bekam er frei und schlug sofort mit seiner Faust wild umher, ohne jemanden tatsächlich zu treffen.

„Schaut nur wie er sich ziert. Ist das nicht allerliebst“, witzelte der Langhaarige und seine Kumpanen lachten.

Tom fing an laut zu schreien. Irgendjemand musste ihn doch hören. Wo waren alle Aufseher geblieben? Eine Faust schmetterte in Toms Gesicht und er hätte schwören können, sein Kiefer sei dabei gebrochen. Für einige Sekunden sah er Sterne und noch bevor er wieder klar sehen konnte, blieb ihm abermals die Luft weg. So fühle es sich also an, verprügelt zu werden. Tom war noch nie in eine Prügelei verwickelt gewesen. Er hatte keine Ahnung, wie er sich am besten wehren konnte. Alles ging so schnell. Er wusste schon gar nicht mehr, wo ihn die vielen Fäuste zuerst trafen. Ein Hieb in den Unterleib, einen in die Seite, einen ins Gesicht. Er schmeckte Blut in seinem Mund. All seine Abwehrversuche scheiterten. Drei gegen einer war alles andere als fair! Der letzte Schlag traf ihn genau auf seinen Kehlkopf. Noch nie hatte er solch einen schrecklichen Schmerz verspürt. Er hatte das Bedürfnis den Schmerz weg zu husten, aber es kam kein Laut heraus. Er wurde blass, seine Beine versagten, er fiel zu Boden.

„So ist’s brav“, triumphierten seine Angreifer.

Einer wollte sich wieder eilig an Toms Hose zu schaffen machen, als er zwei Gestalten verschwommen im Türrahmen erkannte. Wie aus weiter Ferne hörte Tom eine tiefe, ruhige Stimme rufen.

„Lasst den Kleinen in Ruhe, ihr Schweine!“

Kampfgebrüll brach aus. Die beiden Männer stürzten sich auf die drei anderen und schnell floss mehr als nur Toms Blut. Einer der vermeintlichen Vergewaltiger hatte ein selbstgebasteltes Messer bei sich, welches er in Notfällen nur all zu gerne benutze. Tom wollte aufstehen und seinen Rettern bei Seite stehen, aber er hatte nicht die Kraft dazu. Er fing an zu röcheln. Sein Hals schien anzuschwellen als hätte er einen Golfball verschluckt, der ihm nun im Halse stecken geblieben war. Oh Gott! Todesangst machte sich in ihm breit.

„Scheiße er erstickt“, bemerkte einer der Kämpfer.

Bevor sie sich versahen, rannten die drei Bösewichte davon. Sie hatten keine Lust, mit einem Mord in Verbindung gebracht zu werden. Erst nachdem die drei geflüchtet waren, erkannte Tom seine Retter wieder. Es waren der große Riese und Doc. Sie knieten sich beide neben ihn und Doc tastete seinen Hals ab.

„Sein Kehlkopf ist angeschwollen“, diagnostizierte er.

„Ich hole die Wache, er muss auf die Krankenstation“, sprach der Riese.

„Dazu bleibt keine Zeit. Hilf’ mir ihn festzuhalten!“

Doc schaute sich um und entdeckte das kleine Messer, welches der Vergewaltiger während dem Kampf verloren hatte. Schnell hob er es auf. Tom konnte die kühle Klinge auf seiner Haut spüren. Sein Kopf wurde nach hinten gebeugt. Dann tastete Doc nochmals den Hals ab, um genau die richtige Stelle zwischen dem Ring- und Schildknorpel zu finden. Er schnitt ohne zu zögern in das Fleisch. Die Klinge war relativ stumpf, weshalb er viel Kraft aufwenden musste, dabei jedoch immer noch vorsichtig sein musste, um nicht zu tief zu schneiden. Ein schrecklicher Schmerz zog sich durch Toms gesamten Körper. Er begann sie instinktiv gegen die Gewalteinwirkung zu wehren, doch der schwarze Muskelprotz hielt in fest. Tom fühlte das warme Blut aus seinem Hals strömen. Am liebsten hätte er den Schmerz weggeschrien doch er brachte nach wie vor keinen Ton heraus. Doc drehte vorsichtig das Messer, so dass eine kleine Öffnung entstand. Mit einem Handtuch versuchte er, die Schnittstelle vom vielen Blut offen zu halten. Tom spürte wie seine Lungen sich wieder mit Luft füllten. Er hatte weiterhin das Gefühl zu wenig Sauerstoff zu bekommen, aber die akute Erstickungsgefahr schien erst mal vorbei zu sein. Der Schmerz ließ ein wenig nach. Er stand wohl unter Schock.

„Jetzt kannst du Dr. Hillsborough holen. Sag ihm, er soll einen Endotrachealtubus und ein Beatmungsgerät mitbringen“, gab Doc zufrieden von sich.

„Ein was?“

„Einen Tubus und ein Beatmungsgerät“, Doc rollte verständnislos mit den Augen. „ Sag ihm einfach, hier erstickt einer. Nun renn schon!“

Mit einem Satz sprang sein großer Assistent auf und raste davon. Doc schaute ihm mit einer hochgezogenen Augenbraue anerkennend nach.

„Ganz schön schnell“, sprach er beeindruckt und wandte sich an Tom. „Hätte ich von Eddie gar nicht erwartet. Bei seiner Größe und Umfang. Respekt.“

Ich sterbe hier, versuchte ihn Tom mit weit aufgerissenen Augen mitzuteilen.

„Keine Angst, ich lasse dich nicht sterben“, sagte Doc als hätte er seine Gedanken gehört. „Jedenfalls heute nicht“, ergänzte er mit einem geheimnisvollen Grinsen.

Bevor sich Tom deswegen Sorgen machen konnte, eilten zwei Aufseher zur Tür herein. Vor ihnen auf dem gefliesten hellgrauen Boden lag ein blutüberströmter Häftling. Über ihm beugte sich ein anderer, der noch das Messer festhielt, das dem Opfer im Hals steckte. Hastig zogen sie ihre Schlagstöcke aus dem Gürtel. Die Situation schien ihnen eindeutig.

„Weg von ihm!“, brüllte einer.

„Fallen lassen! Du willst ihn doch nicht umbringen!“, rief der andere.

„Scheiße, ich habe ihm das Leben gerettet“, verteidigte sich Doc mit einer unglaublichen Ruhe.

„Lass das Messer fallen!“

„Kann ich nicht, sonst stirbt er“, wurde Doc langsam lauter.

„Wir können das auf die harte Tour machen, wenn du unbedingt willst!“

„Lieber nicht“, schüttelte Doc den Kopf.

„Dann lass das verdammte Messer fallen und entferne dich von ihm!“

„Nein“, seufzte Doc, dem die Begriffsstutzigkeit der Aufseher langsam auf die Nerven ging.

Toms Blick wanderte bei der absurden Diskussion von einem zum anderen. Die Wachen wurden immer nervöser, wobei Doc die Ruhe in Person zu sein schien. Bevor die Situation jedoch endgültig zu eskalieren drohte, tauchte Dr. Hillsborough in Begleitung von einem dritten Wachmann auf. Ohne Zeit zu verlieren schob sich der Gefängnisarzt an den kampfbereiten Wachen vorbei und kniete sich runter zu Tom. Er öffnete seine mitgebrachte Notfalltasche.

„Was haben Sie mit ihm gemacht? Sind Sie verrückt?“ Dr. Hillsborough verschaffte sich einen Überblick der Verletzungen. Schnell erkannte er, was geschehen war und führte mit wenigen Handgriffen einen Tubus in die Öffnung an Toms Hals, die Doc bis dahin mit dem Messer gespreizt hatte, und befestigte daran den Beatmungsbeutel.

In dem Augenblick als Doc das Messer entfernt und auf den Boden gelegt hatte, wurde er auch schon von den beiden Aufsehern überfallen und festgenommen. Er lies sich ohne Gegenwehr aus dem Raum entfernen. Lediglich ein „Gern geschehen“ rief er noch zum Abschied.

Liebe und andere Straftaten

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