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Kapitel 3

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Uwe stand vor einer jungen Angestellten an der Kasse eines Spielzeugladens, um einen Affen aus Plüsch zu bezahlen. Sie blickte nach unten und sah ihren Händen bei der Arbeit zu, wie diese mit einer Schere das rote Schnürchen durchschnitten, mit dem das Preisschild am Stofftier befestigt war.

Bevor er endlich dieses Geschenk für seine Freundin gefunden hatte, war Uwe lange vor einem dreistufigen Regal mit Stofftieren gestanden. Dieser grössere Herr war der Angestellten in dem Spielwarenladen aufgefallen, aufgrund seines eleganten langen Mantels aus gutem Tuch, den er trug und der wie ein Rock geschnitten war. Er unterschied sich so sehr von der gewohnten Kundschaft, die üblicherweise aus jungen Eltern, Lehrkräften und Kindergärtnerinnen bestand.

Auf dem untersten Regal waren Stofftiere mit traurigen Augen, die momentan besonders gut liefen. Auf dem zweiten Regal waren realistische Tiere untergebracht, die verblüffend gut gefertigt waren. Im Fell eines Rehs waren die weissen Flecken der Jugend zu sehen und es sass ganz vorne auf dem Regal in zierlicher Pose, direkt neben einem Collie. Uwe fragte sich, ob eine Angestellte sich einen Scherz erlaubt und diese beiden nebeneinander platziert hatte, weil diese Szene etwas Romantisches an sich hatte: der eitle Collie, mit seiner wilden Mähne und das Reh, noch im jugendlichen Pelz der Unschuld.

Auf dem obersten Regal hatte Uwe schliesslich einen Affen gefunden, der ihm auf Anhieb gut gefallen hatte. Die langen Arme und das grosse Maul dieses rothaarigen Orang-Utans, würden Flor vielleicht gefallen, so hoffte er.

Uwe trat mit einer farbigen Tüte aus dem Laden, aus der oben ein paar Fransen eines roten Schopfs rausragten. Er drückte den Affen tiefer hinein, um die geplante Überraschung nicht zu verderben.

In der Strasse herrschte reges Treiben. Donnerstag bedeutete viele Marktstände. Es duftete nach Kerzenwachs und Räucherstäbchen, als Uwe die Strasse entlang an den Ständen vorbeiging. Er musste sich mehrmals zurückhalten, Flor nicht noch etwas Süsses mitzubringen.

»Warum mache ich mir Sorgen um ihre Figur?« fragte er sich. »Ist es denn meine Figur? Sie soll doch essen, was sie will. Würde sie mir auch gefallen, wenn sie etwas fülliger wäre?«

Er wollte sich darauf keine Antwort geben, oder vielmehr fand er, dass solche hypothetischen Hirngespinste selten Sinn ergaben. Flor war schlank, ihre Hüften trotz ihrem Alter noch immer burschikos und sie schlemmte, ass voller Lust herzhafter als mancher Mann, ohne jemals zuzunehmen. Manchmal machte sie ihm Angst.

Sie hatten sich beim Tierpark verabredet. Als er von einer Birkenallee in die Kanalgasse einbog, sah Uwe sie schon von weitem in der Nähe des Eingangs stehen. Er war entzückt. Es erfreute ihn immer wieder von neuem, wenn sie nur wegen ihm an einen entlegenen Ort gekommen war.

Sie stand mit dem Rücken gegen eine Mauer gelehnt, die der ganzen Länge nach mit Graffitis besprüht war. Sie trug eine dunkle Lederjacke und schwere, schwarze Schuhe. Ihre schmale Silhouette wurde vor der farbigen Mauer betont und ihr schwarzgetöntes Haar war auf der linken Seite kurz geschnitten, wirbelte rechts in langen Strähnen im Wind und verdeckte die eine Seite ihres Gesichts. Als sie ihn sah, musste sie blinzeln. Sie lachte. Verschwunden war der trübe Schleier, den ihr Gesicht in Einsamkeit getragen hatte. Ihre Wangen waren voller Leben und aus ihrem lachenden Mund strahlten ihre schönen Zähne.

Er streckte ihr die Tüte aus dem Spielwarenladen entgegen.

»Ich gratuliere dir zum Geburtstag.«

»Hör auf«, sagte sie. »Wie geht es dir?«

Uwe wollte ihr das Geschenk umständlich übergeben, als sie sprachen, während seine Arme überall im Weg waren und sie einige Male nach der Tüte ins Leere griff, bis die Übergabe endlich klappte.

»Mir geht es prächtig«, sagte er, »denn ich bin wirklich erleichtert, habe ich den Kauf deines Geschenkes hinter mich gebracht. Wollen wir auf einen heissen Kaffee reingehen? Ich könnte einen vertragen, denn es ist immer noch kalt hier draussen.«

»Ich trinke keinen Kaffee«, sagte sie.

Er entschuldigte sich für seine Vergesslichkeit.

»Dass du mit Kaffee nichts anfangen kannst«, sagte er, »sollte ich allmählich wissen. Sie haben dort aber sicher auch andere Heissgetränke: Schokolade, Tee und so weiter.« Er rieb sich vor Kälte die Hände und zog die Schultern hoch.

»Mir macht die Kälte nichts aus«, sagte sie und nahm ihn bei der Hand. Dies war mit einer flinken Bewegung geschehen, die wie aus dem nichts gekommen war.

»Komm, ich nehme dich mit zu den Affen«, sagte sie frech.

Uwe liess sich bis zur Kasse von ihr führen.

»Das werde ich übernehmen«, sagte er, zog ein schwarzes Portemonnaie aus Leder aus seinem Mantel und wandte sich an einen jungen Herrn, der in der Kabine an einem Pult sass und ein Lehrbuch vor sich aufgeschlagen hatte. Uwe erkannte es als dasselbe Lehrmittel wieder, über dem er während der Vorbereitung auf die Matura auch selbst gebrütet hatte. Der Gymnasiast sah von dem Buch auf, schlug es hastig zu und versorgte es in einer Schublade.

»Möchten Sie Eintritte kaufen?« fragte er.

»Zwei Studenten, bitte«, sagte Uwe. »Hast du deine Legitimation?« fragte er seine Freundin. Sie zog einen Ausweis hervor und übergab ihm diesen. Zusammen mit dem seinigen streckte Uwe die Ausweise dem Gymnasiasten hin.

»Wir sind wirklich Studenten«, sagte er.

Die Bezahlung ging zügig.

»Viel Kraft für das Kommende!« sagte Uwe mit einem Augenzwinkern. Ein Spass, den der Gymnasiast nicht erwiderte und ihnen geistesabwesend einen schönen Tag wünschte.

Sie gingen weiter durch den Empfangsbereich. Uwe blieb vor einer Karte stehen und versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen. Flor zerrte ihn zur Seite. Sie hatte ein grosses Wasserbecken entdeckt, in dem ein Krokodil still unter Wasser lag, sodass die gewölbten Augen über die Wasseroberfläche herausragten. Uwe verlor augenblicklich das Interesse an der Karte.

»So wirf ihm schon etwas Kleingeld rein! Füttere den Kapitalismus!« sagte Flor zynisch und zeigte auf das grün angelaufene Geld auf dem Grund des Wasserbeckens.

»Ich lasse das mal bleiben«, sagte Uwe. Ein wenig verlegen wich er vor Flors Zynismus zurück, hatte er doch selbst einen Betrag in gewisser Höhe auf seinem Studentenkonto angespart.

Sie gingen weiter. Auf dem Weg kamen sie an einem Pfau vorbei, der sich seltsam verhielt. Eingesperrt mit Schafen, schlug er vor diesen sein Rad auf und flatterte wild mit verblassten Federn um deren Aufmerksamkeit. Vehement wiederholte der Pfau seine verzweifelte Darbietung vor den davon nicht zu beeindruckenden Tieren, wie in einem nicht enden wollenden Albtraum.

Beim Gehege der Orang-Utans angekommen, stach Uwe und Flor der Alte sofort ins Auge. Grosse dunkle Hautlappen, die wie Halbmonde aussahen, verliehen seinem Gesicht eine rundliche Kontur. Ein roter Schopf langer, glatter Haare, die ihm wild um Kopf und Körper wuchsen, trugen zur körperlichen Opulenz des Alten bei, der gemütlich in einer Ecke sass. Eine Mutter hatte ihr Junges auf ihrem Bauch liegen, während dem sie rücklings nach Blättern an den Ästen über ihrem Kopf griff. Auf den Baumstämmen kletterten einige Affen und vermieden mit Händen und Füssen die wenigen Stellen, die noch mit Schnee bedeckt waren.

»Ich habe schon gesehen, was in der Tüte steckt«, sagte Flor. »Du hättest es verpacken können.«

»So bin ich nun mal«, sagte Uwe. »Ich stehe auf nackte Tatsachen.«

Er hätte ihr nicht geglaubt, wenn sie ihm nun gesagt hätte, dass sie mit buntem Geschenkpapier etwas anfangen konnte. Sie zog das Plüschtier aus der Tüte und Uwe beobachtete gespannt ihr Gesicht.

»Der ist aber süss!«

Sie strich dem Stofftier fein über die roten Haare, drückte es an sich.

»Ich liebe Affen«, sagte sie und bedankte sich. »Besonders Orang-Utans. Ich habe mal für eine Studentenzeitung einen kurzen Text über ihr Triebleben geschrieben. Sie versöhnen sich nach jedem Streit durch Sex.«

Sie wurde still, als hätte sie ihren letzten Satz ganz plötzlich wieder vergessen und beobachtete jetzt mit ihren dunklen Augen fasziniert den Affen, wie ein Kind, das etwas zum ersten Mal sieht.

»Zum Glück hast du mir nicht so eine Handrednerpuppe gekauft«, sagte Flor, »die man sich über die Hand stülpt. Das fände ich nämlich ganz schön unheimlich.«

»Ich bin auch kein Fan davon«, sagte Uwe. »Mir machen Bauchredner Angst. Stell dir vor, einer fährt in seinem Wagen durch eine prüde Vorstadt und hält vor Familienhäusern. Vielleicht spielen da kleine Kinder und er kurbelt die Scheibe runter und sagt, er suche noch Spielgefährten, er veranstalte auf dem Rücksitz ein lustiges Puppentheater.«

»Hör auf, du Perverser«, sagte Flor und gab ihm mit der Elle einen leichten Schlag in die Seite.


Die frische Luft geniessend, gingen sie vom Affengehege weiter und bogen in einen Fussweg ein, der an den Schafen und dem Pfau vorbei wieder zurückführte, zu gewöhnlicheren Tieren, wie Pferden und Eseln.

»Das ist langweilig«, sagte Flor, als sie an einem Schild erkannte, was voraus lag. Sie redeten auf dem Weg wenig. Die Pferde sahen unglücklich aus und ein Esel war derart abgemagert, die Rippen stiessen an den Seiten hervor. Sie kamen zu einem kleinen Feld, das mit Holzschnitzeln ausgelegt war. Es roch nach frischem Harz. Ein buntes Haus mit einer Rutschbahn hatten sich heute kleine Kinder zum Spielort gemacht. Die Kinder hatten sich anscheinend nicht getraut, von der grössten Attraktion des Spielplatzes Gebrauch zu machen, einem grossen Hamsterrad aus Holz.

»Das ist schon eher dein Ding, oder?« fragte Uwe.

»Du bist ja doch lernfähig!«

Flor ging voller Vorfreude beschwingt auf den Kinderspielplatz voraus. Die Kinder blickten mit neugierigen Augen aus dem Häuschen hervor, wandten sich aber rasch wieder ihrem Spiel zu und ignorierten die Neuankömmlinge. Uwe war erstaunt, er wollte Flor noch zurückhalten, in einer plötzlich in ihm aufsteigenden Angst, sie würden aufgrund ihres unpassenden Alters ausgelacht werden. »Es ist doch erstaunlich, wie man sich in Kindern immer täuscht«, dachte er, als dies nicht geschah.

»Ich hoffe du hast nichts allzu Teures gegessen«, sagte Flor. Uwe sah sie an, wie sie im grossen Hamsterrad das Holz der gewölbten Konstruktion abtastete und erste prüfende Schritte darin machte.

»Du weisst hoffentlich«, sagte Uwe, »dass da gewaltige Kräfte entstehen?«

»Traust du dich etwa nicht?« fragte sie. »Was ist das Schlimmste, das passieren kann?«

»Wir brechen uns alle Knochen. Nein, schlimmer noch, sie zersplittern viel eher, wie bei diesen Rodelunfällen.«

»Na und? Ich weiss nämlich zufälligerweise, dass ihr in diesem paranoiden Land alle krankenversichert seid. Das ist sogar obligatorisch.«

»Mir fällt auf, dass du noch nicht lange genug hier warst, um mit unseren Gepflogenheiten vertraut zu sein. Denn bei besonders fragwürdigen Unfällen müssen wir eine Schadensskizze an die Versicherung einsenden, in welcher der Hergang des Unfalls bildhalft dargestellt wird. Und ich werde mich sicher nicht selbst so zeichnen, mit dir in einem Hamsterrad.«

Flor lachte über diese absurde Vorstellung. Sie legte den Kopf schräg, so dass die langen, schwarzen Haarsträhnen zur einen Seite hingen.

»Du denkst zu viel nach«, sagte sie. »Falls etwas passiert, nennen wir es einfach einen Nichtbetriebsunfall.«

Sie winkte ihn mit dem Zeigefinger zu sich. Uwe gab sich einen Ruck und trat neben ihr in das Rad.

»Sachte anfangen«, riet er, fast flüsternd. Er fing an, mit ihr im Rad zu gehen und legte ihr vorsichtig seine Hand aufs Kreuz. Als sie ihn dies tun liess, wurde er mutiger und erforschte die Topografie ihres Rückens.

»Ein bisschen schneller muss es schon sein«, sagte sie. »Dieses Tempo ist für Babies.«

Uwe nahm seine Hand wieder weg.

»Nun spüre ich es aber langsam«, sagte er, während sie nebeneinander in den Laufschritt gingen. Das Rad drehte sich schneller und wenn Uwe nach oben sah, regnete es Holzbalken. Es hatte etwas Seltsames an sich, dieses Laufen auf der Stelle. Trotz grosser Anstrengung kam man dabei nicht vorwärts.

Flor war schnell. Uwe hätte es ihr nicht zugetraut. Er bestaunte mit scheuen Seitenblicken die Bewegungen ihres Körpers.

»Du wirst noch hinfallen«, sagte Flor. Sie erwiderte seinen Blick mit ihrem Körper.

»Mach dir um mich keine Sorgen«, keuchte Uwe, »denn ich gehe öfter mal Laufen… zwar nicht in solchen öffentlichen Folteranlagen… aber immerhin, das musst du mir anrechnen.«

»Bis jetzt schlägst du dich ganz gut«, sagte sie und fügte an: »Bei Drei lassen wir uns fallen.«

»Fallen?« fragte Uwe.

»Fallen«, sagte Flor.

Sie liefen in vollem Tempo im Hamsterrad. Er konnte die Anspannung in ihrer Stimme hören, als sie zu zählen begann.

Eins…

Zwei…

Drei!


Sie liessen sich fallen. Leicht wie sie war, schoss sie entlang der Rundung des Rades weit nach oben. Uwe stolperte auf die Knie, folgte Flor, rutschte aber schnell wieder ab und drehte sich, unten angekommen, reflexartig nach ihr um. Als sie sich ansahen, schien sie einen Moment lang frei in der Luft zu schweben, bevor sie vornüber das Gleichgewicht verlor und auf Uwe stürzte, der auf dem Rücken liegend, ihren Fall auffing.

Einige der Kinder, die sich ob den plötzlich lauten Geräuschen erschrocken hatten, traten im Spielhäuschen ans Fenster – besonders ein Mädchen das oben auf ihrer rosaroten Kapuze flauschige Hasenohren hatte und ein Bube mit Sommersprossen – und beobachteten die zwei Erwachsenen, die keuchend in einem Holzrad lagen. Das Mädchen mit den Hasenohren drückte dem Sprossengesicht flink einen Kuss auf. Er verzog das Gesicht, als hätte man ihm eine Schnecke aufgesetzt, schüttelte den Kopf und rieb sich an der Wange, wo ihn ihre kindliche Neugierde getroffen hatte.

»Mir wurde ein Heissgetränk versprochen«, sagte Flor, als sie mit Uwe fertig war.


Der Rest des Nachmittags verging in einer Art Trance, die Uwe so noch nie erlebt hatte. Sie sassen noch eine Weile im Restaurant des Tierparks und tranken Tee, bevor sie zu Flor aufbrachen. Hätte man Uwe später gefragt, wie sie zu ihrem Apartment gelangt waren, oder überhaupt, in welcher Gegend sie wohnte, er hätte nichts mehr zu antworten gewusst. Sie gingen den ganzen Weg in Stille zu Fuss und horchten aufmerksam auf etwas, das in ihnen, nach einer Art Winterschlaf, nun erwacht war.

Aus einem verspiegelten Kleiderschrank, der bis zur Decke reichte, holte Flor Boxershorts und ein graues T-Shirt aus dünnem Stoff hervor. Sie ging eilig ins Badezimmer, um zu duschen. In einem kurzen Moment der Besinnung, begriff Uwe, dass er nun kurz mit sich alleine gelassen war. Er blickte sich neugierig in Flors Zimmer um. Auf einem quadratischen Holztisch lag ein Stapel Bücher, von denen viele in Englisch waren und einige in Französisch. Das Zimmer war eigentlich eher ein Studio und hatte eine Dachschräge, in die ein kleines Kippfenster eingelassen war. Auf dem Fenster lag Schnee, wodurch man das Gefühl hatte, zugeschneit worden zu sein. Es war unmöglich abzuschätzen, wie viel Schnee auf dem Fenster lag. Vielleicht waren es ein paar Zentimeter. Vielleicht war das Dach gänzlich zugeschneit. Vielleicht konnte man das Fenster schon jetzt gar nicht mehr öffnen.

Uwe holte den Plüschaffen hervor, stellte ihn oben auf die Bücher und drehte ihn in Richtung des Bettes.

Flor liess sich ihre Zeit. Als sie aus dem Badezimmer kam, stieg Dampf auf und Uwe spürte, wie die Luftfeuchtigkeit anstieg und ihm noch wärmer wurde. Nur in Unterwäsche gekleidet kam sie mit nassem Haar auf ihn zu, ging an ihm vorbei und setzte sich im Schneidersitz aufs Bett. Vom Nachttischchen nahm sie ein gelbes Buch und fing an, darin zu lesen. Das Ganze geschah, als wäre Uwe nicht hier. Als käme es ihr wieder in den Sinn, dass sie nicht alleine war, blickte sie zu ihm auf.

»Willst du auch noch duschen?«

»Nur kurz«, sagte er. »Das wird mich aufmuntern.«

Sie wollte eine weitere Seite ihres Buches umblättern, hielt dann aber inne und blickte ihn durch ihre Stirnfransen an, die nass vor ihr Gesicht hingen.

»Du brauchst dich danach nicht wieder anzuziehen«, sagte sie leise.

Im Badezimmer war es dunstig. Flor duschte gerne lange und heiss. Der Spiegel hatte sich beschlagen. Uwe zog einen Ärmel über die Hand und rieb im Kreis über das Glas. Er sah in den Spiegel. Seine Haut sah besser aus, seit er aufgehört hatte zu rauchen, aber seine Augen hatten etwas Starres an sich, als würde er etwas ganz Bestimmtes, in einer mittleren Distanz, betrachten und dort verharren, als würde er weder in die Ferne, noch in die Nähe blicken. Aus einer Art kindlichen Neugierde heraus, zog er mit der Hand am linken Rand des Spiegels, um in die Ablage dahinter zu sehen. Dort lag ein schwarzes Haarfärbemittel, eine Schere, dunkler Nagellack und Zahnpasta, für ein Mädchen erstaunlich wenig Kosmetika. Uwe schätzte, dass sich Flor nicht schminkte. Des Weiteren waren dort auch noch Wattebäuschchen und ein paar Medikamente. »1987, Valeria Flores, 0-0-1, 30mg«, hiess es auf einer weissen Medikamentenpackung. Bei näherer Betrachtung der Verpackung wurde Uwe klar, dass es sich um ein Antidepressivum handelte. Er tat diese Entdeckung jedoch als eine Kleinigkeit ab. »Heute nimmt doch jeder irgendetwas«, dachte er sich. Er schloss den Spiegel wieder und fing an, sich auszuziehen. Unter der Dusche stehend, genoss er das Gefühl von Wärme und liess sich von der Brause berieseln. Er atmete den Dampf tief ein.

Flor hatte den Affen bemerkt. Als Uwe aus dem Badezimmer trat, zeigte sie auf das Stofftier, das ihr zugewandt war.

»Das ist krank«, sagte sie.

Sie lachten. Uwe nutzte die Gelegenheit, nahm drei fliegende Schritte, war bei ihr und beugte sich vor, um sie zu küssen. Er löste behutsam das Buch aus ihrer Hand, liess es lautlos zu Boden gleiten und stieg zu ihr ins Bett.


***


Uwe entschloss sich dazu, den Rest dieser Erinnerung für sich zu behalten.

»Ich nehme an«, sagte der Arzt, »dass Sie an diesem Abend bei ihrer Freundin übernachtet haben?«

»Sie liegen damit nicht falsch.«

Der Arzt beugte sich zu seinem Patienten vor.

»Jetzt da ich weiss, dass Sie schon einmal eine Freundin gehabt haben, darf ich es Ihnen ja gestehen. Ich bin froh, dass dem so ist. Wissen Sie, immer wenn mir ein männlicher Patient in ihrem Alter gesteht, er hätte noch niemals etwas Ernsteres mit einer Frau gehabt, oder meinetwegen mit einem Mann, wird mir klamm zumute. Man fragt sich dann immer, was mit dieser Person nicht stimmt und findet meist keine befriedigende Antwort darauf. Es freut mich für Sie, dass Sie in der Lage sind, sich zu verlieben. Das ist nicht selbstverständlich, bei ihrer Geschichte. Es bedeutet, dass bei Ihnen, rein emotionell, auch durchaus gesunde Anteile vorhanden sind, obschon Sie als Patient hier sind.«

Uwe war dieser Rede seines Arztes gegenüber leicht abgeneigt. War es nicht der Beruf dieser Person, gerade für etwas seltsamere Menschen, Verständnis aufzubringen? Er empfand auf Anhieb Mitleid für all die armen jungen Männer, die in seinem Alter tatsächlich noch nie eine Freundin gehabt hatten und bedauerte, dass ihnen dadurch eine erste positive Einschätzung durch einen Therapeuten vermutlich für immer verwehrt bleiben würde, wie sie nun zweifellos, nach dem Erzählen seiner Geschichte, ihm selbst zuteil geworden war. Was gab es denn sonst, das in ähnlicher Weise dazu verholfen hätte, bei einem Therapeuten einen ersten Stein im Brett zu haben, als die simple Tatsache, schon mal geliebt zu haben?

Der Arzt blätterte durch seine Notizen.

»Sie haben zuvor erwähnt«, sagte er, »dass Sie von Lorenz eine Einladung zu einer seiner Feiern erhalten hätten?«

»Das stimmt«, sagte Uwe. »Wie ich bereits gesagt habe, es war mir zunächst schwergefallen, mich dazu zu entschliessen, diese anzunehmen. Ich wusste damals nicht einmal mehr, dass die Stutgarts noch meine Telefonnummer hatten. Doch wie sich herausstellte, hatten sie meine Nummer noch. Die Stutgarts gehören zu derjenigen Art von Leuten, die alles aufbewahren und irgendwie war unter diesen Artefakten auch meine Telefonnummer gespeichert. Jedenfalls hatte sich die Frau von Lorenz, Lana, scheinbar grosse Mühe dabei gegeben, mir eine persönliche Einladung zukommen zu lassen. Die Nachricht enthielt eine persönliche Anrede und die ehrlich klingende Bekundung, dass sie sich beide über mein Erscheinen an ihrer Feier freuen würden. Wie könnte man da absagen?«

»Vielleicht wussten Sie damals noch nicht«, sagte der Arzt, »dass man die anderen auch enttäuschen können muss. Wenn Sie allen immer einen Gefallen tun wollen, kommen Sie selbst nämlich zu kurz.«

»Da haben Sie zwar recht«, sagte Uwe, »doch irgendetwas in mir hatte damals ein wirkliches Interesse an einem Wiedersehen.«

»Und haben Sie die Einladung schliesslich angenommen?« fragte der Arzt.

»Ich habe, nach langem hin und her, den Stutgarts zurückgeschrieben, dass ich gerne zu ihrer Feier käme und dass ich mich ebenfalls über ein Wiedersehen freuen würde. Und soweit ich mich erinnern kann, entsprach das damals der Wahrheit.«

»Erzählen Sie mir davon«, sagte der Arzt und schlug erneut seinen Notizblock auf.





Der Prophet und sein Kritiker

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