Читать книгу Die Farbe der Leere - Cynthia Webb - Страница 9
ОглавлениеStephen Russo legte auf, kletterte aus dem Bett und knurrte Rosemarie zuliebe gedämpft vor sich hin. Im Dunkeln tastete er nach seinen Sachen, da klickte hinter ihm die Lampe an. Als er in seine Hosen stieg, setzte sie sich auf, den Rücken ans Kopfbrett gelehnt, und sah ihm zu. Schlaf weiter, sagte er. Mach nicht extra Kaffee. Er würde sich unterwegs einen besorgen. All die Jahre, all die Anrufe. Und bis heute hasste sie es, wenn er so aufbrach. Sie würde sich Sorgen machen, bis er am Abend nach Hause kam, und dann am nächsten Morgen wieder. Aber sie würde sich nicht beklagen. Sie hatte gewusst, worauf sie sich einließ, als sie ihn heiratete.
»Leg dich wieder hin. Gönn dir noch ’ne Stunde Schlaf, bevor die Monster aufwachen.«
Ihm zu Gefallen schlüpfte sie wieder unter die Steppdecke, zog sie über die Schultern und machte die Augen zu. Lauschte auf seine Schritte, als er den Raum durchquerte und so leise wie möglich die Tür hinter sich schloss. Sie erhielt die Illusion aufrecht, dass sie wieder einschlief. Dabei wussten sie beide, dass sie auf den Beinen und in der Küche zugange sein würde, noch ehe sein Wagen die Auffahrt verließ.
Der Anruf war von Malone gekommen, die Nachricht so knapp, wie es ihre Art war: Noch ein toter Junge. Aufgeschlitzt wie der letzten Monat. Schon als ihn das Telefonklingeln weckte, hatte er den Adrenalinkick gespürt. Gott, wie er den Thrill liebte, wenn er so einen Anruf bekam. Er war süchtig danach. Er wusste, er war genauso drauf wie ein Junkie, der sich mit dem geklauten Geld seiner Freundin in einem versifften Loch Crack kauft.
Seine Hochstimmung verflüchtigte sich schnell, als er am Tatort eintraf, einen Pappbecher Kaffee in der Hand, mit gut sitzender Ermittlerattitüde, und einen Blick auf die übel zugerichtete Leiche des Jungen warf. Das also ist der Anblick, den ich kaum erwarten konnte.
»Da haben wir’s wohl mit einem richtigen Jack the Ripper zu tun, was?«, sagte er statt Begrüßung zu seiner Partnerin Patricia Malone: blaue Augen, Pferdeschwanz, Kaugummi im Mund wie immer.
Sie schüttelte den Kopf und ließ zur Antwort eine Blase platzen. Das hier nahm auch sie mit. Er wusste Bescheid. Im Licht der Scheinwerfer, die die Kriminaltechniker aufgestellt hatten, sah er die fahle Blässe ihrer hellen Haut unter den Sommersprossen. Aber vor allem wusste er es, weil er Malone kannte.
Er war an den Anblick in Stücke geschossener oder an Messerstichen verbluteter Teenager gewöhnt, schließlich war das hier die Bronx. Aber die Szene vor ihm war etwas anderes. Er hätte gern gesagt, dass er so etwas noch nie gesehen hatte, nur dass er genau so etwas vor weniger als einem Monat gesehen hatte.
Die Rechtsmedizinerin Janet Fogey schlenderte rüber an die Kante des Daches, um sich eine Zigarette anzuzünden. Russo und Malone gesellten sich zu ihr.
Sie warteten, während Janet einen tiefen Zug nahm, ihn dann langsam ausatmete wie einen tiefen Seufzer. »Ihr kennt ja den Trott. Vor Abschluss der Autopsie ist nichts gesichert.«
»Klar«, sagte Russo.
»Stranguliert, vergewaltigt.«
Russo wartete auf mehr. Fogey betrachtete die Zigarette, als könnte sie sich nicht erklären, wie sie in ihre Hand gekommen war.
»Klar«, sagte Russo schließlich. »Aber was ist mit …« Er gestikulierte mit der Hand zwischen Bauch und Brust.
Sie warf die Zigarette auf das Dach und zertrat sie weitgehend ungeraucht unter ihrem Absatz. »Wie der vorige, soweit ich das sagen kann. Eher Schnitte als Stiche. Sieht aus, als wär das Messer hineingestoßen und dann durch das Fleisch gerissen worden. Immer und immer wieder. Vielleicht ein paar Dutzend Mal, würde ich sagen. Mindestens.«
»Ist er so jung, wie er aussieht?«, fragte Malone.
Fogey zuckte die Achseln. »Um die fünfzehn, nicht gerade groß für sein Alter.«
Niemand sagte: »Genau wie der andere«, aber sie dachten es.
»Irgendwo da draußen läuft ein echt kranker Typ rum«, sagte Malone.
Fogey zuckte wieder die Achseln und fischte sich eine neue Zigarette aus ihrer Jackentasche. »Ich hab schon schlimme Sachen gesehen«, sagte sie. »Aber das hier gehört zum Härtesten.« Sie zückte ihr Feuerzeug und zündete die Zigarette an.
Russo trat beiseite und stellte sich an die hüfthohe Brüstungsmauer am Dachrand. Der Geruch von Zigarettenrauch erinnerte ihn immer an seinen Vater, der seit drei Jahren tot war. Er hatte gehört, manche Männer erlebten so eine Art Befreiung, wenn ihre Väter starben. Als könnten sie mit ihrem Leben nun endlich anfangen, was sie wollten. Aber Paps war ein knallharter Scheißkerl gewesen, und Russo war sicher, der alte Mann würde ihn unverzüglich heimsuchen, wenn er irgendetwas anderes machte als das, was er jetzt tat. Nicht, dass Russo das je ernstlich in Erwägung gezogen hätte.
Im ersten Tageslicht waren die hässlichen Konturen des Viertels noch verschwommen, die Straßen ruhig. Die beste Zeit des Tages, dachte er. Und dann: Der Kerl, der dasgetan hat, ist irgendwo da draußen. Und Russo hatte ihn nach dem ersten Mal nicht erwischt. Sicher, es gab noch andere, denen das mit anzulasten war, wenn er so wollte. Aber er, Russo, nahm es immer persönlich.
Jemand hatte ein Messer genommen und den Jungen da hinter ihm abgeschlachtet, buchstäblich geschlachtet, und dieser Jemand war unterwegs auf diesen Straßen, in denen es jetzt gerade hell wurde. Russo musste ihn kriegen. Die Sonne stand inzwischen hoch genug, dass er den Müll auf den Gehwegen erkennen konnte. Und wieder fühlte er das Summen in seinen Adern.
Russo drehte sich um und sah nach, was Malone trieb. Sie sprach immer noch mit Fogey, die gerade die nächste Zigarette ausmachte. Er rief: »Fogey, wenn das Ihre Methode ist, aufzuhören, wird Sie das ein Vermögen kosten. Weiterrauchen ist billiger.«
Drei Wochen später fanden sie den dritten Jungen. Auf einem leeren Abrissgrundstück hinter einem Schutthaufen. Inzwischen nannten sie den Täter Jack. Ihm einen Namen zu verpassen machte es erträglicher, gab ihrem Hass eine Art Ziel. Seit dem Tag, als sie die zweite Leiche gefunden hatten, verbot Russo seinen Kindern, auf der Straße herumzuhängen. Er wollte auch nicht, dass sie nach Einbruch der Dunkelheit noch Freunde besuchen gingen.
An diesem Abend kam Russo spät nach Hause. Der Kick war längst verflogen, die Frustration hatte eingesetzt. Er hatte den Scheißkerl nicht gekriegt, und der Scheißkerl hatte es wieder getan. Dieses Schwein spielt mit mir, dachte Russo.
Rosemarie war in Sorge, weil sie Andy erlaubt hatte, zum nächsten Häuserblock zu gehen und mit einem anderen Kind an seinem Wissenschaftsprojekt zu arbeiten. Schließlich war Russo zu selten da, um ihm bei seinen Schulaufgaben eine Hilfe zu sein, daher fand sie, das müsste sie ihm zubilligen.
Das ging schon in Ordnung. Denn sie hatten jetzt drei Morde und ein klares Muster. Die körperlichen Merkmale der Opfer zeigten deutlich einen bestimmten Typ – Schwarze oder dunkle Latinojungs zwischen dreizehn und sechzehn Jahren. Alle klein und schmächtig, für ihr Alter eher unterentwickelt.
Andy war erst elf und rundlich, und Johnny Junior war ein großer Junge, breitschultrig und muskulös vom regelmäßigen Krafttraining. Vor allem aber kamen die Opfer nicht aus Familien, wie er und Rosemarie für ihre Kinder eine geschaffen hatten. Es waren Kids, die auf der Straße lebten oder in überfüllten engen Wohnungen. Zu viele Leute und immer zu wenig Geld. Der letzte Junge hatte in einer Art Jugendasyl gehaust, so schlecht stand es um ihn. Jack machte Jagd auf Kids aus einem anderen Leben. Von ihrer Realität so weit entfernt, als lebten sie in einem anderen Land.
Als Russo ihr das erklärt hatte, sprach Rosemarie ein leises Dankgebet und schämte sich dabei. Schämte sich, weil sie so dankbar war, dass nur anderer Leute Kinder in Gefahr waren, dass nur andere Mütter krank vor Sorge sein mussten.
Russo setzte sich mit einem Bier an den Tisch und dachte an die Gegend, wo sie den dritten Jungen gefunden hatten. Als er während der mittlerweile vertrauten Routinechecks mit Malone in der Gasse herumstand, hatte sie gefragt: »Glaubst du, das ist jetzt der Letzte?«
»Was redest du da?«, blaffte er ungläubig. »Fragst du mich im Ernst, ob ich glaube, der Kerl hat genug und hört einfach auf?«
Sie starrte ihn an, empört, weil er überhaupt in Betracht zog, dass sie es so gemeint haben könnte. »Ich meinte hier. Der Letzte hier bei uns. Ich will nicht, dass er weggeht und woanders weitermacht. Ich will, dass er hierbleibt, wo wir ihn kennen, wo wir ihn schnappen können.«
»Ich auch«, sagte ihr Partner grimmig. »Ich will, dass wir es sind, die das Schwein drankriegen.«
»Hey«, sagte sie, »wir kriegen ihn schon noch.« Aber sie sagte nicht, dass sie ihn kriegen würden, bevor er die nächste Tat beging.