Читать книгу Die Farbe der Leere - Cynthia Webb - Страница 10

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Wenn man nur lange genug für die Stadt arbeitet, dachte ­Katherine, kriegt man doch gewisse Extras: Noch vor der Mittagspause darf man die Klageschrift für einen besonders brutalen Missbrauchsfall aufsetzen, am Nachmittag steht dann der Irrsinn der Gerichtsanhörung bevor, und jetzt hat man eine inkompetente Idiotin vor der Nase und kann erst was essen gehen, wenn man sie losgeworden ist.

Das Büro der ACS-Fallaufnahme war in einem schäbigen Bau gegenüber vom Gericht untergebracht. Die Mittagspause in einem miesen Imbiss würde Katherines Tag enorm aufwerten, aber sie kam hier nicht weg, ehe sie mit diesem neuen Prozese­antrag fertig war. Erst hatte sie gehofft, Mrs. ­Ellie Jones – die kleine, selbstzufriedene Fallbetreuerin, die vor ihr saß – ­irgendwie missverstanden zu haben, aber diese Hoffnung hatte sich längst zerschlagen.

»Also Sie sind einer Meldung von Kindesmissbrauch nachgegangen und fanden das Kind in Handschellen ans Bett gekettet, mit aufgeschürften und blau angelaufenen Handgelenken, richtig? Und das Kind sagt, dass es bereits seit Tagen in dieser Lage ausharrt, korrekt?« Sie versuchte, es nicht allzu sehr nach flammender Anklage klingen zu lassen, doch das war vergebene Liebesmüh. Mrs. Jones merkte überhaupt nichts.

»Das hab ich Ihnen doch schon erzählt, Mrs. McDonald.«

»Dann erklären Sie es mir noch mal. Warum haben Sie das Kind nicht kraft Ihrer Befugnis in Gefährdungsfällen sofort in Obhut genommen?«

»Ich hab die Handschellen mitgebracht«, erwiderte Mrs. Jones zum dritten Mal seit Beginn des Gesprächs. Wieder zog sie die Handschellen aus der offenen Tasche auf ihrem Schoß und ließ sie hin und her baumeln.

»Sie haben also die Handschellen mitgebracht und das Kind dort gelassen«, sagte Katherine ausdruckslos – eine letzte Chance für Mrs. Jones, einen Hauch von Einsicht zu zeigen.

Mrs. Jones fand wohl, dass dies keine Antwort erforderte. Sie steckte die Handschellen wieder ein.

Angesichts dieser erschütternden Niederlage änderte ­Katherine ihre Vorgehensweise. In ihrem strengsten Ton fragte sie scharf: »Haben Sie irgendeine Ahnung, was die Eltern in diesem Augenblick mit dem Kind anstellen?« Sokratische Gesprächsführung: Entbinde die Wahrheit Schritt für Schritt. Wenigstens manchmal war das Jurastudium zu etwas nütze.

»Nein.« Mrs. Jones’ Ton deutete an, dass ihr die Richtung, die das Gespräch nahm, nicht behagte. Für einen Augenblick glaubte Katherine, sie sei endlich durchgedrungen. Dann fügte Mrs. Jones hinzu: »Sie können ihm jedenfalls keine Hand­schellen mehr anlegen.«

»Diesen Eltern fehlt doch eindeutig jeder Sinn für angemessene Erziehungsmethoden, können Sie mir so weit zustimmen?«

Mrs. Jones riskierte ein knappes, nervöses Nicken.

»Man kann also sagen«, fuhr Katherine fort, »dass das Kind hochgradig gefährdet ist. Bei unmittelbarer Gefährdung ist das Kind in Obhut zu nehmen und zur Anrufung des Familien­gerichts herzubringen.« In Mrs. Jones’ Blick schien ein schwacher Funke des Begreifens zu dämmern. »Aber dem Kind wird schon nichts passieren, denn Sie haben ja die Handschellen mitgebracht«, schloss Katherine ätzend, und Mrs. Jones nickte erleichtert, sichtlich zufrieden, dass die ACS-Anwältin es endlich kapiert hatte.

Katherine gab den Versuch auf, die Abgründe von Mrs. Jones’ Bewusstsein zu durchdringen, und entließ sie. Dann schrieb sie Mrs. Jones’ Vorgesetzter eine Mail mit der Anweisung, sofort jemand anderen zu der Wohnung des bis vor kurzem gefesselten Kindes zu schicken. Am Nachmittag konnte die Anhörung stattfinden, und Katherine würde beim Richter eine Verfügung beantragen, die den Eltern umgehend das Sorgerecht entzog. Noch etwas, worauf sie sich freuen konnte: Vor dem Richter war sie dann der einzig greifbare Blitzableiter für seinen berechtigten Grimm darüber, dass sich das Kind trotz der dramatischen Umstände nach wie vor in der Obhut seiner fesselwütigen Eltern befand.

Ihre Stimmung hob sich jedoch, sobald sie das triste Gebäude verließ. Sie ging an den blauweißen Gefangenen­transportern mit dem Kaninchendraht vor den Scheiben entlang, überquerte die 161. Straße und erreichte den breiteren Gehweg vor dem kastenartig aufragenden grauen Bau, den sich Familiengericht und Strafgericht teilten. Die Mittagssonne schien ihr warm auf den Kopf. Es war am Morgen kühl gewesen und würde abends kalt werden, aber im Moment war es angenehm mild. Der lange Indianersommer zog sich diesmal bis in den November.

Sie wandte sich nach rechts, überquerte die Sheridan Avenue und entdeckte Annie und Diane in einer Sitznische, sobald sie die Glastür von Fat City aufzog. Sie schlängelte sich zu ihnen durch, ließ sich neben Annie auf die rissige rote Lederbank fallen und sagte: »Tut mir leid. Ich kam nicht eher weg.«

Niemand machte sich die Mühe, nachzuhaken. Kein Mensch, der bei Verstand war, würde freiwillig im Fallaufnahmebüro sitzen bleiben, wenn er zum Lunch gehen konnte. Diane wandte sich Katherine zu. »Ich erzähl Annie gerade, dass ich heute früh einen Fall hatte, wo die Beklagte Mutter von sieben Kindern ist.«

Es gab eine kurze Stille, in der Annie und Katherine mit Blicken ausfochten, wer heute an der Reihe war, Dianes Bälle zu retournieren.

Es war Annie, die aufgab und die erwartete Phrase sprach. »Und das Besondere daran ist …?«

»Die Mutter ist dreiundzwanzig.«

Alma, die Kellnerin, ließ einen Teller mit einem Burger vor Annie auf den Tisch gleiten, dann setzte sie genauso einen vor Katherine ab und Rührei mit Bratkartoffeln vor Diane. Die hatte es schon lange aufgegeben, Alma davon abzubringen, ihr diese bleichen Kartoffelwürfel mit fast rohen Zwiebelstückchen und Pfeffer vorzusetzen, die sie hier Bratkartoffeln nannten. (»Die einzig akzeptablen Beilagen zu Eiern sind Polenta oder Brötchen. Vielleicht noch sehr krosse Röstkartoffeln. Aber nicht so was.«)

Katherine nahm ihren fetttriefenden Burger in Angriff und merkte, wie hungrig sie war. »Habt ihr für mich mitbestellt?«

Die beiden Frauen schüttelten die Köpfe.

»Hat Alma sich gedacht, wenn ihr zwei hier seid, komm ich auch?«

»Scheint so«, sagte Annie.

Diane ergriff wieder das Wort. »Ich hab noch einen: Warum ist die einzige Droge, die die Beklagten nicht nehmen mögen, die Antibabypille?« Die Vierzigjährige, die mit ihrem kaffeedunklen Teint und der hochgewachsenen schlanken Figur eher nach dreißig aussah, war Katherines und Annies Vorgesetzte. In einer Etagenwohnung in Washington Heights zog sie ihre zwei Nichten groß. Von deren leiblicher Mutter, Dianes Schwester, war nur bekannt, dass sie in Detroit auf der Straße lebte. Einen Vater oder Väter gab es nicht.

Diane und Katherine hatten dem zarten Geschöpf namens Annie zunächst Vorbehalte entgegengebracht. Doch sie fügte sich nahtlos in die kollegiale Freundschaft der beiden älteren Frauen. Von ihrem Privatleben wussten sie nur, dass sie nach einer Kommilitonenehe geschieden war. Da sie nicht darüber sprach, gingen sowohl Katherine als auch Diane davon aus, dass es schlimm gewesen war.

Auf Dianes Spruch hin bemerkte Annie nachdenklich: »Vor gar nicht langer Zeit setzten die meisten meiner Freundinnen alles daran, bloß nicht schwanger zu werden. Und jetzt kommt es mir vor, als ob fast alle, die ich kenne, verzweifelt versuchen, einen Braten in die Röhre zu kriegen.«

Katherine nickte. Die Epidemie der Fortpflanzungsbesessenheit grassierte auch unter Frauen ihres Alters. Sie selbst hatte nie über ihre Ehe gesprochen, als sie noch mit Barry zusammengelebt hatte, und sah keinen Grund, jetzt damit anzufangen.

Annie fuhr fort: »Sie essen nur noch Körnerfutter und biodynamisches Gemüse …«

»Das ist schon der erste Fehler«, warf Diane ein.

»… und machen Fruchtbarkeitstherapien und empfangen trotzdem nicht, wohingegen …« Sie brach ab, und Katherine und Diane warfen sich einen kurzen Blick zu.

»Wohingegen die Beklagten bei einer Diät aus Chips, Pepsi und Crack jedes Jahr ein Baby werfen«, beendete Diane den Satz für Annie. Die wurde rot, ein fleckiges Rosa, das vom Unterkiefer aufwärts wanderte und die Wangen überzog. Wenn es darum ging, Witze über das Elend zu reißen, das sie tagtäglich zu sehen bekamen, war Annie immer noch zartbesaitet, was Katherine und Diane nachhaltig amüsierte.

Katherine wischte mit der billigen dünnen ­Papierserviette vergeblich an ihren schmierigen Händen herum. »Was ich gern mal wüsste: Warum ist die Abbrecherquote bei der Suchtakupunktur bloß so hoch? Da spritzen sie sich jahrelang in wer weiß wie schmuddligen Löchern wer weiß was in die Venen, und jetzt, ganz plötzlich, haben sie auf einmal Angst vor Nadeln?«

Dann gab Katherine die Geschichte von Mrs. Jones und den Handschellen zum Besten, und erwartungsgemäß fand Diane sie zum Brüllen komisch. Als das Gelächter der Frauen nachließ, fügte sie noch hinzu: »Das nächste Mal trifft sie auf ein Kind voller Zigarettenverbrennungen und beschlagnahmt die Kippen«, und Diane und Katherine prusteten wieder los.

Katherine hatte Annie am Ende ihrer ersten Woche gesagt: »Wenn du eine Zeitlang mit verwahrlosten und missbrauchten Kindern zu tun hast, machst du entweder schlimme Witze darüber oder du drehst durch.« Bisher hatte Annie weder das eine noch das andere getan.

Die Mittagszeit neigte sich dem Ende zu, die Menge sickerte allmählich nach draußen. Katherine musste zurück ins Büro, doch sie blieb noch sitzen und trank den lausigen Kaffee, bitter im Mund wie geschmolzener Stahl. Sie gingen nicht mehr so oft zum Essen raus wie früher – dies war ein rares Vergnügen. Seit sie bei jeder Rückkehr ins Gebäude durch die Metall­detektoren mussten, schien der Weg zum Mittagessen oft nicht den Aufwand wert.

Eine Gruppe von Männern in Anzügen passierte ihre Sitzecke auf dem Weg nach draußen. Diane streckte den Arm aus und legte einem von ihnen ihre lange schmale Hand auf den Arm (sie sollte wirklich Klavier spielen mit diesen Fingern, dachte Katherine). »Dan! Dan Mendrinos. Wie geht’s dir, Junge?«

Der große dünne Mann mit dem traurigen Gesicht und den tiefen Furchen um den Mund blickte mit leichtem Lächeln auf Diane herunter. Einer aus der Heerschar von Dianes Freunden, nahm Katherine an.

Graziös rutschte Diane auf der Bank ein Stück weiter, ohne die Hand vom Arm des Mannes zu nehmen, so dass ihm nichts anderes übrig blieb, als sich neben sie zu setzen.

»Das da rechts ist Annie O’Connor. Zur Linken siehst du ­Katherine McDonald, von der ich dir erzählt habe. Ladys, dies ist …«

»Dan Mendrinos«, sagte Katherine, »wir haben es gehört.«

Diane überging die Unterbrechung gnädig. »Ich war im Begriff, euch zu erklären, dass er ermittelnder Staatsanwalt ist.« Der in Dianes Stimme mitschwingende Unterton einer wichtigen Verlautbarung weckte Katherines Argwohn. In den Monaten seit Katherines Trennung von ihrem Mann hatte Diane schon mehrfach Andeutungen gemacht, dass es Zeit sei, sich auf etwas Neues einzulassen. Katherine hatte diese Andeutungen geflissentlich überhört.

»Schön«, sagte sie und blickte demonstrativ auf ihre Uhr, »ich sollte wirklich machen, dass ich wieder an die Arbeit komme.«

Das war wahr. Sie hatte ein Kind als Zeugen zu befragen, ehe sie sich um ihre Anklageerhebungen kümmern konnte. Es kam nicht jeden Tag vor, dass sie vor dem Gerichtstermin Gelegenheit erhielt, mit einem Zeugen zu sprechen. In diesem Fall wurde das Kind zu einer psychologischen Begutachtung vorgeführt, die sein gerichtlich bestellter Vormund arrangiert hatte, und Katherine würde es möglich sein, mit dem Jungen zu reden.

»Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen«, sagte sie rasch zu Mendrinos, warf ein paar Scheine auf den Tisch, um ihren Teil der Rechnung zu decken, und eilte zur Tür hinaus.

Mendrinos sah Diane an. »Gehe ich recht in der Annahme, dass sie von dem Auftrag nicht gerade begeistert ist?«

Diane lachte. »Ich hab ihr noch gar nichts davon erzählt, also ist sie nicht deshalb weggerannt. Ich rede heute Nachmittag mit ihr, sie wird dich dann anrufen. Mach dir keine Sorgen. Ich sag dir doch, sie ist die Richtige.« Diane berührte Annies Arm. »Erinner mich daran, dass ich ihr nachher noch was erzählen muss. Ich glaube, ich hab heute Morgen unten im Warteraum ihren Mann, ihren Exmann, gesehen.«

»Hat er nach ihr gesucht?«

Diane zuckte die Achseln. »Er weiß, wo ihr Büro ist, und im Übrigen auch, wo meins ist. Er hätte eine Nachricht dalassen können, wenn er das gewollt hätte.«

»Dann muss er hier einen Fall haben.«

Diane zog ein Gesicht. »Sehr unwahrscheinlich. Barry Worth in der Bronx? Am Familiengericht? Er macht in Fusionen und Übernahmen, bei einer großen Kanzlei in der Nähe der Wall Street.« Sie dachte einen Moment nach. »Vielleicht war er es auch gar nicht. Diese weißen Jungs in Anzügen. Für mich sehen die alle ziemlich gleich aus.«

Ihre Absicht war, Mendrinos zum Lachen zu bringen, aber der hörte sie gar nicht. Er sah durchs Fenster zu, wie Katherine die Sheridan Avenue überquerte. Die Schnittkante ihre glatten braunen Haare schwang knapp über dem weißen Kragen ihrer schlichten Hemdbluse. Sie trug ein graues Jackett, Hosen und flache Schuhe. Er sah ihr nach, bis sie im Eingang des Familien­gerichts verschwand, wo die Tür sich hinter ihr schloss und sie seinem Blick entzog.

Die Farbe der Leere

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