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Kapitel 1

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Unter dem schwachen Licht einer von der Decke hängenden Glühlampe wühlte Lorenz Stutgart durch den Inhalt einer grossen Truhe. Darin lagen Kleider und kleine Andenken begraben, die im Inneren ihre ungeheuren Schatten warfen. Er wühlte suchend durch einige Fotografien, die lose im Durcheinander schwammen und deren Herkunft er sich zunächst nicht erklären konnte, bis er auf ein grosses, rotes Fotoalbum stiess, aus dem sie sich gelöst hatten. Achtlos und ohne Sortierung steckte er sie zuhinterst wieder ein. Als Lorenz das Fotoalbum aus der Truhe nahm und es öffnete, stieg ihm ein Duft von Chemikalien in die Nase.

Als er durch das Fundstück blätterte, setzte er das Whiskeyglas, das er aus dem Wohnzimmer mitgebracht hatte, an den Mund und trank daraus einen brennenden Schluck. Die Fotografien wirkten sogleich lebendiger. Aus dem Wohnzimmer drangen Geräusche des Fernsehers dumpf bis zu ihm in den Keller hinab. Es war bereits neun Uhr abends und Lana schaute sich oben eine Sendung an, in der es um Liebe ging.

Lorenz setzte sein Glas wieder auf ein kleines Tischchen, das bei der Truhe stand. Beim Durchblättern des Albums war er nun bei einer Fotografie angelangt, auf der Lana und er sich küssten. Er blätterte weiter. Die nächste Aufnahme zeigte eine versammelte Hochzeitsgesellschaft. Hinter der Verwandtschaft von Lana stand Lorenz in der zweiten Reihe, neben seinem Vater, der mit einem bemühten Lächeln in die Kamera blickte. Ein Blumenstrauss, den Lana freudig aus der ersten Reihe nach oben streckte, verdeckte die schwarze Krawatte des Vaters und dessen weisses Hemd. Einige gelbe Tulpenblüten reichten bis zu seinem Kinn. Er blickte leicht aufwärts, direkt in den Sucher des professionellen Fotografen und sah so nun Lorenz gewissermassen aus dem Bild heraus an.

Die Komposition der Fotografie war tadellos gewählt, die Beleuchtung war ausserordentlich hell, da die Sonne schien und viele der geladenen Gäste weiss trugen. Alle Linien verliefen gerade und Schnitten sich in rechten Winkeln, sodass das Bild voller Kreuze war. Die Gesellschaft stand in aufrechter, fast tapferer Haltung auf einer Rasenfläche. Es gab im Grossen und Ganzen nichts zu bemängeln an den Fotografien, wie sich Lorenz eingestehen musste.

Er legte das Fotoalbum zurück in die Truhe, ehe er diese mit einem kleinen Schlüssel abschloss und ihn an eine Werkzeugbank hängte. Er nahm dazu einen Hammer von der Wand und versteckte den Schlüssel darunter. Aus einer Kühltruhe holte er ein Eis am Stiel. Die Verpackung war bereits angebrochen. Er stieg die Treppe zum Wohnzimmer hoch, ging achtlos an der von ihm abgewandten Lana vorbei in die Küche, setzte vor der Spüle stehend nochmals das Whiskeyglas an, bis es leer war, spülte es aus und liess es stehen.

»Was wolltest du?« fragte er, aus der Küche ins Wohnzimmer kommend. Lana hatte sich auf dem Sofa in der Ecke hingelegt und lugte aus einer komplizierten Einrichtung aus Zierkissen und Plüschdecken hervor.

»Schokolade«, sagte sie.

»Ich habe dir Vanille mitgebracht.«

»Von mir aus, gib schon her.«

Er überreichte Lana ihr Eis und sie übergab ihm die Fernbedienung. Sie packte es aus und begann, sich in dessen Genuss zu vertiefen.

»Am Samstag will ich hier eine Feier geben«, sagte Lorenz. »Es wäre bestimmt gut, mal wieder Gäste einzuladen.«

Er ging mit der Fernbedienung in der Hand vor dem Fernseher auf und ab.

»Wir haben seit der Hochzeit nichts mehr Geselliges unternommen, wie ich finde. Es scheint mir wichtig, ab und zu Freunde und Bekannte zu treffen.«

Er wanderte auf und ab und gestikulierte im Fluss seiner Gedanken.

»Gutes Essen und gute Musik … Man könnte in der Aula tanzen. Wir hätten ausreichend Gelegenheit, uns mal wieder ausgiebig als Ehepartner zu amüsieren und uns den anderen so zu präsentieren.«

Sie war während der Rede ihres Mannes noch immer in den Genuss ihres Eises vertieft. Es war für ihn schwierig, an ihrem Gesicht abzulesen, ob sie ihm überhaupt zugehört hatte, oder wie sie die Sache nun aufnahm, weil er sie in ihrer Kissenburg kaum mehr sehen konnte.

Sie stimmte ihm zu.

»Ich werde mich um die Einladungen kümmern«, sagte sie.

»Ich bin froh, sind wir gleicher Meinung«, sagte Lorenz. Er blieb plötzlich stehen, als wäre der Fluss seiner Gedanken abrupt abgerissen, als hätte er etwas Wichtiges vergessen.

»Haben wir eigentlich Uwes Nummer noch?«

Lana griff zu Lorenz’ Telefon, das auf dem Tischchen vor dem Fernseher lag. Sie suchte in seinen Kontakten.

»Du hast seine Nummer jedenfalls noch gespeichert«, sagte sie. »Soll ich ihn auch einladen?«

»Ich denke«, sagte Lorenz, »es könnte nicht schaden. Wir haben uns schon eine ganze Ewigkeit nicht gesehen und so wie ich ihn kenne, wird er sich von sich aus auch nicht mehr bei mir melden.«

»Ein Versuch wäre es wert«, schlug Lana vor. »Er wird uns schon absagen, falls er nicht kommen will.«

Die Sache war damit für sie erledigt und sie widmete sich wieder ihrer Sendung.

»Du hast recht«, sagte Lorenz. »Lade ihn bitte auch ein. Sag ihm, wie den anderen, nächsten Samstag, um acht Uhr bei uns.«

Lorenz setzte sich zu Lana auf das Sofa. Neben dem Fernseher stand ein grosses Aquarium, das blaugrüne Lichtmuster an die dahinterliegende Wand warf. Die Fische waren von unterschiedlicher Grösse und Farbe. Wie viele von jeder Art, das war genau abgezählt. Die vereinzelten Totgeburten wurden mit einem dafür vorgesehenen Sieb aus dem Becken entfernt, das nun seit einiger Zeit unbenutzt auf der Kommode lag. Er betrachtete die Fische vom Sofa aus, ohne dabei Lanas Sendung zu folgen. An solchen Abenden im Winter war Lana manchmal kaum von dem Gerät wegzukriegen. An solchen Tagen musste sich Lorenz etwas einfallen lassen, ihr ein Kissen unter dem Kopf wegziehen, oder kurzerhand die Heizung zurückdrehen.

Er stand auf, nahm einen Schritt auf das Aquarium zu und erschreckte mit dieser Bewegung die Fische, die sich jedoch schnell wieder beruhigten und aufgrund ihrer kurzen Erinnerungsspanne die Störung rasch wieder vergessen hatten. Das mochte Lorenz an ihnen, ihre Vergesslichkeit.

Lorenz verspürte den Drang, das Treiben im Fischbehälter anzuregen, einen Konkurrenzkampf ins Leben zu rufen. Er griff in eine Schublade, die in den Rahmen des Aquariums eingelassen war und die man dort gar nicht vermutet hätte. Daraus nahm er einen Behälter mit Nahrung hervor. Er schob den Deckel zur Seite und blickte auf die Wasseroberfläche. Den Behälter hielt er zur Fütterung in der Schwebe. Er klopfte geduldig mit dem Zeigefinger darauf. Bei jedem Mal fielen einige Flocken auf das Wasser, wodurch Regung unter den Fischen entstand. Schwärme bildeten sich, die nach oben strömten. Lautlos öffneten die Fische ihre Mäuler. Die Flocken verschwanden eine nach der anderen. Dem zuzusehen hatte etwas Beruhigendes an sich.


»Ich setze mich noch an den Flügel«, sagte Lorenz.

Seine Frau liess ihn kommentarlos aus dem Wohnzimmer gehen. Im geräumigen Nebenzimmer stand direkt neben dem Fenster ein Flügel. Lorenz hatte sich das Instrument selbst zu Weihnachten geschenkt. Ein mit Edelsteinen geschmückter Kronleuchter erhellte den Raum. Wie in einer Aula führte neben dem Flügel ein kleiner Absatz auf eine Bühne. Die Akustik war atemberaubend. Lorenz ging auf das neue Instrument zu. Sein Blick fiel auf ein Modemagazin, das auf dem geschlossenen Deckel lag, wo es vermutlich Lana liegen gelassen hatte. Daneben war ein Abdruck einer Kaffeetasse. Erschrocken von dieser Entdeckung zog Lorenz ein Stoffhandtuch aus seiner Hosentasche, spuckte darauf und rieb energisch über den Fleck, bis dieser verschwunden war. Er war beruhigt, dass kein Schaden am Lack entstanden war, warf aber das Magazin trotzdem verärgert beiseite.

Er musste seiner Aufregung nun Luft verschaffen. Er atmete dreimal tief ein und dreimal tief aus und klatschte dazu laut in die Hände. Lanas Reaktion aus dem Wohnzimmer blieb aus. Sie hatte sich an solche Wutbewältigungsstrategien, von denen in letzter Zeit immer wieder neue hinzugekommen waren, bereits gewöhnt.

Lorenz setzte sich an das Instrument. Es stand noch das Notenblatt von seiner letzten Privatlektion geöffnet in der Halterung. »As Tears Go By«, stand oberhalb der Notenlinien geschrieben. Lorenz arbeitete daran, dieses Stück in der Version von Marianne Faithful zu begleiten. Laut dem Rat eines Musikmagazins war es für Einsteiger besonders geeignet. Er brachte seine Hände über den Tasten in Ausgangsposition, nahm auf dem Hocker eine aufrechte Körperhaltung ein und spielte den ersten Ton. Um sich einzuspielen durchlief er eine Akkordfolge in der Tonart des Stücks, so wie er es gelernt hatte. Er blickte auf, zu dem Metronom, das still auf dem Flügel stand. Er rührte es nicht an, solange ihn niemand dazu zwang, denn er hielt nichts von der Vorstellung, Rhythmusgefühl lernen zu müssen, oder das dieses überhaupt lernbar war und noch viel weniger hielt er davon, sich von einer Maschine den Takt angeben zu lassen.

Die Akkorde klangen auf dem teuren Instrument wuchtvoll. Lorenz liess jeden davon ausklingen, wodurch sich die einzelnen Klänge unter der hohen Decke zu einem hallenden Crescendo vermengten. Diese Opulenz beeindruckte das ungeschulte Ohr. Es entzückte ihn, wie schnell auch ein Anfänger mit Akkorden etwas hervorbringen konnte, das bereits wie Musik klang. Nachdem ihm seine Privatlehrerin gezeigt hatte, wie man einen Dreiklang anschlägt, hatte sie ihn in der Folge nie wieder dazu bewegen können, Noten zu lesen.

Nach zehn Minuten hatte Lorenz bereits sein ganzes Repertoire durchgespielt. Einfallslos fing er nun an, sich zu wiederholen, bis er schneller und ausgelassener immer dieselben Wendungen zu spielen begann und sich seine Finger gedankenlos und beschwingt bewegten, bis er sich verspielte und darüber leise fluchte. Mehrere Male endete sein Ausflug in die Improvisation ruckartig auf einem falschen Ton, bis er das Spiel inmitten einer Strophe abbrach.

Der letzte, unharmonische Klang verhallte im Raum. Als er beim Hinausgehen das Licht ausgeschaltet hatte, blieb er noch eine Weile regungslos stehen. Die Bilder der Hochzeit flimmerten vor ihm in der Dunkelheit.

Als er zurück ins Wohnzimmer trat, ging er an Lana und dem Fernseher vorbei und sah aus dem Fenster, hinein in das stille Schneetreiben.

»Ich denke, du bist mir wegen meinem Missgeschick an unserem Hochzeitstag noch immer böse «, sagte Lorenz, den Blick nach draussen gerichtet. Ohne hinzusehen, stellte er sich Lanas Reaktion vor. Er fasste sich an seinen Ehering und schob ihn auf dem Finger auf und ab, als verspürte er darunter einen unangenehmen Reiz.

Bestimmt war sie ein bisschen zusammengezuckt, als sie seinen Vorwurf gehört hatte. Auch Lorenz konnte sich nicht erklären, wo diese Wut auf einmal hergekommen war.

»Ich bin dir nicht böse«, sagte Lana. »War dir nie böse deswegen und habe dir schon damals gesagt, gleich nachdem du dich beim Kartoffelschälen in den Finger geschnitten hast, dass ich es komisch fand. Ich habe darüber gelacht. Und alle haben sie mitgelacht, so war doch nichts Schlimmes dabei. Dein Finger ist ja auch schon wieder heil.«

Ihre Stimme klang beschwichtigend und sie zeigte zum Beweis auf die Hand ihres Mannes. Lorenz trat erneut zum Aquarium und schloss den Deckel behutsam wieder.

»Ich werde mich jetzt schlafen legen«, sagte er. »Kommst du auch?«

»Meine Sendung geht gleich weiter«, sagte sie.

Im Fernseher klärte mittlerweile ein Kommentator das Publikum darüber auf, wie viele Kandidatinnen im Wettbewerb um die Gunst eines wohlhabenden Junggesellen noch im Rennen waren. Mit offensichtlicher Schadenfreude verriss er mit seiner Kollegin den Mund darüber, wer wohl als nächstes auf der Strecke bleiben würde.

»Ich will noch wissen, wer rausfliegt«, sagte Lana.

Ihr Blick war auf das flimmernde Fernsehbild gerichtet.

»Ich habe nie Mühe damit, mich von einer laufenden Sendung zu lösen«, sagte Lorenz, als er sich bereits in Richtung Badezimmer abgewendet hatte.

»Ich weiss«, sagte Lana, ohne ihren Blick von den fesselnden Voraussagen des grinsenden Kommentators abzuwenden. »Etwas Laufendes abzubrechen, darin bist du gut.«


Im Badezimmer putzte sich Lorenz die Zähne und stellte auf dem Lavabo eine erfrischende Mundspülung bereit, die er sich mit Lana teilte. Sie hatte diese jedoch bereits allzu oft im Schlafzimmer auf dem Nachttischchen stehen gelassen. Er brachte das Fläschchen mit dem kostbaren Wasser darin immer wieder ins Badezimmer zurück, damit es nicht herunter fiel und unter das Möbel rollte. Denn dort würde das Fläschchen bestimmt von Lanas Staubsauger – welcher lärmig, blind, wie ein unbehagliches Tier, sich auf ihren Befehl unter das Bett vorschob – erfasst werden und gegen die Wand gedrückt, wodurch es zu Bruch ginge und die ganze, erfrischende Kostbarkeit unter dem Bett ausliefe. »Dann müsste ich wieder mit Seife dahinter«, dache Lorenz verärgert. »So wie beim letzten Mal!« Er spuckte den Schaum aus, gurgelte mit der Mundspülung, welche er ebenfalls ausspuckte und betrachtete sich im Spiegel. Mit einem zustimmenden Kopfnicken seiner Reflektion, wandte er sich ab. Er legte sich ohne seine Frau schlafen, die noch immer im Wohnzimmer wie eine Eule vor dem Fernseher sass.


Der Prophet und sein Kritiker

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