Читать книгу Der Zigeuner und die Jungfrau - D. H. Lawrence - Страница 5
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ОглавлениеAber erst, als die beiden Schwestern endgültig von der Schule heimkamen, fühlten sie das volle Gewicht, mit dem die tote alte Hand der Mater auf ihrem Leben lastete. Lucille war damals fast einundzwanzig, Yvette neunzehn. Sie hatten eine gute Mädchenschule besucht und waren dann ein abschließendes Jahr in Lausanne gewesen; nun waren sie genau das, was man erwarten durfte: schlanke junge Geschöpfe mit frischen, beweglichen Gesichtern, mit kurzem Haar und jungenhaften Ich-scher-mich-den-Teufel-Manieren.
»Was ich so scheußlich öde in Papplewick finde,« sagte Yvette, indessen sie auf dem Kanaldampfer standen und die grauen, grauen Klippen von Dover langsam näherrücken sahen, »-es sind überhaupt keine Männer da. Weshalb hat Papa nicht ein paar nette alte Kerle in seiner Freundschaft? Na, und Onkel Fred – ich danke!«
»Oh, man weiß doch nie – es kann ja was auftauchen«, sagte Lucille, die mehr zu weltweiser Betrachtung neigte.
»Tu nicht so, als ob du nicht wüßtest, was uns erwartet«, sagte Yvette. »Sonntags Chorgesang, und ich kann gemischten Chor nicht ausstehen. Jungenstimmen allein sind entzückend, aber es dürfen keine Frauenstimmen dazwischen kommen. Na, und Sonntagsschule, und Jungfrauenverein, und gesellige Zusammenkünfte – alle die lieben alten Seelen, die wissen wollen, wie es Großmuttchen geht. Meilenweit nicht ein einziger netter Junge.«
»Na, ich weiß doch nicht –!« sagte Lucille. »Da sind doch schließlich immer noch Framleys. Und Gerry Somercotes himmelt dich an, das weißt du doch.«
»Ich kann Bengels, die mich anhimmeln, nicht ausstehen!« rief Yvette und kehrte ihre nervöse Nase zum Himmel. »Sie öden mich an. Sie hängen Einem an wie Blei.«
»Also anhimmeln sollen sie dich nicht. Schön. Aber was verlangst du denn eigentlich? Ich finde es furchtbar nett, sich anhimmeln zu lassen. Daß man sie nicht heiratet, versteht sich von selbst – also weshalb sollen sie nicht himmeln, wenn es ihnen Spaß macht?«
»Ich will mich aber verheiraten«, rief Yvette.
»Schön. Dann laß dich doch von ihnen anhimmeln, bis du einen darunter findest, der allenfalls fürs Heiraten in Frage kommt.«
»Auf die Art finde ich nie einen. Nichts bringt mich dermaßen auf wie ein augenverdrehender Verehrer. Sie öden mich an! Mir wird hundsmiserabel davon.«
»Mir auch, wenn sie Einem zu nahe rücken. Aber aus einiger Entfernung finde ich sie ganz nett.«
»Ich möchte mich mal ganz furchtbar verlieben.«
»Das sieht dir ähnlich! Ich nicht! Ich würde es abscheulich finden. Du wahrscheinlich auch, wenn es dir tatsächlich passierte. Und schließlich müssen wir uns wohl erst mal ein bißchen einleben, bevor wir wissen, was wir wollen.«
»Aber findest du es nicht auch scheußlich, daß wir jetzt wieder nach Papplewick müssen?« sagte Yvette und kehrte ihr nervöses Näschen zum Himmel.
»Nein, das kann ich eigentlich nicht sagen. Gewiß, wie werden uns wohl ein bißchen langweilen. Ich wollte, Papa schaffte sich einen Wagen an. Wahrscheinlich müssen wir unsere alten Fahrräder wieder aus dem Stall holen. Wär's nicht nett, mal wieder nach Tansy Moor hinaufzufahren?«
»Oh, entzückend! Wenn es auch ein gräßliches Stück Arbeit ist, so eine alte Tretmühle die Hügel hinaufzustrampeln.«
Das Schiff näherte sich den grauen Klippen. Es war Sommer, aber der Tag war grau. Die beiden Mädchen hatten die Pelzkragen ihrer Mäntel hochgeklappt und ihre flotten kleinen Hüte über die Ohren herabgezogen. Hochgewachsen waren sie, schlank, mit frischen Gesichtern, unverbildet kindlich, dabei selbstbewußt, allzu selbstbewußt in ihrem schulmädchenhaften Dünkel – und in alledem so furchtbar englisch. Sie schienen so frei – und waren natürlich innerlich in lauter Vorurteile verwickelt und verstrickt. Sie schienen so kühn und unabhängig – und waren in Wahrheit natürlich ganz und gar abhängig und in sich selbst wie in einen Käfig eingesperrt. Sie sahen aus wie mutige, schlanke Segler, die eben aus dem Hafen auf das weite Meer des Lebens hinausfahren. Und sie waren natürlich nichts weiter als zwei arme steuerlose Lebensschiffe, die vom einen Ankerplatz nur losgekettet waren, um zum anderen zu treiben.
Als sie ins Pfarrhaus kamen, fuhr ihnen ein Frösteln ins Herz. Es kam ihnen häßlich, fast schmutzig vor; es hatte die muffige Atmosphäre jener kleinbürgerlichen, ungepflegten Behaglichkeit, die aufgehört hat, behaglich zu sein und nur noch staubig und unsauber ist. Das unfreundliche steinerne Haus mutete sie beklemmend unsauber an, sie hätten nicht zu sagen gewußt, warum. Die schäbigen Möbel schienen ihnen irgendwie schmutzig – nichts im ganzen Hause atmete Frische. Sogar das Essen, das auf den Tisch kam, hatte jene abscheuliche trostlose Gewöhnlichkeit, die für ein ›von draußen‹ kommendes junges Geschöpf so ekelerregend ist. Rostbraten und nasser Kohl, kaltes Hammelfleisch und Kartoffelbrei, saure Gurken und unentschuldbare Puddinge.
Großmuttchen, die ›gern ein Häppchen Schweinernes aß‹, bekam auch besondere Gerichte, Fleischbrühe und Zwieback oder ein Schüsselchen mit duftendem Eierrahm. Die graugesichtige Tante Cissie aß überhaupt nichts. Sie saß stumm am Tisch und legte sich nichts weiter als eine einzige einsame nackte gekochte Kartoffel auf den Teller. So saß sie mit bösartiger Beharrlichkeit während der ganzen Mahlzeit, indessen Großmuttchen eilig das für sie Zubereitete hinunterschlabberte – man konnte von Glück sagen, wenn sie sich dabei nicht den vorgewölbten Bauch bekleckerte. Was auf den Tisch kam, war in keiner Weise verlockend; wie konnte es das auch sein, wenn Tante Cissie alles Eßbare, ja den Vorgang des Essens selbst verabscheute und niemals ein Dienstmädchen auch nur ein Vierteljahr im Hause halten konnte? Die beiden Schwestern aßen mit Widerwillen, wobei Lucille wacker Haltung wahrte, während Yvettes empfindsames Näschen deutlich ihre Abneigung ausdrückte. Nur der Pfarrer, weißhaarig, machte eine Ausnahme: er wischte seinen langen grauen Schnurrbart mit dem Mundtuch und machte behaglich seine Witzchen. Auch er begann schwerfällig und träge zu werden, da er den ganzen Tag in seinem Studierzimmer saß und jede körperliche Anstrengung mied. Aber er riß immerzu seine spöttischen Witzchen und saß behaglich unter der schirmenden Obhut der Mater.
Die Landschaft mit ihren steilen Hügeln und ihren tiefen, schmalen Tälern war ernst und düster, aber es lag eine ganz eigene mächtige Kraft darin. Zwanzig Meilen entfernt begann die schwarze Industriegegend des Nordens. Aber das Dorf Papplewick war so etwas wie eine Insel, und das Leben darin war steinig und starr. Alles war aus Stein und von einer schroffen Härte, die in ihrer Unnachgiebigkeit beinahe etwas Erhabenes hatte.
Alles traf ein, wie es die Schwestern vorausgesehen hatten: sie traten wieder in den Chor ein, sie halfen in der Kirchspielarbeit. Aber Yvette wehrte sich entschieden gegen die Sonntagsschule, den Hoffnungsbund und den Christlichen Jungfrauenverein – kurz gegen alle die Betätigungen, die von ausgemachten alten Jungfern und eigensinnigen, beschränkten ältlichen Männern ausgeübt wurden. Sie drückte sich soviel wie möglich um die Kirchenpflichten und verließ das Pfarrhaus bei jeder nur denkbaren Gelegenheit. Die Framleys, eine große, schmuddelige, vergnügte Familie droben auf dem Grange, waren ihr da eine unschätzbare Zuflucht. Jede Einladung zu einer Mahlzeit außerhalb des Hauses nahm sie sogleich an, sogar wenn eine von den Arbeiterfrauen sie einlud, zum Tee zu bleiben. Sie spürte ein seltsames Gefühl der Erregung, wenn sie in solche Häuser kam. Sie unterhielt sich gern mit den Arbeitern; viele von ihnen hatten, fand sie, so prachtvoll geschnittene, hartlinige Köpfe. Aber sie lebten natürlich in einer anderen Welt.
So gingen die Monate hin. Gerry Somercotes war ein treuer Anbeter. Natürlich waren auch noch andere da – Söhne von Landwirten oder Mühlenbesitzern. Eigentlich hätte es für Yvette eine gute Zeit sein müssen. Es gab ununterbrochen Gesellschaften und Tanzabende, Freunde holten sie im Wagen ab und sausten mit ihr zur Stadt, zum Nachmittagstanz im vornehmsten Hotel oder in dem ›fabelhaften‹ neuen Tanzpalast, ›Pally‹ genannt.
Bei alledem ging sie immer umher wie unter einem hypnotischen Bann. Niemals fühlte sie sich so frei, daß sie wahrhaft heiter sein konnte. Tief in ihr wühlte unablässig ein unerträgliches Gefühl der Gereiztheit, die ihr selbst wie ein Unrecht vorkam, die ihr selbst verhaßt war, und die dadurch nur um so schlimmer wurde. Sie wurde sich niemals darüber klar, wodurch dieses Gefühl entstand.
Zu Hause war sie tatsächlich äußerst reizbar und benahm sich gegen Tante Cissie abscheulich grob. Yvettes böse Launenhaftigkeit wurde sprichwörtlich in der Familie.
Lucille, die schon immer mehr zum Praktischen neigte, nahm in der Stadt eine Stellung als Privatsekretärin bei einem Manne an, der Jemanden mit fließendem Französisch und Stenographie brauchte. Sie machte die Fahrt zur Stadt und von der Stadt täglich im gleichen Zuge wie Onkel Fred. Aber sie fuhren niemals gemeinsam; Lucille radelte bei gutem wie bei schlechtem Wetter zum Bahnhof, und Onkel Fred ging zu Fuß.
Die beiden Schwestern waren sich in einem Punkte einig: Sie wollten ein wirklich kurzweiliges gesellschaftliches Leben führen. Und es war für sie ein immer neuer Anlaß zur Wut, daß das Pfarrhaus für ihre Freunde ›unmöglich‹ war. Im Erdgeschoß waren nur vier Räume: die Küche, in der die beiden mißvergnügten weiblichen Dienstboten hausten; das dunkle Speisezimmer; das Studierzimmer des Pfarrers; und das große, ›gemütliche‹, traurige Wohnzimmer, auch ›Salon‹ genannt. Im Speisezimmer war ein Gasofen. Nur im Wohnzimmer wurde ein richtiges wärmendes Feuer unterhalten. Denn hier war natürlich Großmuttchens Thron aufgeschlagen.
In diesem Raum versammelte sich die Familie. Abends, nach dem Essen, pflegten der Pfarrer und Onkel Fred mit Großmuttchen unweigerlich Kreuzworträtsel zu lösen.
»Na, Mater, bist du so weit? N Punkt Punkt Punkt Punkt W: ein siamesischer Beamter.«
»Wie? Was? M Punkt Punkt Punkt W?«
Großmuttchen war schwerhörig.
»Nein, Mater. Nicht M! N Punkt Punkt Punkt Punkt W: ein siamesischer Beamter.«
»N Punkt Punkt Punkt Punkt W: ein chinesischer Beamter.«
»– siamesisch.«
»Wie –?«
» Siamesisch! Siam!«
»– ein siamesischer Beamter! Was kann das wohl sein?« sagte die alte Dame tiefsinnig und faltete die Hände über dem rundlichen Bauch. Die beiden Söhne stellten Vermutungen an, und die alte Dame sagte »Aha! aha!« dazu. Der Pfarrer war erstaunlich findig beim Lösen von Kreuzworträtseln. Fred aber verfügte über einen gewissen technischen Wortschatz.
»Das ist aber mal eine harte Nuß«, sagte die alte Dame, wenn sie sämtlich nicht weiter wußten.
Lucille saß derweil in einer Ecke, hielt sich die Ohren zu und tat, als läse sie; Yvette arbeitete mit verärgertem Gesicht über ihrem Zeichenblock oder summte laute und herausfordernde Melodieen, um so zum Familienkonzert beizutragen. Tante Cissie holte sich Schokolade aus der Schachtel, ein Stück nach dem anderen, ihre Kinnladen arbeiteten pausenlos. Sie lebte buchstäblich von Schokolade. Sie saß abseits, schob ein neues Stück in den Mund und sah dann wieder in die Kirchenzeitschrift. Schließlich hob sie den Kopf und stellte fest, daß es Zeit war, für Großmuttchen die abendliche Tasse Horlicks zu holen.
Sobald sie draußen war, öffnete die nervöse Yvette mit einer erbitterten Bewegung das Fenster. Die Luft im Zimmer war niemals frisch, und Yvette meinte immer einen Geruch zu spüren: es roch nach Großmuttchen. Die Mater, schwerhörig, wie sie war, hatte Ohren wie ein Wiesel, sobald sie etwas nicht hören sollte.
»Hast du das Fenster aufgemacht, Yvette? Ich finde, du solltest eigentlich daran denken, daß wir Älteren schließlich auch noch da sind«, sagte sie.
»Man erstickt hier ja! Es ist nicht auszuhalten! Kein Wunder, daß wir alle immer erkältet sind.«
»Ich finde, das Zimmer ist groß genug, und das Feuer brennt ausgezeichnet.« Die alte Dame schüttelte sich ein bißchen. »Es zieht hier, daß wir uns alle den Tod holen können.«
»Kein bißchen zieht es«, schrie Yvette. »Bloß ein bißchen frische Luft.«
Die alte Dame schüttelte sich abermals und sagte:
»Frische Luft. Soso.«
Worauf der Pfarrer zum Fenster ging und es fest zumachte. Dabei sah er seine Tochter nicht an. Er handelte höchst ungern gegen ihren Willen. Aber sie mußte doch schließlich die Grenze kennen.
Die Kreuzworträtselraterei, vom Teufel persönlich erfunden, ging weiter, bis Großmuttchen ihre Tasse Horlicks getrunken hatte und den Weg ins Bett antrat. Nun kam die feierliche Handlung des Gutenachtsagens. Alle standen auf. Die Schwestern bekamen von der blinden alten Dame ihren Kuß, der Pfarrer reichte ihr den Arm, und Tante Cissie folgte mit einer Kerze in der Hand.
Dies alles geschah erst um neun Uhr, obwohl Großmuttchen nun wirklich alterte und eigentlich schon eher hätte im Bett sein sollen. Wenn sie dann aber im Bett lag, konnte sie nicht schlafen, bis Tante Cissie kam.
»Seht ihr,« sagte Großmuttchen, »ich habe niemals allein geschlafen. Vierundfünfzig Jahre lang habe ich keine Nacht geschlafen, ohne daß der Pater seinen Arm um mich gelegt hatte. Und als er von mir gegangen war, hab ich versucht, allein zu schlafen. Aber jedesmal, sobald ich die Augen zugemacht hatte, gabs meinem Herzen einen Stoß, daß es mir fast aus dem Leibe sprang, und ich flog an allen Gliedern. Ach, denkt meinetwegen, was ihr wollt, aber es war fürchterlich – nach vierundfünfzig Jahren einer wunschlos glücklichen Ehe. Ich hätte gewünscht, daß der Herr mich vor dem Pater heimrief, aber der Pater – ja, also ich glaube wirklich, er hätts nicht überstanden.«
Infolgedessen schlief Tante Cissie bei Großmuttchen. Und sie beklagte sich bitter. Sie käme niemals zum Schlafen, sagte sie. Und sie wurde grauer und grauer, und das Essen, das auf den Tisch kam, wurde immer schlechter, und schließlich mußte Tante Cissie sich operieren lassen.
Großmuttchen aber stand, wie immer, gegen Mittag auf, und beim Mittagessen führte sie, mit vorgewölbtem Bauch in ihrem Lehnstuhl thronend, den Vorsitz; ihr gerötetes Gesicht mit den Hängebacken – sein Ausdruck war so etwas wie abscheuliche Majestät – fiel unter der Mauer ihrer hohen Stirn in sanften Wellen herab, und ihre blauen Augen spähten blicklos umher. Ihr weißes Haar wurde dünn, und das Ganze war ein bißchen unappetitlich. Aber der Pfarrer schoß wohlgelaunt seine Witzchen auf sie ab, und sie tat, als ärgere sie sich darüber. In Wahrheit aber saß sie in ihrer betagten Fülle vollkommen zufrieden und behaglich da; nach den Mahlzeiten pflegte sie den Wind aus ihrem Magen zu entfernen, indem sie die Hand auf den Busen drückte und mit großem körperlichen Behagen rülpste.
Der schlimmste Ärger für die beiden Schwestern war die Tatsache, daß unabänderlich, wenn sie das ihnen befreundete junge Volk ins Haus brachten, Großmuttchen auf ihrem Platz thronte und alle Aufmerksamkeit für sich beanspruchte: ein greuliches Götzenbild aus vielem alten Menschenfleisch. Es war ja nur ein einziges Zimmer für Alle da. Da saß denn die alte Dame, und Tante Cissie hielt scharfe Wacht. Jeder Besucher mußte zuerst der Mater vorgestellt werden; sie war geneigt, leutselig zu sein, denn sie hatte gern Gesellschaft. Von Jedem mußte sie wissen, wer er war, und woher er kam; dazu alles, was sich in seinem Leben zugetragen hatte.
Dann, wenn sie ›im Bilde‹ war, konnte sie die Führung des Gesprächs an sich reißen.
Nichts hätte die beiden Schwestern ärger aufbringen können. »Ist sie nicht wundervoll, die alte Mrs. Saywell?« sagten die Besucher. »Wieviel Anteil nimmt sie noch am Leben – mit ihren beinahe neunzig Jahren!«
»Sie nimmt Anteil an den Angelegenheiten anderer Leute – wenn ihr das ›Leben‹ nennt«, sagte Yvette.
Sogleich aber hatte sie ein schlechtes Gewissen. Schließlich war es doch wirklich wundervoll, beinahe neunzig Jahre alt und dabei so klaren Geistes zu sein! Und dann tat Großmuttchen, wenn man es recht bedachte, niemals Irgendwem etwas zuleide. Es lag mehr daran, daß sie im Wege war. Und eigentlich war es doch wohl recht häßlich, einen Menschen nur deshalb zu hassen, weil er alt und im Wege war.
Yvette also bereute sogleich und war nett. Großmuttchen blühte auf und schwelgte in Erinnerungen an die Zeit, da sie noch ein kleines Mädchen war, in einem Städtchen in Buckinghamshire. Sie schwatzte und schwatzte und wußte ihre Hörer so zu unterhalten–! Ja, sie war eigentlich doch wirklich wundervoll.
Nachmittags kamen dann Lottie und Ella und Bob Framley mit Leo Wetherell.
»Oh, kommt herein!« – und dann ging der ganze Schwarm ins Wohnzimmer, wo Großmuttchen mit ihrem weißen Häubchen beim Feuer saß.
»Großmuttchen, darf ich dir Mr. Wetherell vorstellen?«
»Mr. –, wie war Ihr Name? Sie dürfen mir nicht böse sein, ich höre ein bißchen schwer.«
Großmuttchen gab dem jungen Manne, dem unbehaglich zumute war, die Hand und starrte ihn stumm, blicklos an. »Sie sind wohl nicht aus unserem Kirchspiel?« fragte sie.
»Aus Dinnington!« brüllte er.
»Wir möchten gern morgen einen Ausflug machen, nach Bonsall Head, in Leos Wagen. Wir können uns alle hineinquetschen«, sagte Ella leise zu den Anderen.
»Bonsall Head, haben Sie gesagt, nicht?« fragte Großmuttchen.
»Ja.«
Verblüfftes Schweigen.
»Im Wagen wollen Sie hinfahren, haben Sie gesagt, nicht?«
»Ja! in Mr. Wetherells Wagen.«
»Hoffentlich fährt er gut. Es ist eine gefährliche Straße.«
»Er fährt sehr gut!«
»Er fährt nicht gut?«
»Doch! Er fährt sehr gut!«
»Wenn ihr nach Bonsall Head fahrt, muß ich euch wohl eine Nachricht für Lady Louth mitgeben.«
Großmuttchen wußte diese elende Lady Louth jedesmal ins Gespräch zu bringen, wenn Besuch da war.
»Wir fahren aber die andere Strecke!« schrie Yvette.
»Welche Strecke denn?« fragte Großmuttchen. »Ihr müßt doch über Heanor fahren.«
Worauf sie, um mit Bob Framley zu reden, alle miteinander dasaßen wie die Stopfgänse und unbehaglich auf ihren Stühlen rückten.
Tante Cissie kam herein – und das Mädchen mit dem Tee. Nun erschien das unabänderliche und augenscheinlich für die Ewigkeit reichende Stück Bäckerkuchen auf dem Tische. Aber es kam auch eine Schüssel mit frischen kleinen Kuchen. Tante Cissie hatte tatsächlich zum Bäcker geschickt.
»Der Tee, Mater!«
Die alte Dame griff nach den Armlehnen ihres Sessels. Alle standen auf und blieben stehen, während sie, an Tante Cissies Arm, langsam und schwerfällig zu ihrem Platz am Tische ging.
Während sie Tee tranken, kam Lucille von ihrer Arbeit in der Stadt heim. Sie war ganz einfach erschöpft und hatte schwarze Schatten unter den Augen. Und sie schrie auf, als sie die ganze Gesellschaft versammelt sah.
Sobald das Durcheinander der Stimmen verstummt und wieder verlegenes Schweigen eingetreten war, sagte Großmuttchen:
»Du hast mir nie von Mr. Wetherell erzählt, nicht, Lucille?«
»Ich kanns wirklich nicht sagen«, antwortete Lucille.
»Nein, du hast mir bestimmt nicht von ihm erzählt. Ich habe den Namen nie gehört.«
Yvette nahm sich noch ein Stück Gebäck von der jetzt beinahe leeren Schüssel. Tante Cissie, die durch Yvettes ungreifbar schweifende und achtlose Art fast zum Wahnsinn getrieben wurde, fühlte, wie in ihrem Herzen wieder die grünen Flammen der Wut aufzüngelten. Sie nahm ihren Teller mit dem einen einzigen Stück Gebäck darauf, das sie sich gestattete, bot ihn Yvette an und fragte mit vergifteter Höflichkeit:
»Möchtest du nicht meines nehmen?«
»Oh, danke«, sagte Yvette und fuhr aus ihrer verärgerten Gedankenlosigkeit auf. Und sie nahm, achtlos wie immer, Tante Cissies Gebäck; um dann, mit nachträglichem Bedenken, hinzu zufügen: »Möchtest du's denn aber auch wirklich nicht selbst ...?«
Nun hatte sie zwei Stück Kuchen auf ihrem Teller. Lucille war geisterblaß geworden und neigte sich über ihre Teetasse. Tante Cissie hatte den grünen Blick giftiger Entsagung. Die Verlegenheit wurde zur Todesqual.
Großmuttchen aber, behäbigen Leibes thronend und völlig ahnungslos, sagte inmitten des Unwetters nur:
»Wenn ihr morgen nach Bonsall Head fahrt, Lucille, dann nimm doch, bitte, eine Nachricht von mir für Lady Louth mit.«
»Oh!« sagte Lucille und warf über den Tisch hinweg einen sonderbaren Blick auf die blinde alte Dame. Lady Louth war das überlieferte Prunkstück der Familie und wurde von Großmuttchen unweigerlich zur Bewirtung von Besuchern hervorgeholt. »Na schön.«
»Sie war vorige Woche wieder so sehr liebenswürdig. Sie hat mir durch ihren Chauffeur ein Kreuzworträtselbuch geschickt.«
»Aber du hast dich doch bei ihr bedankt«, schrie Yvette.
»Ich möchte ihr aber gern einen Brief schicken.«
»Den können wir ja in den Postkasten stecken«, schrie Lucille.
»Nein, nein. Ich möchte lieber, daß ihr ihn mitnehmt. Als Lady Louth mich das letzte Mal besuchte – –«
Das Jungvolk saß da wie ein Schwarm junger Fische, die lautlos an der Oberfläche des Wassers nach Luft schnappen; während Großmuttchen sich weiterhin über Lady Louth verbreitete. Mit Tante Cissie war, wie die Schwestern wohl wußten, noch immer nicht zu rechnen, da sie in einem wahren Krampf fast besinnungsloser Wut über die Geschichte mit dem Kuchen dasaß. Vielleicht betete sie auch, die arme Tante Cissie.
Es war eine Erlösung, als die Freunde schließlich aufbrachen. Nun aber waren auch die beiden Schwestern so weit, daß ihnen die wilde Wut aus den Augen sprang. Und da nun geschah es, daß Yvette bei einem Rundblick durchs Zimmer plötzlich den steinernen und unbezähmbaren Willen zur Macht erkannte, der in dem alten und scheinbar so mütterlichen Großmuttchen lebte. Da saß die alte Dame gewölbten Leibes in ihren Stuhl zurückgelehnt, unempfindlich; ihr gerötetes altes Gesicht mit den Hängebacken, ein wenig fleckig, trug jetzt kaum den Ausdruck der Bewußtheit und war doch unerbittlich: wie eine Maske, hinter der sich etwas Steinernes und Erbarmungsloses barg. Dieses Etwas war die unerschütterlich im Gleichgewicht bleibende Beharrungskraft ihrer haßerregenden Macht. Eine Minute noch, dann würde sie den Mund auftun, um Alles und Jedes über Leo Wetherell zu ermitteln. Jetzt, für den Augenblick, war sie wie eingeschlossen in einen Dämmerschlaf ihrer uralten Betagtheit. In einer Minute aber würde sie den Mund auftun, ihr Geist würde in einem Aufflackern wach werden; und mit ihrer unersättlichen Gier nach Leben, nach dem Leben Anderer, würde sie mit der Fragerei nach Allem und Jedem beginnen. Sie glich der alten Kröte, von deren Anblick Yvette einmal wie gebannt gewesen war: auf dem Rande des Bienenkorbes hatte das Tier gesessen, unmittelbar vor dem Flugloch, durch das die Bienen ins Freie kamen; und mit einem teufelhaft blitzschnellen Zuschnappen seiner beutelartigen Backen hatte es jede Biene gefangen, die herauskam, um in die Luft zu entschweben; eine nach der anderen hatte es verschlungen, als könnte es den ganzen Inhalt des Korbes in seinem alten, gewölbten, beutelartigen, runzeligen Bauche verschwinden lassen. So hatte es die Bienen verschluckt, die herauskamen, um in die Lenzluft zu entschweben, Jahr auf Jahr, Jahr auf Jahr, Generationen.
Der Gärtner aber, den Yvette herbeirief, geriet in Wut und tötete das Geschöpf mit einem Stein.
»Von mir aus magste ja gut gegen die Schnecken sein«, sagte er, als er mit dem Stein herbeikam. »Aber du sollst mir hier doch nicht das ganze Bienenvolk in deinen dicken Bauch runterschlucken.«