Читать книгу Die Farbe der Leere - Cynthia Webb - Страница 13

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Fast fünfzehn Jahre lang war Katherine an jedem Werktagsmorgen mit der Linie D nordwärts gefahren. Und zwar in einem nahezu leeren U-Bahn-Wagen, weil sie gegen den Strom der Pendler schwamm, die stadteinwärts nach Manhattan unterwegs waren. Auf dem Heimweg saß sie dann wieder in einem leeren Waggon, während die Züge, die zurück in die Bronx fuhren, aus allen Nähten platzten. (»Das hätte dir eine Warnung sein müssen«, hatte Diane erklärt, als Katherine ihr das erste Mal von ihrem Lachs-schwimmt-gegen-den-Strom-Erlebnis erzählte. »Wenn alle anderen in Gegenrichtung streben, solltest du denken: Ich tu hier bestimmt was ganz Blödes.«)

Vor gut drei Monaten hatte sie Barry verlassen, das gemeinsame Apartment aufgegeben und ihm auch gleich den gesamten gemeinsamen Freundeskreis überlassen. Die besagten Freunde waren davon, dass sie aus Manhattan wegzog, weit mehr überrascht als davon, dass sie Barry verließ. Sie hegten die unerschütterliche Überzeugung, dass ›die Bronx‹ als Kürzel stand für ausgebrannte Wohnblocks voller verwilderter Jugendlicher, die sich drohend an den Straßenecken zusammenrotten, während im Innern der schäbigen verfallenden Gebäude alles haust, was man sich unter der ekelhaften, verkommenen und zutiefst bösen Kehrseite der Zivilisation vorstellt. Ausnahmen bildeten allenfalls das Yankee-Stadion und der Botanische Garten.

Katherine aber war nach Riverdale gezogen, in ein ruhiges, baumreiches Randviertel der Bronx mit teuren Häuschen, ­netten Apartmentkomplexen und ausgedehnten Grünanlagen am Ufer des Hudson.

Barrys Attitüde wohlmeinender Toleranz gegenüber ihrem Beruf brachte sie auf. Schlimmer noch, alle ihre Freunde teilten seinen Standpunkt.

Er hatte über die Jahre immer wieder Bemerkungen fallen lassen, wie gut alles wäre, wenn sie es bewerkstelligen könnte, sich ans Gericht von Manhattan versetzen zu lassen. Aber in all den Jahren war so eine Versetzung nie zustande gekommen. Was sie nicht weiter wunderte, sie hatte sie nämlich nie beantragt.

Später klammerte er sich an die Hoffnung, sie würde in die Verwaltung des Zentralbüros Downtown befördert. Sie war doch so besessen von ihrer Arbeit. Die Sahne setzt sich immer oben ab, pflegte er zu sagen.

Auch dazu kam es nicht. Barry verstand das nicht, fragte sie jedoch niemals direkt nach dem Grund.

Katherine zollte seiner großzügigen Haltung keineswegs die gebührende Anerkennung. Vielmehr entwickelte sie im Laufe der Jahre einen abartigen Stolz auf den unvorteilhaften Nimbus ihrer Arbeit und auch der Gegend, wo sie ihr nachging. Und während sich Abendessen unter Freunden an Cocktailpartys reihten, fand Katherine es von Jahr zu Jahr schwerer, Interesse zu heucheln, wenn es um die Jobs ihrer gemeinsamen Bekannten ging. Die meisten schienen nichts anderes zu tun, als Vermögen von einem Reichen zum anderen zu transferieren.

Jahrelang hörte sie zu, wie sie über Beförderungen diskutierten, über Einrichtungsstile, Urlaubsziele und später ihre Sommerhäuser. Dann, scheinbar über Nacht, kamen die Themen Schwangerschaft, Fruchtbarkeitsklinik und Auslands­adoption.

Katherine hatte zu solchen Gesprächen nichts beizutragen, aber sie hatte die Macht, diese Konversationen zum Stillstand zu bringen, indem sie sagte: »Ich arbeite in der Bronx«, und auf die unausweichliche Reaktion wartete.

»Ich kann nicht glauben, dass du sie jeden Tag dahin lässt«, hatte einer von Barrys Partnern einmal gesagt. »Bitte sag nicht, du lässt sie mit der U-Bahn fahren.«

Jetzt parkte Katherine ihren zerbeulten kleinen Honda quer zu der Reihe von Eichen gegenüber dem Komplex aus ein- und zweistöckigen Apartments, in dem sie nun wohnte. Das kastenartige Bauwerk bestand aus vier geraden Apartmentfronten, die einen begrünten Innenhof einschlossen. Die Privilegierten, die hier ein ›Townhouse‹ bewohnten, hatten zum Innenhof hin gelegene Veranden mit gläsernen Schiebetüren.

Zu jeder Haustür gehörte ein winziger Vorhof, manche davon waren mit runden Grilldomen bestückt. An einer Hauswand lehnte ein kleines rosa Fahrrad, an dessen Lenker rosa und weiße Wimpel im Wind flatterten.

Katherines unmittelbare Nachbarin Jodi ließ immer ihr Schlafzimmerfenster offen, damit ihre fette Katze in den Hof konnte. Katherine selbst ließ oft ihre Haustür unabgeschlossen, wenn sie nur kurz wegging.

Rosensträucher, die ein früherer Bewohner gepflanzt hatte, säumten ihre Eingangstür. Die dornigen Zweige hatten keine Blätter mehr, aber an der äußersten Spitze eines bedrohlich aussehenden Astes hing eine vertrocknete braune Rosenblüte. Die Gegenwart der Rosenbüsche, das einzig bedeutsame, wenn auch karge Anzeichen von Leben in ihrem Garten, irritierte Katherine. Ihre Existenz verlangte nach Betätigung. Aber sie sah sich nicht als jemand, der düngte, Unkraut jätete oder Äste beschnitt. Die Rosen würden sich allein durchs Leben schlagen müssen.

Sie schloss ihre Tür auf, was von wildem Kratzen auf der anderen Seite begleitet wurde. Sowie die Tür aufging, sprang die schwarzweiße, lockenfellige Hündin sie an. Katherine platzierte die Post, die sie aus dem Briefkasten mitgebracht hatte, auf dem Bord in ihrem kleinen Flur, bevor sie sich bückte und den Hund hinter den Ohren kraulte. Diese Geste kam ihr inzwischen nicht mehr so gekünstelt vor. Anfangs hatte sie sich dabei immer gefühlt, als spiele sie jemanden, der einen Hund hat.

Ein Hund war wesentlich anspruchsvoller als Rosensträucher, und sie hatte sich diese Bürde nicht aus freien Stücken auferlegt. Jodi von nebenan hatte Miss Bennett (damals noch unbenannt) mit einem übel verletzten Bein auf der Straße gefunden. Katherine konnte es Jodi nicht abschlagen, sie mit dem Hund zum Tierarzt zu fahren. Sie half den beiden auch ins Wartezimmer, wo der Hund in eine Decke gewickelt auf Jodis Schoß lag.

Dann fuhr Katherine wieder nach Hause und bildete sich ein, ihr Teil des Abenteuers sei vorüber. Aber am nächsten Morgen rief Jodi an, um sie über den Zustand des Hundes zu unterrichten. Sie ging davon aus, dass Katherine in gleicher Weise Anteil nahm wie sie selbst. Der Tierarzt hatte das verletzte Bein für unrettbar erklärt. Katherine bekundete ihr Mitgefühl, aber im Vergleich zu dem, was sie täglich bei der Arbeit sah, schien ihr ein Hund, der ein Bein einbüßte, kein so bedeutendes Drama.

Nach ein paar Tagen brachte Jodi den Hund mit nach Hause. In Jodis Wohnzimmer wurde ein Hunde-Rehabilitationszen­trum errichtet. Sie rief in Tierheimen an, schaltete Anzeigen in Zeitungen und pflasterte Laternenpfähle mit Flyern. Katherine bestärkte Jodi darin, dass es einen Halter geben musste. Doch niemand meldete sich.

Newsprint, Jodis total verzogene Katze, war außerordentlich beleidigt über die Anwesenheit des verkrüppelten Hundes. ­Katherine fand Newsprint ziemlich nutzlos, aber in dieser Frage teilte sie ihren Standpunkt. Allerdings fand sie, dass die Katze doch zu weit ging, als sie einen Guerillakrieg gegen den armen Hund begann.

Katherine ließ sich also darauf ein, den Hund ›vorübergehend‹ zu nehmen. Jeden Tag in der Mittagspause lauschten Annie und Diane den Aktualisierungen dieser Fortsetzungsgeschichte und amüsierten sich köstlich, was Katherine noch mehr in Rage brachte.

Drei Wochen gingen ins Land. Jodi schickte ihren Anrufbeantworter ans Telefon und rief nie zurück. Katherine gab sich alle Mühe, ihr ›zufällig‹ über den Weg zu laufen. Wann immer es ihr gelang, Jodi irgendwo zu stellen, verlangte sie Auskunft über den Stand der Suche nach dem Besitzer des Hundes, doch Jodi war stets zu beschäftigt für ein längeres Gespräch.

Allmählich akzeptierte Katherine, was Diane und Annie schon lange als unvermeidlich erkannt hatten. Sie taufte ihren Dauergast Miss Bennett. Wenn sie schon ein Haustier haben musste, konnte es ebenso gut ein dreibeiniger Hund sein.

Mittlerweile hatten Frau und Hund eine Feierabendroutine entwickelt. Auch jetzt folgte Miss Bennett Katherine in ihr Schlafzimmer und beobachtete erwartungsvoll, wie sie sich umzog. Jeans, Pullover und eine dicke Jacke.

Zurück im Flur, nahm Katherine die Leine vom Haken neben der Tür und blätterte kurz die Post durch, die übliche Ansammlung von Rechnungen und ein weißer, unadressierter und unfrankierter Umschlag. Sie hatte in letzter Zeit schon zweimal ähnliche Umschläge erhalten, beides Spendenaufrufe für Wohltätigkeitsveranstaltungen in der Nachbarschaft: eine zugunsten von Arthritisleidenden, die andere für Herz­patienten.

Ungeduldig stieß Miss Bennett mit der Nase gegen Katherines Bein. Sie legte die Post weg und öffnete die Tür.

Direkt davor stand Brian Campbell. Er wohnte in einem der zweistöckigen Reihenhäuser auf der anderen Seite des Innenhofs, ihr fast direkt gegenüber. Was immer Brian tat, einschließlich warten, tat er mit geradezu schmerzhafter Ungeschicklichkeit. Katherine hatte den Verdacht, es würde einem Außerirdischen leichter fallen, einen normalen Teenager vorzutäuschen, als Brian.

Als sie ihn das erste Mal vor ihrer Tür antraf, war sie ihm mit höflicher Wachsamkeit begegnet. Doch am nächsten Abend war er wieder da, mit Hundekuchen in der Tasche. Der Hund freute sich schon auf Brians Besuch, und Katherine beschloss, den beiden ihren Spaß zu lassen. Seit sie umgezogen war, hatte sie keinen Besuch gehabt und auch niemanden besucht, und manchmal beschlich sie das Gefühl, sie liefe Gefahr, zur Einsiedlerin zu werden.

Brian war die ersten Male recht still gewesen, offenkundig zu schüchtern, um eine Erwachsene anzusprechen, und Katherine kam das sehr gelegen. In müßigem Gerede war sie noch nie gut gewesen. Doch zu ihrem Verdruss öffnete er sich im Laufe der Zeit und stimmte den Klagegesang eines Sechzehnjährigen an. Nichts davon war ungewöhnlich oder interessant. Seine Lehrer waren zu streng, die Schule zu hart, seine Eltern verstanden ihn nicht.

Der arme Brian besaß nichts von dem, was auch immer es war, das Jonathan umweht hatte. Brian konnte einen höchstens an die Schmerzen, die Überempfindlichkeit und die gnadenlose Ungeschicklichkeit der eigenen Pubertät erinnern.

Neben ihren allabendlichen Spaziergängen mit Brian traf sie ihn gelegentlich auch auf der Straße, wenn er mit seiner Familie unterwegs war. Dann war ihm die Zunge angebunden, und er wirkte noch linkischer als sonst. Nach mehreren gescheiterten Versuchen schaffte er es schließlich, sie seinen Eltern vorzustellen. Mr. und Mrs. Campbell schienen ganz anständige Leute zu sein, vielleicht etwas distanziert und gefühlsgebremst. Sie erinnerten sie ein bisschen an ihre eigenen Eltern. Sie hätte eine beträchtliche Summe gewettet, dass Mr. und Mrs. Campbell sich beklagten, ihr Sohn würde ihnen nie etwas erzählen.

Eines Nachts schleppte Katherine einen schweren Wäschekorb in den Waschkeller und stieß dort auf Mrs. Campbell, die an einem langen wackligen Metalltisch in der Mitte des Raums stand und einen Berg Wäsche faltete. In der Intimität des warmen, feuchten Raums, mit dem Gestampfe der Waschmaschinen und Trockner im Hintergrund, kam Brians Mutter ein wenig aus sich heraus. Sie wirkte einsam, hungrig nach jemandem, mit dem sie sprechen konnte, und offener als in Gegenwart ihres Mannes. Sie gestand, dass sie sich Sorgen um ihren sensiblen Sohn machte. Er sei immer ein lebhaftes Kind gewesen, wenn auch ein bisschen … hier suchte sie eine Weile nach einem Wort … zart.

Während seiner frühen Kindheit hatten Mutter und Sohn eine sehr enge Beziehung gehabt, wie sie hervorhob. Aber je näher die Pubertät rückte, desto mehr hatte sich das geändert. Seine Noten waren auf gerade noch ausreichend abgerutscht. Er schien am Schulstoff kein Interesse mehr zu haben. Er schien auch nicht viele Freunde zu haben. Die meiste Zeit verbrachte er in seinem Zimmer und tat wer weiß was an seinem Computer. Er hatte sich eine Website gestaltet, fügte sie hinzu.

Brians Vater, sagte Mrs. Campbell, war ein guter, hart arbeitender Mann. Er verstand bloß die Feinfühligkeit seines Sohnes nicht, weil er selbst kein sensibler Mensch war.

Katherine war gar nicht glücklich darüber, zur Beichtmutter der Familie Campbell erwählt zu werden. Sie war mit Sicherheit nicht qualifiziert, irgendjemandem Ratschläge in puncto Familienleben zu erteilen. So erging sie sich in vagen Gemeinplätzen über einen schwierigen Lebensabschnitt und sagte irgendwas, das darauf hinauslief, dass die meisten Leute das heutzutage irgendwie erfolgreich hinter sich brachten. Und, ergänzte sie, es sei wichtig, die Möglichkeit zum Gespräch ­offen zu halten.

Mrs. Campbell nickte dankbar, als hätte Katherine etwas ­zutiefst Weises und Bedeutendes gesagt.

Und das war’s jetzt?, dachte Katherine. Du bist beruhigt durch Smalltalk mit einer kinderlosen, demnächst geschiedenen Frau, die du im Waschkeller getroffen hast?

Schließlich hatte Mrs. Campbell die ganze Wäsche gefaltet, alles in ihren Korb gestapelt und ging davon, den schweren Waschkorb unter einem Arm. Katherine faltete den Zettel zusammen, auf den Mrs. Campbell die URL von Brians Website geschrieben hatte, und steckte ihn in ihre Jeanstasche. Ein paar Tage später fand sie ihn wieder, als sie einen Schein ihrer Reinigung suchte, und warf ihn auf den alten Kartentisch, der ihr als Schreibtisch wie auch als Esstisch diente. Noch ein paar Tage später fiel ihr der Zettel ins Auge, als sie an ihrem Computer saß, und sie ging auf die Website.

Die Seite war kompetent gemacht, wenn auch weder inspiriert noch originell. Neben Huldigungen an seine Lieblingsbands – die alle zum populären Mainstream gehörten – gab es unscharfe Fotos der katholischen Privatschule, auf die er ging. Die von Tertianerhumor geprägten Versuche, sich über Lehrer und Hausaufgaben lustig zu machen, waren naturgemäß absolut peinlich. Das Ganze kündete in erster Linie von der verzweifelten Anstrengung zu beweisen, dass er ein ganz normaler Typ war.

Nicht ein Mal hatte Brian Katherine gegenüber das durchaus hübsche Mädchen namens Marcia erwähnt, das in den Bildunterschriften als seine Freundin bezeichnet wurde. Katherine war leicht überrascht, denn irgendwie war sie davon ausgegangen, dass Brian schwul wäre. Sie konnte allerdings nichts Bestimmtes benennen, was sie zu dieser Annahme veranlasst hatte.

Und dies war nun ihr erstes Zusammentreffen, seit sie seine Website gesehen hatte. »Machst du einen Spaziergang mit uns?«, fragte sie, als wüsste sie nicht, dass Brian nur aus diesem Grund jeden Abend vor ihrer Tür herumgeisterte. Er schien ungewöhnlich guter Stimmung. Er hüpfte auf und ab. Und grinste. Sie überschlug kurz die möglichen Ursachen für einen derart dramatischen Wandel bei einem normalerweise morbid-depressiven Teenager … vielleicht hatte er sich verliebt?

Er neckte Miss Bennett mit hingehaltenen Leckerlis, und sie bellte und sprang hoch, so gut sie konnte, um sie zu erwischen. Katherine gab den Versuch auf, die Leine am Halsband einzuklinken, und wanderte allein los, da die beiden sie nicht beachteten. Kurz bevor sie die Ecke des Wohnblocks erreichte, kamen sie hinterhergerannt. Brians Laufschritt war so linkisch wie alles andere an ihm, und obwohl Miss Bennetts dreibeiniges Rennen etwas Hüpfendes hatte, wirkte es doch wesentlich eleganter.

Als Brian sie einholte, bemerkte sie: »Du wirkst so glücklich heute.«

»Yeah.« Sein strahlendes Gesicht bettelte, sie möge nach dem Grund fragen. Streng genommen wollte sie die Einzelheiten lieber nicht wissen. Doch jetzt hatte sie davon angefangen, da wäre es geradezu grausam, ihn nicht erzählen zu lassen, worauf er ganz offensichtlich brannte.

»Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du bist verliebt.«

Sie hoffte auf ein empörtes Dementi, um damit das Thema fallen zu lassen. Was sie bekam, war ein unglaublich breites Grinsen.

»Glückwunsch«, sagte sie trocken.

Brian errötete. Er ahnt nichts von der unvermeidlichen Enttäuschung, die vor ihm liegt, dachte Katherine.

Der Himmel war mondlos, wolkenlos und frostig. Sie waren auf den schmalen, gewundenen Weg abgebogen, der durch die baumbestandenen Wiesen führte. Die blattlosen Äste erzeugten einen Funkentanz, wenn sie sich in der leichten Brise vor dem Licht der Häuserfenster bewegten. Ein unerwarteter scharfer Schmerz in ihrer Brust rief ihr in Erinnerung, dass ­Jonathan nie wieder eine Nacht wie diese erleben würde.

Ablenkung war gut. »Ich war auf deiner Website«, sagte sie. »Und ich hab die Bilder von dem Mädchen gesehen. Tut mir leid, ihren Namen habe ich vergessen.«

»Marcia. Sie ist in Ordnung. Echt nettes Mädchen. Ich hab ihre Matheaufgaben gemacht, und sie meinte, es ist okay, wenn ich Bilder von ihr auf meine Seite stelle.« Sein Ton war sachlich.

»Also ist sie nicht diejenige?«

»Nein«, sagte er. »Es ist jemand anders.« Sein Ausdruck flehte: Frag nach.

Sie war weit genug gegangen. Weiter wollte sie nicht.

Aber Brian fuhr impulsiv auch ohne ihre Ermutigung fort. »Ich weiß, dass Sie das verstehen«, sagte er. »Auch wenn die es nicht tun.« Da war ein bitterer Unterton.

So schnell hatten sie sie erreicht, die Linie, die Katherine keinesfalls überschreiten wollte. Sie spielte auf Zeit. »Ich fühle mich geehrt, dass du annimmst, ich würde verstehen, aber …«

»Ihr Auto.« Er sagte das, als wäre es eine Erklärung von außerordentlicher Bedeutung. »Der Sticker über Ihrer Stoßstange, an Ihrem Auto.«

Der Aufkleber. Das war es also. Deswegen hatte Brian ihre Gesellschaft gesucht. Darum hatte er sich ein Herz gefasst und beschlossen, ihr seine Probleme anzuvertrauen.

Sie sollte ihm die Wahrheit sagen. Als sie einen Gebrauchtwagen kaufen ging, war sie berauscht von der Aussicht auf ihr neues Leben. Ohne genau zu wissen, was sie suchte, bemerkte sie den Geruch nach nassem Hund, die zerrissenen Rücksitzbezüge, den fadenscheinigen Fußraumbelag und den regen­bogenfarbenen Gay Pride-Sticker am Heck. Als sie den Sticker sah, entschied sie sich spontan zum Kauf. Sie war kein Mensch, der an Botschaften aus dem Jenseits glaubte. Und selbst wenn sie dergleichen für möglich hielte, würde sie nie glauben, dass Seth ihr eine so abgedroschene Nachricht schickte. Trotzdem rührte sie der Sticker. Er erinnerte sie so an ihn.

Zwar war es nicht ihre Schuld, dass Brian falsche Schlüsse zog, aber nachdem er sich so weit rausgewagt hatte, konnte sie ihn nicht einfach im Regen stehen lassen. »Also ist deine Flamme ein Kerl.«

Er nickte und strahlte übers ganze Gesicht. Das war nicht derselbe Junge, mit dem sie seit Monaten jeden Abend spazieren ging. Sie hätte schwören können, dass sich sogar seine Haltung leicht verändert hatte.

»Du hast schon recht. Ich verstehe das.« Sie sprach langsam, als würden die Worte aus ihr herausgezogen, aber er schien das nicht zu bemerken.

»Ich weiß, Sie werden es keinem erzählen …«

Sie wartete darauf, dass er weitersprach, aber das tat er nicht. Sie seufzte. »Und vor wem genau willst du das geheim halten?«

»Eigentlich vor allen. Den Leuten in der Schule, den Jungs. Meinen Eltern – ganz besonders vor meinen Eltern!« Seine Stimme hob sich, während er sprach, bis er den Satz in einer unschönen Lage panischen Quiekens beendete.

Das Problem mit Teenagern ist, dachte sie, dass sie so unbeständig sind, die Stimmung schwingt heute in die eine Richtung, dann wieder in die andere. Aber sie hatte ihn nicht davon abgehalten, die Katze aus dem Sack zu lassen, also war es nun an ihr, Ordnung in dieses Durcheinander zu bringen.

Es musste doch in seinem Leben jemanden geben, der sich besser eignete, um dergleichen zu handhaben. Irgendeinen Menschen, dem sie das ganze Problem in den Schoß kippen konnte. »Du musst doch jemanden haben, mit dem du über so was reden kannst?«

Er schüttelte den Kopf.

Ihr sank das Herz.

»Was ist mit deinem Freund? Vielleicht kennt er jemand, mit dem ihr beide reden könnt?«

Brians Lächeln flammte wieder auf. So musste er für seinen Geliebten aussehen, dachte sie. Es war etwas Besonderes darin. Etwas, das sie bei ihm nicht vermutet hätte.

»Er ist großartig. Er ist …«

Brian ging rückwärts vor ihr, rang nach Worten und gestikulierte mit den Händen. Er stolperte über irgendetwas, schlug beinahe lang hin und fing sich gerade noch ab, so dass er auf dem Hintern landete. Miss Bennett bellte und sprang an ihm hoch, glücklich über dieses neue Spiel.

Brian lachte. Es war das erste Mal, dass sie ihn lachen hörte. Dann kraulte er Miss Bennett hinter ihrem Schlappohr und rappelte sich vom Boden auf.

»Na schön«, sagte Katherine nach einer Weile. »Das ist gut. Ihr habt einander, um zu reden.«

Sein Gesicht verdüsterte sich wieder. »So oft kann ich ihn nicht sehen.«

»Geht er nicht auf deine Schule?«

Er schüttelte den Kopf. »Und wir müssen vorsichtig sein.«

»Ich weiß«, sagte sie. Seit jeher verliebten sich Teenager gegen die Wünsche ihrer Eltern, lange vor Romeo und Julia, und in all dieser Zeit waren Eltern offensichtlich nicht klüger geworden. Begreifen sie denn gar nichts? Wenn es etwas gibt, das aufregender ist als die erste Liebe, dann ist es eine verbotene erste Liebe.

»Es müsste doch irgendeine Anlaufstelle für schwule Jugendliche an deiner Schule geben.«

Brian schnaubte verächtlich.

»Schon gut, entschuldige. Aber irgendwo in der Gemeinde muss es einen Treff für schwule Kids geben. Ich meine, wir sind hier in New York City!« Sein verständnisloser Gesichtsausdruck zeigte ihr, dass diese Worte für ihn nicht dieselbe Bedeutung hatten wie für sie. Wo sie aufgewachsen war, war New York City ein Synonym für Zügellosigkeit und Sittenverfall, für alles Unmoralische und Unerwünschte. »Vielleicht kann ich für dich eine Gruppe oder so was ausfindig machen. Du brauchst unbedingt jemanden, mit dem du reden kannst.« Statt mit mir, fügte sie in Gedanken hinzu.

»Ja, das hat Rob auch gesagt.«

»Rob hat recht.«

»Ich weiß nicht. Ich glaube, ich kann so was nicht.«

»Es schadet ja wohl nicht, ein paar Telefonnummern zu haben, falls du sie brauchst.«

»Ich muss vorsichtig sein. Niemand darf was merken. Wenn doch, kann ich ihn nicht mehr sehen.«

Ihr gefiel die Richtung nicht, in die das führte. Ein Minderjähriger, der in der Erziehungsgewalt seiner Eltern zu Hause lebte. Es stand ihr nicht zu, sich da einzumischen.

»Denken Sie, ich bin pervers? Oder haben Sie keine Pro­bleme mit mir und Rob?«

Er wusste längst, dass sie ihn nicht für pervers hielt. Also schön, dachte sie, wenn er es noch mal hören muss, sage ich es eben noch mal. Ich erteile dieser Beziehung den Segen einer Gay Pride-Stickerbesitzerin. »Nein, Brian, ich glaube nicht, dass du pervers bist.« Sie zögerte einen Augenblick, dann dachte sie: Wer A sagt … »Hör mal, Brian, muss ich mit dir über Safer Sex reden?«

Sie waren wieder bei ihrem Hauseingang angekommen, und im Schein der Lampe über ihrer Tür sah sie, dass er knallrot wurde.

»M-m, danke, nein. Rob ist bei so was wirklich vorsichtig.«

Gott sei Dank. Sie fühlte sich sehr alt. Wenigstens blieb es ihr erspart, Nachhilfestunden mit Demo-Bananen und Kondomen zu erteilen.

Zu guter Letzt blieb nur noch eins, was sie ihm sagen konnte. »Die meisten Leute, die zu kennen sich lohnt, hatten eine harte Zeit in der Schule. Dann geht man irgendwann raus in die Welt und wird man selbst. Du musst nur noch eine Weile durchhalten. Es kommt schon alles in Ordnung.«

Sie hätte nach dem ersten Satz aufhören sollen. Sie hatte ihre eigene Regel gebrochen: Sie hatte einem Kind versprochen, was nicht zu halten war.

»Im Ernst?«, fragte er. »Hatten Sie auch eine harte Zeit in der Schule?«

»Es war die Hölle«, sagte sie und dachte: Und das ist noch krass untertrieben. »Ich muss jetzt rein, Brian. Pass einfach gut auf dich auf, okay?«

Er blieb auf dem Gehweg stehen und sah zu, wie sie ihre Tür aufschloss. Miss Bennett bellte ihm noch einmal zu und zerrte Katherine dann nach drinnen.

Sie zog ihre Jacke aus und füllte Wasser und Futter in Miss Bennetts Näpfe. Anschließend stellte sie sich an den kleinen Arbeitstresen in der Küche und widmete sich ihrer Post. Öffnete die unvermeidlichen Rechnungen, eine nach der anderen, bis sie zu dem letzten Brief kam, der unfrankierte und, wie sie jetzt bemerkte, auch unverschlossene weiße Umschlag. Das Blatt darin war einmal gefaltet. Als sie es aufklappte und sah, was es war, war ihr erster Gedanke: Nein, das kann nicht für mich sein, mir passieren solche Sachen nicht. Die Botschaft bestand aus einzelnen Buchstaben, die offensichtlich aus Zeitungen und Magazinen ausgeschnitten waren.

Noch ehe sie zu lesen begann, empfand sie spontane Erleichterung. Das konnte ja nur ein Witz sein. Oder ein Versehen. Es konnte unmöglich für sie bestimmt sein. Die ungleichen Buchstaben verkündeten: »Ich habe es Ihretwegen getan.«

Ich habe es Ihretwegen getan.

Für den Bruchteil einer Sekunde dachte sie noch einmal an Botschaften aus dem Jenseits. So sehr vermisse ich Jonathan, dachte sie. Wie ich es bereue, dass ich in den Wochen vor seinem Tod nicht mit ihm geredet habe. Aber Jonathan ist fort … ­wohin? Vermutlich ins Leichenschauhaus. Und nun war es zu spät. Sie konnte nicht mehr ändern, was geschehen war. Was sie für Seth getan und nicht getan hatte, und später für Jonathan. Sie hatte denselben Fehler erneut gemacht.

Aber diese Botschaft kam natürlich nicht von Seth oder ­Jonathan. Sie kam von einer verrückten Person, einem Durchgeknallten. Oder einem der dämlichen Kinder aus der Nachbarschaft. Oder Brian schickte ihr eine obskure Nachricht, von der sein lustgetrübter Verstand annahm, sie könnte sie verstehen. Höchstwahrscheinlich bedeutete es jedoch einfach gar nichts. Es war nicht mal für sie bestimmt. Sie erlebte nichts dergleichen. Erlebte eigentlich gar nichts. Andere Leute erlebten etwas, sie nicht.

Vielleicht wäre es aufrichtiger zu sagen, dass sie nichts unternahm. Sie hatte keine Familie. Sie sah sich lediglich an, wie andere aus ihren Familien einen Trümmerhaufen machten.

Sogar ihre Ehe hatte sich irgendwie ohne ihr Zutun abgespielt. Das Apartment, die Partys, die Abendessen. Alles war so glatt gelaufen, Barry hatte wahrscheinlich überhaupt nicht gemerkt, dass sie gar nicht mitmarschierte.

Sie warf den Brief in den Müll.

Sie hatte vergessen, etwas zu essen. Im Licht des Kühlschranks thronte zwischen den ansonsten leeren Fächern ein einsamer, leicht verschrumpelter Apfel. Sie nahm ihn heraus und biss in die schlaffe weiche Haut. Durch das Fenster in ihrer Küche konnte sie über den flachen grünen Innenhof auf die Rückseite des Campbell’schen Reihenhauses gucken.

Sie hatte es nie betreten, aber sie wusste, die Townhouse-Apartments waren alle gleich: zwei Schlafzimmer oben, eins unten. Die Campbells hatten ihre Gardinen und Jalousien noch nicht zur Nacht geschlossen. Brigit, Brians Schwester, saß an ihrem Schreibtisch. Mr. und Mrs. Campbell saßen im Wohnzimmer vor dem Fernseher, sie konnte die Silhouetten ihrer Hinterköpfe vor dem blauen Schein ausmachen. Während sie hinschaute, ging in Brians Zimmer das Licht an. Sie sah, wie er den Raum durchquerte und die Jalousien schloss, dann warf sie das Apfelkernhaus in den Mülleimer.

In ihrem Schlafzimmer zog sie sich eine Bürste durch die glatten braunen Haare und flocht sie schnell zu einem kurzen Zopf. Sie schnappte sich ihre Jacke, die sie auf einen Stapel ungeöffneter Umzugskartons gleich bei der Tür geworfen hatte, und ging.

Sie zögerte einen Augenblick, bevor sie sich entschied, das Auto zu nehmen. Doch sie hatte ihre Zeit zu knapp bemessen, also fischte sie die Autoschlüssel aus der Tasche und ging rüber zum Parkplatz. Die Straßenbeleuchtung und die Lichter des Gebäudes verhinderten auch in einer mondlosen Nacht die ­totale Dunkelheit, aber unter den Ästen der Bäume standen die Autos in tiefem Schatten.

Sie schob gerade den Schlüssel ins Türschloss, als sie aus dem Augenwinkel irgendein kleineres Tier entdeckte, genau unter der Autotür. Sie verabscheute Ratten, und auf diese spezielle Ratte entwickelte sie augenblicklich eine irrationale Wut, weil das Vieh nicht mal den Anstand besaß, beim Erscheinen eines Menschen zu flüchten. Unwillkürlich trat sie mit dem Fuß zu und verschätzte sich in der Entfernung. Der sture Nager bewegte sich nicht mal, als ihr Schuh ihn berührte. Der Tritt traf mit einem stumpfen Aufprall, und sie empfand Widerwillen bis in die Knochen. Sie hatte ein totes Tier getreten.

Und es war keine Ratte. Sie trat näher. Definitiv keine Ratte. Eigentlich konnte sie nur feststellen, dass es aufgeschlitzt war. Wegen der Verstümmelung, dem vielen Blut und der Dunkelheit konnte sie nicht sicher sein, aber sie befürchtete, dass es sich um Jodis fette schwarzweiße Katze handelte.

Sie fühlte sich benommen. Sie hatte nicht direkt Angst. Sie war noch nie sonderlich schreckhaft gewesen. Es war einfach die Konfrontation mit etwas, das niemand gern sah. Dem Tod.

Was war hierfür verantwortlich?

Ein Koyote war im Park gesehen worden. Sie selbst hatte ein paar Waschbären erspäht. Würde ein Waschbär eine Katze umbringen? Sie wusste es nicht. Sie kannte keine Hunde in der Nachbarschaft, die gefährlich genug aussahen, um so etwas zu tun, aber das war natürlich auch eine Möglichkeit. Arme Jodi. Obwohl der Gedanke, die gestörte Newsprint hätte am Ende einen Hund zu viel getriezt, auch was von höherer Gerechtigkeit hatte.

Sie kam zehn Minuten zu spät in Peter’s Pub an, weil sie sich noch die Zeit genommen hatte, den Hausmeister Mr. Donnelly aufzusuchen und ihm den Vorfall zu melden. Der ältere Mann war ängstlich darum besorgt, Katherine zu überzeugen, dass er der Situation gewachsen war. Er würde alles sauber machen und Jodi Bescheid sagen, und morgen würde er allen eine Notiz zustellen, die sie davor warnte, ihre Haustiere frei herumlaufen zu lassen. »Das ist auch gegen die Vorschriften«, verkündete er ernst, dabei wussten sie beide, dass er immer ein Auge zudrückte, weil er zum einen tierlieb und zum anderen mehr als nachlässig war.

Der Pub war fast leer. An der Bar hingen ein paar Männer in der typischen Haltung von Leuten, die schon eine Weile auf einem Barhocker ausharrten und dies auch noch längere Zeit vorhatten. Mendrinos saß an einem der wenigen Tische, die Tür im Blick, ein Bier vor sich.

Er stand auf, als sie hereinkam. Sie war aufs Neue überrascht, wie dünn er war. Und wirklich sehr groß, das hatte fast etwas Komisches bei jemandem, der so gar kein Athlet war.

»Danke, dass Sie extra den Weg auf sich genommen haben«, sagte sie. Bei ihrem Telefonat am Nachmittag hatte er auf einem Treffpunkt in der Nähe ihrer Wohnung bestanden. Er werde ziemlich spät noch im Büro zu tun haben und wolle nicht, dass sie so lange im Gericht auf ihn warten musste. Wobei er stillschweigend davon ausging, dass sie das selbstverständlich getan hätte. Und tatsächlich, das hätte sie. Aber Mendrinos hatte keine Ahnung, dass die Arbeitskultur beim ACS normalerweise nicht die endlosen Überstunden und die ständige Verfügbarkeit voraussetzte, die der Job eines Staatsanwalts mit sich brachte.

»Ist mir ein Vergnügen. Nehmen Sie doch Platz. Ich bestelle Ihnen ein Bier.« Seine Stimme war ruhig und höflich, dabei sehr selbstsicher. An der Grenze zur Arroganz.

Sie hatte schon ewig kein Bier mehr getrunken. Der hefige Geruch, das schummerige Licht und der angeknackste zerkratzte Tisch führten sie fast in Versuchung. Sie schüttelte ablehnend den Kopf und schälte sich aus ihrer Jacke. Dabei verfing sich ihr kurzer Zopf im Kragen, und sie schüttelte wieder den Kopf, um ihn zu befreien. Endlich streifte sie die Jacke ab und ließ sie als Haufen auf den nächsten Stuhl fallen.

Er sah aus, als hätte er eine Rede für sie vorbereitet, aber sie hob die Hand, bevor er zu sprechen begann. »Ich muss Ihnen zunächst etwas sagen. Ich kannte Jonathan Thomson. Ich war bei ACS für seinen Fall zuständig und anschließend ehrenamtlich als seine Mentorin tätig.«

Sie hatte mit Ressentiments und Widerstand gerechnet und sich darauf vorbereitet, ihn zu überzeugen, dass sie trotzdem die Richtige für diesen Auftrag war, aber in seiner Miene lag keinerlei Überraschung. Allerdings mied er ihren Blick, als sei das Thema ein wenig peinlich.

»Ich bedauere Ihren Verlust«, sagte er. »Diane hat mich heute Nachmittag schon angerufen und mir erzählt, dass Sie mit dem jüngsten Opfer befreundet waren. Das muss hart für Sie sein.«

Sie zuckte die Achseln, als wäre das nebensächlich. »Ich habe ihn seit ein paar Monaten nicht mehr gesehen. Also wollen Sie nicht jemand anderen anfordern?« Na toll, Katherine, rügte sie sich. Diesen Vorschlag hättest du dir ja wohl besser gespart.

»Nach allem, was ich höre, wird das kaum nötig sein. Diane findet nicht, dass die Umstände gegen Ihre Mitarbeit sprechen. Sie denkt vielmehr, Sie könnten bei den Ermittlungen eine große Hilfe sein. Die Frage ist höchstens, ob Sie glauben, Sie kommen damit klar. Gefühlsmäßig.« Sein Blick heftete sich auf die Tischplatte, als ob das letzte Wort ihn verlegen machte.

»Kein Problem.«

»Gut.« Er ließ die Verschlüsse seines Aktenkoffers aufschnappen, zog eine Akte heraus und legte sie auf den Tisch. »Wir nennen den Täter ›Jack‹.« Sein schiefes Lächeln zeigte, dass das nicht seine Idee war. »Wenn unser Jack alle drei umgebracht hat, und es sieht ganz danach aus, dann gibt es ­irgendetwas, was die Opfer gemeinsam hatten und was uns zu ihm führen kann. Alle drei haben in der Bronx gelebt, aber die Leichen waren über die südliche Hälfte des Stadtteils verteilt. Keins der Opfer stammte aus derselben Nachbarschaft, es wäre also gut zu wissen, wo sie Jack in die Arme gelaufen sein könnten. Die Ermittlungen haben schon etliche Möglichkeiten eliminiert. Sie gingen nicht auf die gleiche Schule, hatten keine gemeinsamen Freunde, soweit wir das überblicken, sie arbeiteten auch nicht am gleichen Ort. Nehmen Sie Thomson. Sie werden seine Geschichte besser kennen als ich. Seine Mutter starb an …« Er schlug die Akte auf.

»AIDS.«

Er nickte. »Über den Verbleib des Vaters ist nichts bekannt.« Diesmal fiel sein fragender Blick auf sie statt in die Akte.

Sie nickte abwartend.

»Es gibt einen Onkel in New York, der den Vater des Jungen zuletzt gesehen hat, als der vor sieben Jahren ›für ein paar Tage‹ seinen Sohn bei ihm ablieferte. Alle anderen Verwandten leben in South Carolina. Der Junge ist ihnen nie begegnet. Seine Leiche bleibt in Verwahrung, bis wir da unten jemanden erreicht haben.«

Sie nickte wieder.

»Soweit ich gehört habe, war er …«, er zögerte, »ein interessanter Junge.«

Sie fand es aussichtslos, jemandem Jonathan zu erklären, der ihm nie begegnet war. »Ja, das kann man wohl so sagen.«

Mendrinos bemerkte die dunklen Ringe um Katherines ­Augen, die Art, wie an ihren Handgelenken die Knochen scharf hervortraten. Keine Armbänder, Ohrringe oder Halsketten. Kein Ring. Ihre Hände waren zierlich und ihre Haut so hell, dass er die blauen Linien ihrer Venen an den Innenseiten der Handgelenke sah. »Ich muss Sie warnen. Es handelt sich hier um ungewöhnlich brutale Gewaltverbrechen. Wir benötigen Ihre Hilfe nur im Bereich Ihrer Spezialkenntnisse, nicht beim gerichtsmedizinischen Teil. Es besteht also kein Anlass, sich mit den forensischen Details dieser Verbrechen zu befassen. Tatsächlich rate ich Ihnen energisch davon ab.«

Sie sah ihm direkt in die Augen. Darauf war sie vorbereitet. »Hat Diane Ihnen nicht erzählt, dass sie mir die schlimmsten Missbrauchsfälle zuweist? Die, die sonst niemand verarbeiten kann? Ich habe jede Menge Autopsieberichte gesehen. Ich finde, das Schlimmste sind verhungerte Kinder. Ich habe so viele gesehen, dass ich Ihnen genau beschreiben kann, wie ihre Körper die Muskeln metabolisieren und in welchen Stadium der Dehydration die Lippen aufbrechen.«

Sie merkte, wie sie immer schneller sprach und damit den Eindruck kompetenter Sachlichkeit ruinierte. Sie zwang sich zur Ruhe.

»Oder vielleicht möchten Sie etwas über das gekochte Baby hören. Oder den Vorfall mit den polnischen Würstchen. Oder über den Fall, den wir das Knack-und-Back-Baby nannten …« Sie brach ab. Sie war zu weit gegangen. »Sagen Sie es mir, bevor wir anfangen. Ich will wissen, was mit Jonathan passiert ist. Ich verkrafte das.«

Ihr wurde erst bewusst, dass sie ihn anstarrte, als er seinen Blick von ihrem löste und irgendwo in die Ferne sah. Seine Stimme klang so professionell wie immer. »Er wurde genau wie die anderen beiden ermordet. Er wurde gefoltert, vergewaltigt und getötet.«

Gefoltert. Es hallte durch ihren Kopf. Aber Mendrinos beobachtete sie, und sie hatte nicht die Absicht, sich irgendetwas anmerken zu lassen.

Sie ist gut, dachte er. Diane hatte ihm berichtet, dass sie dem Jungen viel zu nahe gestanden hatte. Und wenn ich ein wirklich guter Mensch wäre, dachte er, würde ich sie nicht an diesem Fall arbeiten lassen.

»Was wissen Sie über den, der das getan hat, über diesen ›Jack‹?«

Mendrinos lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Man könnte denken, er will aufgespürt werden. Er bringt sie irgendwo um und transportiert die Leichen dann an ziemlich öffentliche Orte. Zweimal auf ein Dach, einmal auf ein Abrissgrundstück.« Er seufzte. »Wenn er geschnappt werden will, haben wir ein gemeinsames Anliegen. Wir wollen ihn nämlich kriegen, bevor er den Nächsten erwischt.«

»Was meinten Sie mit gefoltert?«

Aha, jetzt hakte sie also zeitverzögert nach, um ihn nicht merken zu lassen, wie nah ihr das ging. »Er kettet sie an den Handgelenken an. Dann schlitzt er sie mit dem Messer auf. Von der Brust abwärts, vom Bauch aufwärts.« Seine Hände gestikulierten anschaulich über seinem Oberkörper. »Es ist fast, als ob er sie in Scheiben schneiden will. Die Schnitte sind dicht beieinander, die Haut zerfetzt. Manche oberflächlich, manche tief.«

»Sind sie noch am Leben, während er das tut?«, fragte sie in beiläufigem Ton.

Er nickte und vermied weiterhin ihren Blick. »Ein paar Einzelheiten konnten wir bisher vor der Presse geheim halten.« Er wartete ihr Nicken ab und fuhr dann fort. »Alle drei Opfer waren bei ACS aktenkundig.«

Das war es also. Deshalb wollte die Staatsanwaltschaft jemanden von ACS zu den Ermittlungen hinzuziehen.

»Also nicht nur Jonathan.« Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und versuchte zu verdauen, dass jeder der toten Jungen ein ACS-Fall gewesen war.

»Und alle waren irgendwann in Pflegeeinrichtungen untergebracht.«

Sie wählte ihre Worte sorgfältig. »Sie werden doch nicht annehmen, dass da eine Verbindung besteht? Ich meine, wir klopfen manchmal Sprüche darüber, dass es in der Bronx ­eigentlich kein Kind mehr geben kann, das noch nicht mit ACS zu tun hatte. Aber das ist bloß ein mieser Witz. Andererseits, wie stehen die Chancen, dass jemand hintereinander drei Jungs ermordet …« Ihre Stimme versiegte.

»Es kann reiner Zufall sein. Aber vielleicht ist es auch ein Bindeglied. Also dachte ich, es könnte hilfreich sein, wenn jemand mit ACS-Einblick uns Hintergrundinfos zum Thema gibt. Diane hat Sie empfohlen. Sie sagte, Sie sind schon lange dabei. Und sie vertraut Ihrem Urteil voll und ganz.

Noch etwas. Mordermittlungen sind einfach so: Es gibt immer verrückte Zufälle, die vielleicht etwas zu bedeuten haben, sich dann aber oft als völlig bedeutungslos erweisen. In der Zwischenzeit haben wir wertvolle Zeit verschwendet, um das herauszufinden.«

»Also, wo waren die Jungs untergebracht?«

»Von Jonathan wissen Sie es ja, er war im Gruppenhaus ­Watson & Green. Craig Wadley, das erste Opfer, lebte mit ACS-Zuwendungen bei seinen Großeltern, aber es gab da wohl Meinungsverschiedenheiten, und so schlief er meist bei Freunden auf dem Sofa. Nach Shawan Castro wurde seitens des Fami­liengerichts gefahndet. Er ist vor einiger Zeit aus einer Einrichtung weggelaufen.«

»Und was genau wollen Sie jetzt von mir?«

Er schloss den obersten Hefter des Stapels, der vor ihm lag.

Rasch griff sie über den Tisch und zog den Aktenstapel auf ihre Seite herüber, bevor er seine Meinung noch mal ändern konnte.

»Das sind Kopien von allem, was unserer Meinung nach für Sie wichtig sein könnte. Wir haben bei ACS die Fallakten angefordert. Was ich Ihnen hier gebe, haben unsere Ermittler bereits gesichtet. Aber ich dachte, vielleicht verhilft Ihnen Ihr Fachwissen zu einer Erkenntnis, oder Sie entdecken etwas, das wir übersehen haben, weil Sie mit dem Feld besser vertraut sind. Alles, absolut alles, was irgendwie auf eine Verbindung zwischen den Opfern hindeuten könnte, will ich sofort wissen. Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf, ob es zu unbedeutend ist. Damit befassen wir uns dann schon. Und sollten Sie feststellen, dass Sie Informationen brauchen, die nicht in diesen Akten stehen, dann geben Sie mir Bescheid.

Ein große Sonderkommission arbeitet an diesem Fall. Kriminalbeamte vom Morddezernat, das Büro der Staatsanwaltschaft und weitere. Ich bin Ihr Kontaktmann. Der zuständige Ermittlungsleiter Stephen Russo ist ein guter Mann, aber bitte unterrichten Sie mich, bevor Sie ihm irgendetwas zutragen, ja?«

Katherine zog die Akten noch näher an sich heran. »Klar«, sagte sie. »Ich hab’s begriffen.«

Die Farbe der Leere

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