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Kapitel 4

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Am Samstagabend befand sich Uwe auf dem Weg zu der Feier, zu der ihn die Stutgarts eingeladen hatten. Er ging auf einer mit Pflastersteinen besetzten Strasse, die von der Innenstadt auf die Höhe der Aare hinabführte. Es war fünf Jahre her, seit er Lorenz zum letzten Mal gesehen hatte. Er erinnerte sich, sie hatten damals nach einer Feier draussen gestanden, auf der Terrasse und auf die Aare hinabgeblickt. Sie hatten lange über Gott und die Welt gesprochen, etwas angeheitert, während die Gäste von Lorenz sich drinnen amüsiert hatten.

Damals war Lorenz noch alleinstehend gewesen und er war gerade aus der Rekrutenschule zurückgekehrt, hatte sich für die Offiziersschule entschlossen.


***


Uwe schaute von der Terrasse in das erleuchtete grosse Fenster. Drinnen sah man Tanzende, andere wiederum schauten fern oder bedienten sich an einem Computer, der auf dem Tisch stand und steuerten die Musik.

»Sieht es nicht seltsam aus von hier?« fragte Lorenz und nahm einen Zug von seiner Zigarette, die ihm Uwe gegeben hatte. »Die Leute drinnen, einige von ihnen blicken gebannt auf den Fernseher. Zwar in unsere Richtung, aber sie sehen uns nicht, weil wir sind draussen, im Dunkeln, und sie sind drinnen, am Licht. Es ist, als stünden wir in einem abgedunkelten Kinosaal hinter der Leinwand.«

Drinnen lachten die Gäste auf dem Sofa über etwas auf, das sich im Fernsehen abspielte. Lorenz wandte sich von ihnen ab. Auf seinem Gesicht glaubte Uwe einen flüchtigen Ausdruck von Abscheu erkannt zu haben.

»Die Aussicht, ist sie nicht schön?« fragte er, den Blick auf den Abhang gerichtet. Uwe stimmte kopfnickend zu. Man sah den blau beleuchteten Pool, dahinter eine naturbelassene Wiese, von der an diesem Sommerabend ein Duft von Heu aufstieg. In der Ferne, in einem dunklen, weiss schäumenden Türkis, strömte der Fluss in einer Kurvenlinie an einem waldigen Hang vorbei und verschwand in der Ferne im blauen Dunst, der über der Brücke hing, die in die Stadt führte. Sobald sich die Augen angepasst hatten, liessen sich auf Flussniveau einzelne Spaziergänger und Läufer erspähen, die sich mit kleinen hüpfenden Lampen auf dem Kopf am Ufer entlang einen Weg durch die Dunkelheit bahnten.

Lorenz und Uwe waren an diesem Abend von einem Lokal zurückgekehrt, ein paar ihrer Gruppe waren mit Frauen, die sie gerade erst getroffen hatten, weitergezogen und die meisten, die den Abend nun bei Lorenz ausklingen liessen, waren entweder bereits vergeben oder hatten sich gerade getrennt und versuchten, sich mit gemimtem Gelächter und Getränken über den kürzlichen Verlust hinwegzutrösten. Lorenz hatte im Ausgang ebenfalls versucht, eine junge Frau anzusprechen, aber es war ihm nicht gelungen, sie von ihren Freundinnen zu trennen. Sie hatte sich höflich von ihm verabschiedet, mit der beiläufigen Bemerkung, sie würde mit ihrer Gruppe ins nächste Lokal weiterziehen – ob Lorenz mit ihr mitkommen wollte?

Mit Blicken zur Seite hatte Lorenz nach Uwe gesucht und ihn am selben Ort gefunden, an dem er den ganzen Abend verbracht hatte. In einer Ecke, auf einer Bank, mit einem Drink in der Hand. Er trank durch einen roten Strohhalm. Lichter huschten in einem beweglichen Muster über die Tanzfläche, streiften Uwe und flimmerten unruhig über ihn hinweg. Mit besorgtem Blick sah Lorenz ihn an und wandte sich wieder der jungen Frau zu, die noch immer auf seine Antwort wartete.

»Daraus wird leider nichts«, sagte er. »Unsere Gruppe wird noch mit zu mir kommen.«

Er verabschiedete sich von ihr, deren Hoffnungen er gerade enttäuscht hatte und liess sie mit ihren Freundinnen davonziehen.


Eine Stunde später stand er mit Uwe auf der Terrasse vor seinem Haus. Dieser hatte einen Drink mit nach draussen gebracht, von dem er zwischen Zügen an seiner Zigarette trank. Es schien ihm wieder besser zu gehen, seit sie hier angekommen waren. Lorenz trat zu ihm heran und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.

»Du hast dich wieder aufgerappelt«, sagte er. »Noch vor zwei Stunden habe ich mir um dich Sorgen gemacht.« Er machte eine kurze Pause. Sie rauchten in Stille, die Aussicht und die frische Nachtluft geniessend.

»Ich verrate dir nun etwas«, sagte Lorenz. »Wir werden beide irgendwann eine Freundin haben und dann werden wir an diesen Abend zurückdenken und uns sagen, ›Weisst du noch, vor einiger Zeit, als wir, ob der Angst davor, keine Freundin zu finden, beinahe verzweifelt sind und Wochenende für Wochenende an irgendwelchen überfüllten Feiern vergebens versucht haben, jemanden zu finden?‹ Wird das ein herrliches Gefühl sein! Sich nie wieder in überfüllte Lokale drängen zu müssen, denn ich hasse es! Nie wieder dieses sinnlose rumstehen und sich nutzlos fühlen, während alle anderen tanzen und sich amüsieren. Und ich sage dir, wir werden uns irgendwann wieder hier treffen, auf dieser Terrasse, um Pläne zu schmieden, was wir zu viert Schönes unternehmen werden. Merk dir das, Uwe, denn der Tag wird kommen, da wir beide eine Freundin haben.«

Sie starrten in die Dunkelheit. Hätte sie jemand aus der Ferne betrachtet, man hätte nur zwei orangene Punkte nebeneinander glühen sehen. Ihr Schweigen würdigte das Gewicht von Lorenz' Worten.

Uwe hätte ihm beigepflichtet. Auch er konnte die meisten Feiern nicht ausstehen. Man schleppte ihn meist mit. Er hatte aber doch ein bestimmtes Interesse, das Ganze zu beobachten, die Lichter, den Lärm, die Lebenslust. Deshalb konnte er nicht allem, was Lorenz gesagt hatte, beipflichten.

»Falls dieser Tag je kommt«, sagte er, »reden wir darüber wieder hier auf der Terrasse. Ich werde es nicht vergessen.«


***


In den seit damals vergangenen Jahren hatte sich viel verändert. Lorenz hatte nun eine Freundin, Lana, die er unterdessen geheiratet hatte. Uwe hatte er zwar zur Hochzeitsfeier eingeladen, dieser hatte sich aber entschuldigt und Lorenz und seiner Frau in einer kurzen, aber eloquent verfassten Grusskarte gratuliert. Weit weg schien diese Erinnerung, als Uwe die Treppe zum Eingang nun hinaufstieg und die Türklingel betätigte.

Vor der Eingangstüre stehend, hörte er zu seiner Rechten ein Geräusch. Die Tür zum Kellerabteil öffnete sich und darin erschien Lorenz' Kopf. »Komm her!« rief er Uwe von dort unten zu. »Ich will dir etwas zeigen!« Er lehnte sich aus der Tür. Uwe fühlte sich ertappt, im guten Anzug und der grossen Flasche Weisswein, die er Lorenz feierlich mit einem satten Händedruck vor dem Eintreten hatte übergeben wollen. Stattdessen ging er nun in Richtung der Kellertür. Lorenz winkte ihn mit freundlichen Handbewegungen herbei, so wie man eine schreckhafte Katze anlockt. Als Uwe fast bei ihm war, öffnete sich über ihnen die Eingangstüre. Es wurde mit einem Schlag hell und der laute Klang eines wild gespielten Flügels schoss wie ein Champagnerkorken durch die Dunkelheit.

Ein grosser, breitschultriger Mann war nach draussen getreten und schaute sich benommen um. Goldener Whisky schwappte zwischen seinen Fingern in einem mit Eis gefüllten Glas und glitzerte unter dem Lichtkegel, in dem er nun stand. »Niemand da?« fragte Danny Rothschild mit suchendem Blick in die Dunkelheit.

Uwe war, vom plötzlichen Lärm erschrocken, zur Kellertür gerannt und war ausser Atem bei Lorenz angekommen. Sie sahen von dort aus, wie Lizzie Rothschild sich zu ihrem Mann gesellte. Danny wankte und kniff die Augen zusammen, während sie in ihren hohen Absätzen in einem pastellgelben Kleid nervös mit den Fingern durch ihr braunes, hochgestecktes Haar spielte und sich, ins Freie gekommen, reflexartig eine Zigarette ansteckte. Ihr Mann überragte sie, als sie sich neben ihm auf die Brüstung lehnte.

Als sie ihn etwas fragte, drehte er sich abrupt um und drückte ihr einen ungenauen Kuss auf die Lippen. Sie machte in ihren hohen Absätzen einige staksige Schritte rückwärts, als er sie unter beschwichtigenden Gesten mit seinen kraftvollen Armen, die keine Widerrede duldeten, zurück nach drinnen beförderte. Der gelbe Lichtkegel, der aus dem Haus schien und in die Dunkelheit schnitt, verschwand mit dem Zufallen der schweren Türflügel.


Im Keller zeigte Lorenz auf die grosse Truhe. »Ich zeige dir wo der Schlüssel dazu ist, denn das weiss sonst niemand. Nicht einmal Lana.« Uwe überraschte dieses Geständnis, die unverhoffte Tatsache, dass es in Lorenz’ junger Ehe bereits Geheimnisse gab, so bedeutungslos sie auch sein mochten.

Lorenz streckte sich über die Werkzeugbank, nahm den Hammer von der Wand und grinste dabei Uwe über die Schulter mit einem Augenzwinkern an. Er nahm den Schlüssel weg und hängte den Hammer wieder hin. »Hier, versuch mal«, sagte er und reichte den Schlüssel seinem Freund, der damit mühelos die Truhe öffnete und den schweren Deckel anhob. »Das ist ja massiv«, keuchte er, sich unter den Deckel stemmend. »Halte das bitte so«, sagte Lorenz und griff hinein. Das rote Fotoalbum kam hervor.

Lorenz blätterte scheinbar ziellos in dem Album umher, äusserte zu einigen Bildern erklärende Worte und liess Uwe auf diese Weise an seinen Erinnerungen teilhaben, an der Hochzeit, die dieser verpasst hatte.

»Ich habe gehört, du fotografierst?« sagte er, um eine länger anhaltende Stille zu überbrücken.

»Bloss ab und zu«, sagte Uwe. »Meist meinen Bruder mit seinem dreijährigen Sohn. Ich bin aber nicht wirklich gut darin.«

»Du wärst sicher ein besserer Fotograf gewesen«, sagte Lorenz, »als der, den ich beauftragt habe. Ich habe mir die Fotografien vor Kurzem alleine angesehen und wollte deine Einschätzung dazu hören, denn in deiner Abwesenheit ist mir bewusst geworden, wie wichtig mir deine Meinung in solchen Dingen ist. Ich habe das Ganze so viel lebendiger in Erinnerung, weisst du? Ich meine, die Aufnahmen wurden professionell gemacht, da gibt es kaum etwas auszusetzen, die Szene ist gut ausgeleuchtet und niemand hat Schatten im Gesicht, was übrigens gar nicht so einfach ist, wie ich von meinen eigenen Versuchen, mit meiner Kamera auf Hawaii, feststellen musste. Aber es ist so, als ob es diesen Fotografien an etwas fehlen würde. Etwas, das wir auf unseren früheren Bildern noch hatten – du und ich. Erinnerst du dich an unsere grossen Feiern im Sommer am See?«

Uwe nickte, die Erinnerung war ihm unangenehm.

»Ich habe irgendwo in dieser Truhe noch diesen Schnappschuss von dir aufbewahrt, wie du umfällst, mit einer halbvollen Flasche Champagner in der einen Hand, mitten auf dem Wasser aus dem Boot fällst du, es sah so aus, als würdest du schweben.«

Uwe lachte verlegen über diese Erinnerung.

»Ich wäre damals fast ertrunken«, sagte er. Er hörte auf zu lachen, als schmerzlich das Andenken in ihm aufstieg, dass damals die anderen auch noch gelacht hatten, als er im See mit den Armen gerudert und wild vor Angst, sie um Hilfe flehend angeschrien hatte.

»Doch auf diesen Hochzeitsbildern…«, sagte Lorenz und rümpfte die Nase. Er hatte das Album plötzlich weit von sich gestreckt, als ob diese Distanz mit einem Schlag absolut notwendig geworden wäre.

»Diese Fotografien… sie haben etwas an sich… wie ist das Wort, nachdem ich suche?« Uwe bemerkte nun, dass Lorenz bereits etwas getrunken hatte, da ihm überhaupt kein Wort einzufallen schien. Er verstummte und wurde nachdenklich. »Wirken die Bilder von diesem euch fremden Fotografen nicht ein bisschen distanziert, ein bisschen steril?« fragte Uwe. »Steril! Genau das ist das Wort, nachdem ich gesucht habe.« Lorenz’ Miene hellte sich auf und wie aus dem nichts, kehrte in seinen Zügen wieder eine Jugend ein, die Uwe noch von früher kannte, die sogar über Müdigkeit und Trunk hinweg verriet, dass Lorenz eigentlich gerne lachte, in seiner Jugend viel gelacht hatte. Man sah es seinen Augen an.

Er hielt nun das Album wieder näher bei sich, als hätte Uwes Benennung des für ihn Unsäglichen, diesem roten Buch einen Fluch ausgetrieben, der den Bildern darin angehaftet hatte. Er legte es zufrieden zurück in die Truhe, exakt an dieselbe Stelle, von der er es hervorgenommen hatte.

Uwe hätte lügen müssen, hätte er nun gesagt, er sei nicht neugierig gewesen, wie es auf der Hochzeitsfeier ausgesehen hatte. Auf den Fotografien sah alles genauso aus, wie man sich einen derartigen Anlass vorstellt, eine Tatsache, die Uwe auf eine seltsame Art und Weise beruhigte. Seine Empfindung war eine Mischung aus Erleichterung darüber, dass seine Absenz scheinbar unbemerkt geblieben war und Dankbarkeit dafür, dass ihn noch niemand beschuldigt hatte, dadurch seine Anwesenheitspflicht als bester Freund des Bräutigams vernachlässigt zu haben.

Lorenz fiel erst jetzt auf, dass Uwe die ganze Zeit über eine Flasche Weisswein mit sich herumgetragen hatte. Er musste sie etwas versteckt gehalten haben, da sonst Lorenz selten etwas entging. Vielleicht hatte er sich von dem Drang, Uwe die Bilder zu zeigen, zu sehr mitreissen lassen. »Was bin ich für ein Gastgeber?« sagte er. Sein Gesichtsausdruck war flüssig in gespielte Empörung übergegangen. »Nicht mal die Geschenke werden einem hier noch abgenommen«, sagte er und nahm die Flasche höflich entgegen, bedankte sich und verstaute sie sogleich in einem Regal neben vielen anderen, auf denen sich bereits ein dünner Film Staub gesammelt hatte.

Die Truhe wurde wieder verschlossen, der Schlüssel wieder feinsäuberlich an der Werkzeugbank versteckt. »Jetzt aber hoch mit dir«, sagte Lorenz, nach verrichteter Arbeit und gab Uwe ein Zeichen, vorzugehen. Vom Keller hochkommend, öffnete Uwe die Tür ins Wohnzimmer, indem das Fest bereits in vollem Gange war.


Leute, die Uwe noch nie zuvor gesehen hat, sitzen an Festbänken und tun sich an einer Fleischplatte gütlich. Ein junger Herr bedient sich halb stehend von einem Silbertablett, das gerade die Runde macht. Zwei junge Frauen kommen rennend aus der Aula, beide tragen Abendkleider in bunten Farben, blau und gelb, ihre nackten Füsse, rutschen bei einer schnellen Drehung auf dem Parkett. Ihre schwarzen Hihgheels baumeln von ihren Zeigefingern, als sie in der Menge verschwinden. Das Licht taucht die schlichten Anzüge der Männer und die eleganten Kleider der Frauen in ein kühles Blau. Über dem weissen Ledersofa in einer Ecke, sitzen zwei junge Herren mit ihren Frauen und führen über feuchtperlende Gläser gebeugt im Schein der Neonlichter intime Gespräche. Die Leuchtröhren sind so installiert, dass Blau fliessend in warmes Violett übergeht. Uwe läuft staunend daran vorbei und fühlt die schiere, physische Präsenz des Flügels aus der Aula, deren faltbare Trennwand nun gänzlich geöffnet ist und eine zuvor störende Lücke, zwischen Musik und Essen, wie durch Zauberhand zum Verschwinden gebracht wurde. Den Pianisten sieht Uwe nur aus der Ferne, durch die im wechselnden Licht verschwommenen Konturen tanzender Menschen hindurch, hinter dem Flügel spielend, seine wilden, dunklen Augen auf den virtuosen Tanz seiner Finger gerichtet. Sein Körper in Aufruhr, die Schultern bewegen sich. Schweiss perlt auf seiner Stirn. Inmitten der Menge steht Lorenz bei einer Frau, die Uwe erst beim zweiten Blick als Lizzie erkennt, denn sie trägt ihre Haare nun offen. Lorenz und Lizzie halten sich bei den Händen und bewegen sich stilsicher, fast zurückhaltend, zu der gerade etwas ruhiger werdenden Musik. Eine Frauenstimme singt eine tanzbare Ballade und erntet nach der letzten Note vom ganzen Saal Pfiffe und Beifall. Befremdet vom Anblick, Lorenz mit einer anderen Frau tanzen zu sehen, nimmt Uwe ein Glas Champagner von einem vorbeikommenden Tablett. Er nimmt einen tiefen Schluck. Ein Mann rempelt ihn auf dem Weg zur Toilette an. Uwe geht weiter, als Applaus und Schreie und ein knallender Korken, das Ende eines Stückes feiern. Er geht am Fernseher vorbei, auf dem farbige Lichtmuster dekorativ den Jazz visualisieren, der warm von einem analogen Plattenspieler kommt. Durch die Fenster, die vom Boden bis zur Decke reichen, sieht er weitere Gäste draussen stehen. Unter wenigen bekannten Gesichtern sind viele neue, unbekannte, denen die Lebensfreude ins Gesicht geschrieben steht. Der Kälte trotzend, sammeln sie sich rings um den beleuchteten Pool. Männer in Badehosen, Frauen in Zweiteilern und Badeanzügen. Überall im Dunkeln tanzen kleine Displays von Telefonen, wie Leuchtkäfer. Etwas abseits, an einen Baum gelehnt, steht Danny, der mit energischen Gesten ein Gespräch dirigiert. Uwe hat sein erstes Glas leergetrunken, stellt es achtlos im Vorbeigehen auf eine Wandkommode, auf der mehrere hellrot schimmernde Flaschen frisch perlend in einem Eiskübel stehen. Er schliesst die Türe hinter sich und ist draussen. Der Lärm verstummt zu einem dumpfen Pochen, wie ein Puls. Uwe, auf die Uhr blickend – es ist halb elf – entschliesst sich dazu, sich den Abend schönzutrinken und nimmt im Gehen ein weiteres Glas von einem Tablett. Hinter dem Schwimmbecken glitzert die sternenklare Nacht und er findet endlich etwas, das ihm von früheren Besuchen vertraut vorkommt. Denn ansonsten ist Lorenz’ Haus wie verwandelt. Eine alte, verwitterte Bank, die auf einfachen, grünen Holzbalken – wie in Stadtpärken – einen bequemen Sitz bietet, steht draussen in der Nähe des Pools. Uwe setzt sich hin, lehnt sich ausatmend mit dem Glas Champagner in der Hand zurück, froh vorerst den grössten Rummel überstanden zu haben.


Uwe hatte in seiner Zurückgezogenheit vergessen, wie laut und intensiv solche Feiern doch waren. Von der Bank aus fiel ihm beim Pool eine junge Frau auf. In einem schwarzen Sportbikini schwamm sie auf den Rand des Schwimmbeckens zu. Als sie hinausstieg, nahm Uwe mit wachsendem Interesse das Spiel der feinen Muskeln ihrer Beine und Arme wahr, wie sie sich streckte und dabei ihren Körper, dessen Anblick Uwe unwillkürlich an Hochglanzbilder aus Fashionmagazinen erinnerte, offen seinem Blick zur Schau stellte. Sie hatte ihn schon lange bemerkt. Ein junger Mann, der scheinbar mit ihr geschwommen war, wollte sie ansprechen, doch sie versah ihn bloss mit einem vage mitleidigen Blick, denn nebst ihrer graziösen Körperhaltung, wirkte der eben aus dem Wasser Gestiegene mit seiner neugierigen, nervösen Annäherung deplatziert, wie jemand, der in einem fremden Ozean dem Funkeln einer exotisch anmutenden Meeresfrucht gefolgt war, einen Finger ausgestreckt hatte, in der Absicht das schöne Wesen zu berühren, dadurch das Phantastische in den Kreis des Bekannten zu führen und unter einem unerwarteten, neuartigen Schmerz zurückgezuckt war.

Sie ging zu einer neben dem Pool stehenden Liege, und liess sich darin nieder. Uwe hörte ein Kichern. Scheinbar lag darin bereits jemand. Neben der Liege warf eine im Wind lodernde, vor der Dunkelheit grell brennende Fackel ein warmes Licht auf die mit weissem Tuch bespannte Rückenlehne. Er sah nur ihre Hände über dem Kopfende hervorragen und hörte ein wohliges Lachen, als sie diese noch höher über den Rand hinausstreckte und sich die Finger ihrer Hand einige Male spreizten und wieder entspannten, bevor sie, langsam nach unten sinkend, wieder seinem Blick entzogen wurden.

Hinter Uwe öffnete sich die Tür auf und als er sich auf der Bank umdrehte, sah er Lorenz, der mit zwei Gläsern in den Händen und einem breiten Lächeln auf dem Gesicht auf ihn zukam. Uwe erkannte in seinem Gesicht den warmen, verständnisvollen Blick wieder, den Ausdruck, den Lorenz immer dann in den Augen gehabt hatte, wenn er Uwe ein bisschen Abseits des Geschehens, an einem Ort wo er sich, durch das laute, unaufhörliche Geschwätz, wie auf eine natürliche Art und Weise, hingetrieben fühlte, auffand und sich zu ihm gesellte. Uwe musste sich schmerzlich eingestehen, dass er diesen Blick, der nur die Dauer eines Augenschlags anhielt und doch ausreichte, um alles wieder gut zu machen, während den vergangenen fünf Jahren vermisst hatte.

»Meine Lieblingsbank«, sagte Uwe, um zu erklären, warum er sich hier aufhielt. »Ich sehe du hast Alexandra auch schon entdeckt«, sagte Lorenz und setzte sich hin. »Uwe – der stille Geniesser.« Er lachte fahl, als wäre er gequält von einem unangenehmen Gefühl, das für ihn zu dem Wort »Genuss« dazugehörte und reichte Uwe ein Glas Champagner. »Ich möchte euch gerne kurz vorstellen, deshalb habe ich ja auch gehofft, dass du kommst. Also nicht nur deswegen, es ist auch schön dich wieder hier zu haben, nach all der Zeit. Aber Alexandra gehört mittlerweile fest dazu und du ja auch, also müsst ihr euch kennenlernen.« Uwe war sich nicht sicher ob er das wollte, nachdem er Zeuge geworden war, wie man sich an ihr verbrennen konnte.

Uwe wollte Lorenz noch etwas sagen, bevor er Alexandra vorgestellt wurde, etwas das, so schien es Uwe, nur Lorenz etwas anging. »Ich habe eine Freundin«, sagte er, den Blick immer noch in Richtung des Türkis glitzernden Schwimmbeckens gerichtet. »Ach wirklich?« Lorenz sah Uwe ungläubig von der Seite her an, doch als dieser den Blick nicht erwiderte und ein wenig zu grinsen anfing, einen Schluck Champagner nahm, wurde Lorenz klar, dass das lang Erhoffte nun endlich eingetreten war. »Das sind ja gute Neuigkeiten! Darauf müssen wir anstossen.« Er hob das Glas und ein kristallenes Klirren zwischen ihnen machte die Sache zur Wahrheit. »Ich gratuliere dir. Du erinnerst dich bestimmt an meine Prophezeiung.« Uwe mochte nicht darüber reden, woran er auf dem Hinweg gedacht hatte, oder über die Vorfreude, die er gehegt hatte, Lorenz diese Neuigkeit zu überbringen, der wahrscheinlich schon vor einer Weile aufgehört hatte, zu glauben, dass Uwe seinen Teil der Prophezeiung jemals erfüllen werde. »Es freut mich wirklich für dich«, sagte er und klopfte ihm freundlich aufs Bein. »Du musstest für eine lange Zeit mit der Einsamkeit vorlieb nehmen. Es interessiert mich natürlich brennend, wo ihr euch kennengelernt habt und wie lange das schon dauert.« »Wir haben uns im letzten Herbstsemester an der Uni getroffen«, antwortete Uwe. »Sie ist eine Austauschstudentin aus Kalifornien und kommt für ein Jahr in die Schweiz, wegen ihrem Germanistikstudium.« »Sprecht ihr Englisch zusammen?« fragte Lorenz und Uwe fiel auf, dass in seiner Stimme eine gewisse Unsicherheit mitschwang, als hätte er Angst die Antwort zu erfahren. »Nein«, antwortete Uwe. »Du bist dir dessen vielleicht nicht bewusst, aber für die Amerikaner ist Deutsch eine Art Sehnsuchtssprache, die Sprache der Dichter und des modernen Expressionismus, so wie für uns hier eben Englisch auch eine Art Versprechung des Fremden ist, eine Art Flucht ins Unbekannte war es für mich ja auch, als ich mich zu diesem Studium entschlossen hatte. Ich möchte eigentlich Englisch mit ihr reden, aber wie ich, hat sie auch irgendein Problem mit ihrer Muttersprache – sie hat viel erlebt – und deshalb reden wir Deutsch. Sie spricht nahezu perfektes Deutsch. Manchmal weiss sie von der Grammatik gründlicher Bescheid als ich.« Sichtlich erleichtert, löste sich Lorenz’ Anspannung. »Ich bin froh«, sagte er, »dass sie Deutsch versteht. Denn wie du weisst, ist mein Englisch nicht viel Wert. Ich konnte mich knapp mit Armen und Beinen durchschlagen – Wo geht es denn hier bitte zur nächsten Burgruine? – letzten Herbst, als ich mit Lana in den Highlands gewesen bin.« Er machte eine Pause und beide wussten, was nun folgen würde: eine Sache der Höflichkeit, der guten Erziehung, die Lorenz genossen hatte und deren Gebote er nie ganz abzuschütteln gelernt hatte. »Ich kann es natürlich kaum erwarten, sie kennenzulernen… wie ist ihr Name?« »Valeria Flores«, antwortete Uwe. »Ihr Vater ist Mexikaner«, fügte er zögerlich an, um die Bedeutung ihres Namens weiterhin zu erläutern. »Doch eigentlich nennen sie alle nur ›Flor.‹« »Ein schöner Name!« sagte Lorenz laut, so dass sich einige der Gäste am Schwimmbecken verwundert nach ihnen umdrehten. »Könntest du mir einen Gefallen tun?«, fragte Uwe. »Ich wäre froh, wenn du das erst noch für dich behalten könntest.« Lorenz legte den Kopf schief und schaute Uwe aus vertrauenswürdigen Augen, in denen eine bestimmte Weisheit, die erst mit den Jahren gekommen war, kurz aufblitzte und sofort wieder verschwand.

Es war gegen halb Eins, als Lorenz mit Uwe zu einem breiten Holztisch ging, an dem Lana und Alexandra ganz alleine sassen und in ein Gespräch vertieft waren. Sie sassen an der Tischecke, da der Tisch viel zu breit war, um sich daran in intimer Nähe gegenüber zu sitzen. Alexandra hatte sich das Tuch, mit dem sie sich abgetrocknet hatte, wie ein griechisches Gewand um die Schultern gelegt. Lana trug ein weisses Designerkleid, welches auf den ersten Blick unbezahlbar wirkte Um ihren Hals trug sie eine perfekt zu ihrem Kleid passende, mit grünen und blauen Edelsteinen besetzte, goldene Halskette, die sich wie ein Dreieck über ihrem weit ausgeschnittenen Décollete zuspitzte, wie ein indianischer Traumfänger.

Lanas blondes Haar schimmerte im warmen Schein der zur Hälfte heruntergebrannten Tischkerzen golden. Sie hatte die Kunst. sich im besten Licht zu präsentieren, derart perfektioniert, ihre ganze Aufmachung schien auf die finale und absolut unmissverständliche Übermittlung einer einzigen Nachricht abzuzielen: Ich bin die Frau des Gastgebers.

Uwe begrüsste alle freundlich und wurde von Lorenz in der Weise »Uwe: Alexandra. Alexandra: Uwe« vorgestellt, bevor sich beide zu den Mädchen an den Tisch setzten. Lorenz setzte sich neben seine Frau, während Uwe neben Alexandra hinsass, so dass sie jetzt zu viert einen Winkel um die Tischecke bildeten und sich die grösste Distanz zwischen Uwe und Lorenz auftat. Alexandra nahm Uwes Anwesenheit mit einer Art innerlichem Schulterzucken zur Kenntnis und schaute ihn aus fröhlichen Augen beobachtend an.

»Ich bin so froh ist es erst Samstag! Könnt ihr euch vorstellen dieses Gefühl der Freiheit! Morgen ausschlafen? Wunderbar. Ich liebe nichts mehr. Und die Vorfreude! Morgen mit Lana Tennis spielen! Ich bin ganz entzückt! Bist du es auch, Lana?« Sie nahm einen Atemzug und warf den Kopf in den Nacken, blies Rauch in Richtung des Himmels. Sie lehnte den Kopf wieder vor und blickte Lana an. Neben Lana hatte sich Lorenz eingerichtet. Er hielt einen Arm um sie geschlungen und seine schwarze Anzugsjacke war über ihren Schultern ausgebreitet. »Ich freue mich auch«, sagte Lana. Es fiel Uwe auf, dass sie etwas zusammengesunken war, seit Lorenz sich an den Tisch gesetzt hatte. Ihre Augen sprachen mit flinken Zuspielen eine eigene Sprache mit Alexandra. Dass sie zusammen Tennis spielten, schien sich für Uwe wunderbar ins Gesamtbild einzufügen.

Lorenz merkte, dass niemand ein Gespräch anzufangen wagte, und ergriff kurzerhand die Initiative, denn er konnte die Stille nicht dulden. »Wir können das Wasser immer auf 23 Grad halten«, sagte er und zeigte stolz auf das Schwimmbecken. »Sogar an einem kalten Tag wie heute, denn unter dem Boden des Beckens verlaufen Wärmeleitungen.« Alle drehten sich in Richtung dessen, worauf Lorenz zeigte. Tatsächlich fiel Uwe nun auf, dass durch den Temperaturunterschied über der Wasseroberfläche feiner Dampf entstanden war. »Damit niemand frieren muss, haben wir erst gestern diese Wärmestrahler angeschafft.« »Er war ganz ausser sich, gestern«, kommentierte Lana. »Wir waren nach der Arbeit in einem Spezialladen und der Ladenbesitzer hätte uns fast eingesperrt, wir mussten ihn bitten, fünf Minuten länger geöffnet zu halten. Wenn sich Lorenz etwas vornimmt, lässt er sich nicht von einem Angestellten einen Strich durch die Rechnung machen«, sagte sie nun wohlig lachend, mit einem gewissen Stolz in der Stimme, lugte sie unter Lorenz’ Arm hervor.

Als Lorenz merkte, dass er und Lana, die ungeteilte Aufmerksamkeit des Tisches gewonnen hatten, beugte er sich zu ihr vor, neigte den Kopf und setzte ihr seine Lippen weich auf den Mund. Lana liess den Kuss geschehen, bis nichts Weiteres geschah und sie merkte, dass es an ihr war, ihren Lippen eine gewisse Härte abzuringen, dass es an ihr war, Bewegung in dieses Stillleben zu bringen.

Uwe und Alexandra blickten sich verwirrt an und waren beide froh, sich jetzt jemandem zuwenden zu können, um dieser Darbietung nicht alleine ausgesetzt zu sein.

Von Lana ablassend, fuhr Lorenz energisch mit seiner Rede fort und führte, mit ausgestrecktem Zeigefinger, die Blicke seines Publikums im Kreise herum: »Dort, dort und dort, stehen die Wärmestrahler«, sagte er. »Ein Handwerker kam sie heute Morgen installieren. Ihr habt das vielleicht auch schon in Lokalen mit Terrasse gesehen, wenn sich Gäste nicht von der Kälte nach drinnen verbannen lassen, hartnäckig den ganzen Winter über draussen sitzen bleiben und ihr euch fragt – frieren die nicht? – dann sind meistens, bei genauerem Hinsehen, solche Wärmestrahler am Werke. Das hat sich gut bewährt.« Uwe war erstaunt, an wie viele Einzelheiten für ein solches Fest scheinbar gedacht werden musste und wie diese letztlich doch häufig von allen übersehen wurden.

»Was machst du so?« fragte Alexandra. »Ich studiere Englische Literatur hier in Bern.« Uwe gefiel es, Alexandra aus dieser Nähe zu sehen. Sie hatte einen agilen, kleinen Mund mit schmalen, sinnlichen Lippen und wenn sie lachte, bewegte sich ihre Nasenspitze ein wenig. »Ich liebe das Lesen«, sagte sie. »Wenn ich etwas studieren könnte, ich hätte Anthropologie genommen, mich interessieren fremde Kulturen. Aber ich bin nie dazu gekommen, die Matura zu machen.« Sie unterstrich dies mit einem plötzlich aus ihr hervorbrechenden Lachen. Uwe nickte höflich. Ohne Vorwarnung, stand Lorenz auf einmal vom Tisch auf und nahm Lana bei der Hand. »Wir müssen uns entschuldigen«, sagte er. »Ich habe ein Telefonat zu tätigen und Lana fühlt sich bereits etwas müde.« Bevor er jedoch mit Lana nach drinnen aufbrach, wendete er sich ein letztes Mal an Uwe. »Geh doch bei Gelegenheit mit Alexandra auf den Golfplatz«, sagte er. »Sie würde sich über deine Gesellschaft bestimmt freuen.« »Das stimmt«, sagte Alexandra. Auf ihrem Gesicht war ein freches Lächeln.

Nun war Uwe mit ihr allein. Sie rückte etwas näher zu ihm, als wolle sie ihm ein Geheimnis verraten.

»Hast du eigentlich schon von dem Missgeschick am Hochzeitstag gehört?« fragte sie.

Uwe verneinte. Alexandra nahm auf dem Stuhl eine aufrechtere Haltung an, als würde sie für eine Rolle vorsprechen.

»Man veranstaltet doch diese Spiele an Hochzeiten«, sagte sie. Uwe nickte. Denn obwohl er Hochzeiten gemieden hatte, hatte er schon davon gehört.

»Lana hat sich dafür ausgedacht«, sagte sie, »Lorenz Kartoffeln schälen zu lassen, weil er doch sonst nie kocht. Das Ganze sollte zur Belustigung der Gäste beitragen« –schob sie ein, als könne sie Uwe noch nicht zutrauen, dieselbe Idee von Humor zu haben, wie sie– »und das ist ihnen dann auch ziemlich gut gelungen. Bloss nicht so, wie ursprünglich geplant. Denn stattdessen, hat sich Lorenz, vor versammelter Gesellschaft, den halben Zeigfinger weggeschält.«

Alexandra sprach wie ein Wasserfall und ihre Stimme klang wie sprunghafter Gesang, der den Zuhörer mit gehauchten Silben umschwärmte, so, dass jedes Wort wie ein kleines, unter sich gehaltenes Versprechen klang. Das Missgeschick mit den Kartoffeln amüsierte Uwe, weil er aus Erfahrung wusste, dass Lorenz sich vor anderen gerne als Koch des Hauses gab und Lana jeweils so tat, als hätte sie keine Ahnung von den mühseligen Pflichten des Haushalts, etwas Beharrliches, das täglich einfach von jemandem erledigt werden musste und worüber es die geläufige Annahme war, dass diese Pflichten niemand der bei Sinnen war, wirklich gerne verrichten würde, sie aber auch keine nennenswerte Belastung sein konnten. Hätte man Lana während solchen Inszenierungen – ein Grillfest im Sommer, Lorenz kümmert sich um das Fleisch – auf das Thema Kochen angesprochen, sie hätte, wie einstudiert, zur Antwort gegeben, dass sie noch nie etwas davon gehört habe.

Es war gegen Mitternacht, als Uwe und Alexandra ihr Gespräch beendeten. Das Zeichen dazu gab ihnen eine ausgehende Kerze auf dem Tisch, deren Docht schon tief im roten Wachs versunken war. »Wir sollten gehen«, sagte Uwe. Alexandra sah ihn verständnislos an, als sei es normal, um diese Zeit gerade erst in die Gänge zu kommen. »Ich übernachte heute hier«, sagte sie. »Ich hoffe, du hast nicht schon vergessen, dass ich morgen mit Lana Tennis spielen gehe. Übrigens sind meine besten Sportkleider hier. Ich schlafe im Gästezimmer. Willst du es sehen?« »Ich kenne das Haus bereits«, sagte Uwe. Er stand auf und winkte sie freundlich mit der Hand vor, nach drinnen zu gehen. »Ich bin nämlich in Vergangenheit selbst schon in das Gästezimmer eingelagert worden«, sagte er. Alexandra schenkte ihm für diese Bemerkung ein Lachen. Vielleicht bloss, um damit zu sagen, dass die erste Begegnung zwischen ihnen auf einem fröhlichen Ton endete.

Vor dem Haus war Aufbruchsstimmung. Uwe hörte den Motorenlärm ringsherum, als die ersten Wagen beschleunigten und unter einem Gewirr von Scheinwerfern in alle Richtungen davonfuhren. Ein Geräusch war besonders nervenaufreibend: eine Limousine der gehobenen Fahrzeugklasse stand quer in der leicht abschüssigen Einfahrt. Der Fahrer, man sah ihn neben seiner Frau durch die Windschutzscheibe im hellen Licht, wie sie sich gegenseitig energisch anredeten, er mit einer Hand an die Kopfstütze des Beifahrersitzes greifend und den Kopf abgedreht, um nach hinten zu sehen. Seine Frau redete etwas auf ihn ein, man konnte sie durch den Lärm nicht hören, ihre Arme verschränkt. Das Fahrzeug machte ruckartige Anläufe und wippte energisch auf und ab, ein Schütteln, das die absurd grosse Frisur der Frau jedes Mal im Fahrzeuginneren hin und her warf.

Die bis zum Anschlag schräg stehenden Vorderräder drehten im Leeren. Uwe sah unter den Reifen das Gitter einer Regenrinne verlaufen, die behelfsmässig mit langen Holzbalken überdeckt war, so dass sich in der Lücke vom Schneeregen am Nachmittag besonders viel Bodenfrost gebildet hatte. Mehrere Leute die nach und nach heraus kamen, sammelten sich an und begannen dem Fahrer Kommentare zuzurufen. »Nimm etwas Gas weg«, sagte ein Mann in einem Filzhut. »Hast du deinen Führerschein in der Lotterie gewonnen?«, sagte ein anderer und lachte herzlich mit seiner Freundin darüber, die sich unter seinen Arm schmiegte, in hohen Absätzen auf dem glatten Boden.

Uwe ging langsam daran vorbei, die Hände in die warmen Taschen seines wollenen Übermantels gesteckt und drehte den Kopf, um das Schauspiel möglichst lange zu verfolgen und machte sich in Gedanken seine eigene Meinung dazu – »er müsste nochmals vorfahren in die Einfahrt, dann gerade rückwärts, damit sich die Traktion der Vorderräder gleichmässig auf die beiden Reifen verteilt. So käme er leicht über den Absatz.«

Danny kam nun mit Lizzie zum Spektakel hinzu und gab ihr ein Zeichen, sich zu den Zuschauern zu gesellen, mittlerweile fast zehn Leute, einige davon hatten schon die Schlüssel zu ihren eigenen Wagen in der Hand, und trat vor die Limousine. Er türmte sich vor der Kühlerhaube des immer noch hin und her wippenden Wagens auf. Die blassgrellen Xenon Scheinwerfer warfen einen Schatten an die Einfahrt und Rauch stieg unter der Anstrengung des Motors auf. Danny lehnte seinen riesenhaften Körper mit beiden Armen mit schierer Gewalt gegen die Front des Wagens und sagte »Gib mehr Gas!«

Beim nächsten Aufbrausen wurde die Planke überwunden und die Limousine schoss rückwärts in die Strasse. Erschrocken konnten einige Beisteher noch gerade zurückweichen, bevor der Wagen knapp vor ihnen zu stehen kam. Der Fahrer kurbelte die Scheibe runter. »Nichts für Ungut!« Der Gruss galt Danny und auch ein Bisschen all den anderen, um sich pauschal für die gute Unterhaltung zu entschuldigen. Die Limousine fuhr davon und die versammelten Zuschauer zerstreuten sich, insgeheim ein wenig enttäuscht über den glimpflichen Ausgang.

Uwe war bereits Richtung Bahnhof losgegangen, er hatte die letzten Ereignisse noch verfolgt, indem er hie und da unauffällig zurückgeblickt hatte, als die Limousine laut vorbeiflog – vor dem Einbiegen in die Hauptstrasse wieder energisch abbremste und sogleich wieder rasend beschleunigte – und in die verkehrsarme Nacht davonraste.

»Warte, Uwe!« rief es von hinten. Die Stimme gehörte Danny. Er kam in schnellen Schritten, hinterher Lizzie, die sich mit ihren Absätzen schwertat. »Hast du gesehen, wie ich den aus der Klemme geschoben habe?« sagte Danny heiter. »Es war nicht zu übersehen«, sagte Uwe. Er reichte Lizzie die Hand und grüsste. Ihre Begrüssung verhallte in der klaren Nacht und niemand war sich sicher, was darauf zu sagen war. »Du bist von den Toten auferstanden!« rief Danny, in einer groben, unvorsichtigen Stimme und gab Uwe zum Gruss einen etwas hart geratenen Hieb auf das rechte Schulterblatt, unter dem Uwe ein bisschen nach vorne wich. »So in der Art«, sagte Uwe und musste sich anstrengen neben den beiden schnellen Läufern Schritt zu halten. »Kommst du jetzt wieder häufiger, oder kamst du nur schnell vorbeischauen?« fragte Lizzie herausfordernd. »Mal sehen. Es hat mir eigentlich relativ gut gefallen heute Abend. Alexandra kannte ich noch gar nicht.« »Du wirst noch viel von ihr sehen«, versicherte ihm Danny, der sich nun, das Adrenalin von der imposanten zur Schau Stellung seiner Muskelkraft war verflogen, an das viele Trinken zu erinnern schien. »Sie ist nett«, sagte Uwe. »Wir haben uns kurz draussen auf der Terrasse unterhalten.« »Sie ist eine Frau von Klasse«, grinste Danny ihn an. »Merk dir das.« Nach einer kurzen Pause schien er sich an etwas zu erinnern, zog die Augenbrauen hoch und schaute Uwe prüfend an. »Ich habe gehört, du hättest eine Freundin.« sagte er. »Freundin ist vielleicht ein Bisschen zu viel gesagt«, sagte Uwe, »denn wir kennen uns erst seit anfangs letztem Semester.« Sichtlich erheitert über dieses Geständnis, machten Danny und Lizzie unter sich gewisse Dinge mit Gesten aus und mussten sich scheinbar anstrengen, etwas für sich zu behalten, etwas unangebrachtes vielleicht, das in Worte gefasst obszön geklungen hätte. »Das freut mich für dich«, sagte Danny und auch Lizzie sah ihn an und nickte ihren Kopf. Sie trug ihr Haar nun wieder hochgesteckt. »Wirklich«, sagte sie, »eine noch junge Beziehung, das ist etwas Wunderbares. Wir mögen es dir von Herzen gönnen.«

Danny schaute auf das blaue Zifferblatt seiner teuren, aus mattem Metall gefertigten Uhr. »Wir müssen uns nicht beeilen, du schaffst es auf den nächsten Zug und wir haben den Wagen am Bahnhof abgestellt«, sagte er. Ein Pärchen überquerte freizügig unter Gelächter die Strasse. Ihre Schritte hallten wider in einer betongrauen, von Sprayern karg verzierten Unterführung, die zu den Zügen führte.

»Ich habe dich letzte Woche an der Uni gesehen«, sagte Lizzie, die neben Danny auf dem Perron stand, ihr Halstuch in der Turbulenz eines gerade vorbeigeflogenen Zuges wehend. Uwe konnte zunächst keinen Sinn daraus machen. Sie studierte doch in Genf? Oder zumindest war er sich fast sicher, dass sie dies einmal gesagt hatte, zwar nicht zu ihm direkt, aber er hatte irgendwann etwas dergleichen mitgehört. »Sie studiert schon seit Februar und noch bis Ende August in Bern«, sagte Danny. »Ein interdisziplinäres Theaterprojekt. So eine Art Austausch, erklär du es ihm, Lizzie«, sagte er, mit hochgezogenen Schultern. Sein Hals verschwand ganz im hochgestellten Kragen seiner schicken Jacke, die angeblich mit Federn von Enten gefüllt sei. »Schön, dass es dich interessiert«, wandte sie sich vorwurfsvoll an Danny, der immerhin dazwischen gegangen war, als zwischen ihr und Uwe die Kommunikation fehlzuschlagen drohte und nun eine Rüge erhielt, es kümmere ihn nicht, zu welch exklusivem Austauschprogramm seine Frau auserwählt worden sei. Sie wandte sich wieder an Uwe. »Wir proben eine Inszenierung von Tod eines Handlungsreisenden«, sagte sie und sie pausierte für einen speziellen Effekt, der sich jedoch Uwe nicht ganz erschliessen wollte. »Ich bin Linda«, sagte sie schliesslich, die Augen bescheiden auf den blau schimmernden Stahl der Geleise wendend. Uwe glaubte, für einen flüchtigen Moment, auf ihrem Gesicht verspielte Reflexionen gesehen zu haben, als blickte sie in das Spektrum eines Diamanten, bevor diese Täuschung des Lichtes wieder verschwand. »Ich bin mir sicher«, sagte Uwe, »dass du in der Rolle der Linda dein Publikum überzeugen wirst. Ich kenne das Buch, es ist in meinem Studium Pflichtlektüre.« Sie lachte in der Kälte, sogleich um sich zu wärmen und Uwes Belesenheit zu würdigen. »Du schmeichelst mir«, sagte sie.

Danny hatte begonnen aus den Knien leicht auf und ab zu wippen. Sie blickte auf und ihr Blick streifte ihren Ehemann, der sich auf das Vertreiben der Kälte konzentriert hatte und als sie Uwe wieder ansah, war in ihrem Gesicht die sachliche, kühle Tonlage eingekehrt, in der sie ihn zuvor gefragt hatte, ob er nun wieder des Öfteren mitkäme. »Wir werden auch schon Proben. Wir hatten schon zwei und ihr könnt mal eine anschauen kommen, wenn ihr Lust habt.« »Klar«, sagte Danny und es war schwierig zu sagen, ob er damit die Einladung bestätigte oder bloss meinte »klar«, wie wenn einer fragt: »Darf ich Wein nachschenken?«

»Du musst uns mal in Genf besuchen kommen«, sagte er. »Du hast unser Haus noch gar nie gesehen, oder?« Uwe verneinte. »Wir wohnen in der Nähe eines PKZ«, sagte sie. »Du kennst sicher den Kleiderladen?« Uwe schien nicht verstanden zu haben. »Dann kommt ihr jeden Morgen daran vorbei? Ich meine…. zur Arbeit… in den Ferien?« »Ja, immer«, antwortete Lizzie, als sie dies mit den Augen erwogen hatte, so dass ihre Pupillen wanderten, wie Wellenlinien, die unter dem Stift eines malenden Kindes entstehen. »Nervt dich das nie? Nie Pause vom Einkaufen?« sagte Uwe. »Nein, gar nicht«, sagte sie. »Letztes Wochenende… oder war es Vorletztes?« Sie schaute Danny an, der begonnen hatte, seine Knie von innen nach aussen kreisen zu lassen. »Vorletztes«, sagte er, ohne von einem Punkt aufzusehen, den er, unter den schwarzen Steinen des Geleisbeets, fest fixiert hatte. »Vorletztes Wochenende«, sagte Lizzie, Dannys Stichwort aufnehmend – Uwe staunte darüber, wie eingespielt die beiden waren – »haben wir uns spontan dazu entschlossen, an eine Feier zu gehen, zu der es einen dresscode zu beachten galt. Der Code lautete »Sportlich-Elegant« und ich habe mir im PKZ etwas sportlich-elegantes gekauft, noch am selben Abend. Danny stand nach Feierabend noch unter der Dusche. Ich hatte ihm gesagt, das habe er sich verdient, nach einem langen Tag in der Anwaltskanzlei – Gott weiss, was er dort tut! – und ich habe ihm ein sportlich-elegantes Hemd mitgebracht, ebenfalls aus dem PKZ. Und an der Feier, du glaubst es nicht, wen wir da getroffen haben: Anna Richter mit Oskar Lebewohl – Lebewohl aus dem neuen Palermo-Streifen, der gerade in Cannes angelaufen ist? – ich sage Danny immer, er erinnert mich an Lebewohl und das schmeichelt ihm und Klaus von Gunten war auch dort – der Kunstkritiker aus Dübendorf – mit seiner Frau Aglaja und Hanne Eyschwyler – du kennst die Eyschwylers, die musst du kennen! – wir fuhren mit Klaus… wie war noch sein Nachname?« Danny half ihr auf die Sprünge. »Pomodoro«, sagte er. »Klaus Pomodoro fuhr mit uns im Taxi und Azalea Garibaldi, der Opernstar. Er hat sie auf Bali geheiratet. Sie haben ein wundervolles Kind adoptiert – sie hatten es mitgebracht – es sass mit uns in der Limousine und sie sagten immer zu – »bitte noch ein Orangensaft für Sylvain« – als wir schon längst Wein zu trinken begonnen hatten und wie dieser Sylvain aussah! Mit seinem Orangensaft! – die grösste Minibar die ich je gesehen habe, in dieser Limousine und auf der Tanzfläche ich konnte es kaum glauben… « Ihre Stimme steigerte sich zu einem zwitschernden Gesang, als immer neue Wörter in einem nicht enden wollenden Blitzlichtgewitter vor ihr emporschossen und ihre Fantasie verzauberten wie Feuerwerk. Uwe war unwillkürlich an eine Aufführung der kleinen Lisa erinnert, in der Vorschule, wie sie zum ersten Mal herausfand, dass es Situationen gab, von denen niemand wegrennen darf, zum Beispiel Schulaufführungen oder Ansprachen, als er von Weitem zwei kleine Lichter erblickte. »Das ist wohl deiner«, sagte Danny. »Es war eine der besten Feiern. Wir müssen dich da auch mal mitnehmen«, sagte Lizzie, die ihre Rede inmitten eines Satzes unterbrochen hatte. »Es gibt noch so viel zu erzählen. Und warte nicht wieder so lange, bis du dich meldest … Versprochen?« »Versprochen«, sagte Uwe, der in Gedanken schon im beheizten Zugabteil sass. »Wir hören uns.« Er wollte Lizzie die Hand reichen, doch sie zog ihn zu Küsschen auf die Wangen zu sich, ein Ritual das Uwe zögerlich mitspielte. Er reichte Danny die Hand, der zu einem satten Gruss einschlug. Uwe mischte sich unter ein paar andere Leute, die gerade erst angekommen waren. Er drehte sich um und sah Danny und Lizzie in Richtung ihres Wagens laufen, dessen Scheinwerfer kurz aufblinkten und die beiden in sich aufnahm. Uwe stieg in den Zug, vergewisserte sich, dass er in die richtige Richtung fuhr und setzte sich in ein leeres Viererabteil.


Der Prophet und sein Kritiker

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