Читать книгу Der Zigeuner und die Jungfrau - D. H. Lawrence - Страница 7
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ОглавлениеEs gab einen furchtbaren Krach unten im Pfarrhaus, als die Geschichte mit Yvette und der ›Fensterstiftung‹ herauskam. Nach dem Kriege hatte Tante Cissie ihr ganzes Herz an den Plan gehängt, in der Kirche ein farbiges Glasfenster zum Andenken der Gefallenen aus dem Kirchspiel zu schaffen. Da aber die Gefallenen in der Mehrzahl Nonkonformisten gewesen waren, kam bei der Sache nichts weiter heraus als ein häßlicher kleiner Gedenkstein vor der wesleyischen Kapelle.
Tante Cissie ließ sich dadurch nicht entmutigen. Sie stickte, sie veranstaltete Wohltätigkeitsfeste, sie brachte es fertig, daß die Mädchen Liebhaberaufführungen veranstalteten – alles für ihr geliebtes Fenster. Yvette, der die Betätigung und das Sichzeigenkönnen bei der Sache ganz gut gefiel, übernahm die Aufführung des Schwankes ›Maria im Spiegel‹ und sammelte die Beträge ein, die bei der Abrechnung an die ›Fensterstiftung‹ zu zahlen waren. Jede der Schwestern hatte eine Geldbüchse, in der die Summen für die Fensterstiftung zu sein hatten.
Als Tante Cissie zu wissen meinte, daß die vereinigten Summen nun ungefähr genügen müßten, forderte sie plötzlich Yvettes Büchse an. Sie enthielt fünfzehn Schillinge. Es gab einen Augenblick grasgrünen Entsetzens.
»Und wo ist der ganze Rest?«
»Oh –!« sagte Yvette leichthin. »Das hab ich mir geliehen. Es war übrigens gar nicht so furchtbar viel.«
»Und die drei Pfund dreizehn für ›Maria im Spiegel‹?« fragte Tante Cissie mit einem Gesicht, als sähe sie in den gähnenden Schlund der Hölle.
»Die auch. Ich sage ja: geliehen. Ich kann es ja zurückzahlen, nicht?«
Arme Tante Cissie! Das grüne Krebsgeschwür des Hasses barst in ihr, und es gab einen ungewöhnlich widerwärtigen Auftritt. Hinterher zitterte Yvette vor Furcht und nervösem Abscheu.
Sogar der Pfarrer nahm den Fall einigermaßen ernst.
»Wenn du Geld brauchtest – weshalb hast du es mir dann nicht gesagt?« fragte er kalt. »Hab ich dir je einen vernünftigen Wunsch abgeschlagen?«
»Oh – ich dachte, es wäre nicht so wichtig«, stotterte Yvette.
»Und was hast du mit dem Gelde gemacht?«
»Ausgegeben, glaub ich«, sagte Yvette mit weit offenen Augen. Sie sah zerstreut aus, ihr Gesicht war blaß.
»Ausgegeben – wofür?«
»Ich kann mich nicht so genau erinnern – Strümpfe – und so was. Etwas hab ich auch verschenkt.«
Arme Yvette! Schon mußte sie es erleben, daß ihre hochmütige Miene und Art sich gegen sie selbst kehrte. Der Pfarrer war ärgerlich: sein Gesicht hatte einen mürrischen bissigen Ausdruck – etwas wie Hohn lag darin. Er begann zu fürchten, daß bei seiner Tochter jetzt einige von den bösen und verderbten Eigenschaften der entschwundenen Cynthia zum Vorschein kommen würden.
»Das macht dir wohl Spaß, die Großartige zu spielen – mit dem Geld anderer Leute, was?« sagte er höhnisch; und es war ein kalter, häßlicher Hohn, der bewies, daß der Pfarrer keine Spur von Glauben hatte in seinem Herzen. Es war die Niedrigkeit eines leeren Herzens, in dem nichts von der Wärme des Glaubens zu spüren ist, nichts von Stolz auf die eigene lebendige Kraft. Er glaubte nicht an Yvette – keinen Augenblick glaubte er an sie.
Yvette wurde blaß und war mit einem Male sehr ferngerückt. Ihr Stolz, die zarte, kostbare Flamme, die Alle in ihr zu löschen trachteten, wich zurück, als hätte ein kalter Wind sie weit hinweggeführt, ja, als hätte er sie ausgelöscht; ihr Gesicht, das nun bleich und still war wie eine Schneeblume, wie das weiße Schneeglöckchen, das er sich erfunden hatte, schien nun ganz ohne Leben; nur diese völlige, seltsame Abgeschiedenheit war darin.
»Er hat keinen Glauben an mich!« dachte sie in ihrer Seele. »Ich bedeute ihm nichts, gar nichts. Ich bin weiter nichts als ein schändliches Geschöpf. Alles ist schändlich, alles, alles!«
Wäre er jetzt erregt, ja in flammender Wut gewesen, so wäre sie vielleicht zusammengebrochen, vielleicht auch selbst in Wut geraten; aber sie hätte sich nicht so erniedrigt gefühlt wie durch diesen Unglauben, wie durch die Erkenntnis, daß er in einem solchen Augenblick nur Hohn für sie hatte.
Das Schweigen ängstigte ihn ein wenig; man kam ins Denken, und das war unheimlich. Er brauchte wenigstens den Anschein von Liebe und Glauben und lebendiger Freudigkeit; nie hätte er gewagt, dem gemästeten Drachen seines eigenen Unglaubens, der sich in seinem Herzen regte, ins Auge zu sehen.
»Was hast du zu deiner Entschuldigung zu sagen?« fragte er.
Sie aber sah ihn nur an, mit ihrem wie erstorbenen schneeblumenblassen Gesicht, das ihn ängstigte und mit einem machtlosen Schuldbewußtsein quälte. Auch jene Andere, ›sie, die einst Cynthia war‹, hatte ihn mit dieser starren schneeblassen Angst angesehen, Angst vor seinem erniedrigenden Unglauben, vor dem Wurm, der in seinem Herzen wohnte. Ja, er wußte, daß in seinem Herzen nichts weiter wohnte als dieser gemästete scheußliche Wurm. Und immer ängstigte ihn der Gedanke, daß auch ein Anderer es merken möchte. Deshalb richtete sich sein angstvoller Haß gegen Jeden, der es erkannte und davor zurückwich.
Er sah, daß Yvette zurückwich, und sogleich wandelte sich sein Wesen. Er schlüpfte wieder in die Maske des weltläufigen, immer gutgelaunten alten Spötters.
»Na schön«, sagte er. »Du mußt es eben zurückzahlen, verehrte Tochter, und damit holla. Ich will dir die Summe auf dein Taschengeld vorschießen. Aber ich werde dir vier Prozent Monatszinsen berechnen. Sogar der Teufel persönlich muß seine Schulden verzinsen. Und wenn es mal wieder vorkommt, daß dir die Pferde durchgehen, dann vergreif dich nicht an Geld, das dir nicht gehört. Unehrenhaftigkeit steht nicht gut zu Gesicht.«
Auch jetzt noch fühlte Yvette sich zermalmt, geschändet, erniedrigt. Sie schlich durchs Haus, und ihr Stolz ließ die zerzausten Flügel hängen. Ja, sie verstand sich selbst nicht mehr. Oh, warum nur hatte sie das schmutzige Geld angerührt! Sie spürte einen zuckenden Schauder wie von einer körperlichen Besudelung. Warum nur war das so? Warum, warum war das so?
Sie gestand sich ein, daß es unrecht von ihr gewesen war, das Geld auszugeben. ›Natürlich hätte ich es nicht tun sollen. Sie haben ganz recht, wenn sie sich darüber aufregen‹, sagte sie sich.
Woher aber kam dieser furchtbare zuckende körperliche Schauder? Warum war ihr zumute, als hätte etwas mit widerlicher Ansteckung ihre Haut berührt?
»Was ich so schrecklich dumm von dir finde,« sagte Lucille in ihrer Strafpredigt (die arme Lucille ärgerte sich sehr), »ist, daß du dich ihnen allen so richtig ausgeliefert hast. Du hättest doch wissen müssen, daß sie es herauskriegen würden! Ich hätte das Geld für dich aufgetrieben, und dann wäre uns der ganze Krach erspart geblieben! Es ist ganz einfach scheußlich! Daß du dir auch niemals vorher klarmachst, wie sehr du dich in die Patsche bringen kannst! Man muß sich nur mal vorstellen, was Tante Cissie dir da für Sachen gesagt hat! Scheußlich! Was hätte Mama wohl gesagt, wenn sie das hätte mit anhören müssen?«
Wenn es ihnen in irgendeiner Hinsicht sehr schlimm erging, dachten sie an ihre Mutter und verachteten ihren Vater und die ganze minderwertige Sippe der Saywells. Ihre Mutter hatte natürlich einer höheren, wenn auch gefährlicheren und ›verderbten‹ Welt angehört. Sicherlich auch einer selbstsüchtigeren. Aber einer Welt, in der man mehr Sinn für Glanz und Anmut hatte. In der man bedenkenloser und leichter zur Verachtung geneigt war: in der es aber nicht solche Demütigungen gab.
Yvette war von jeher der Meinung gewesen, daß sie ihre zarte Haut und die Schlankheit ihres Körpers von der Mutter geerbt habe. Die Saywells sahen alle ein bißchen wie Leder aus und waren alle irgendwo ein bißchen wurmstichig. Freilich – die Saywells ließen Einen nicht im Stich. ›Sie, die einst Cynthia war‹ dagegen, die Schöne, die Feine, hatte den Pfarrer mir nichts, dir nichts im Stich gelassen, und mit ihm seine kleinen Kinder. Ihre kleinen Kinder! Das konnten sie ihr niemals ganz verzeihen.
Nach der großen Auseinandersetzung begann Yvette, undeutlich noch, ihre anders geartete Reinheit und Unberührbarkeit zu begreifen – die Unberührbarkeit ihres feinnervigen und edlen Fleisches und Blutes, die von den Saywells mit ihrer sogenannten Sittlichkeit besudelt werden sollte. Immer trachteten sie danach, sie zu besudeln. Sie waren die Ungläubigen, die nicht an das Leben glaubten. ›Sie, die einst Cynthia war‹ dagegen hatte vielleicht nur an die landläufige Sittlichkeit nicht geglaubt.
Yvette ging betäubt und blaß und verwirrt durchs Haus. Der Pfarrer gab Tante Cissie das Geld, sehr zum Ärger dieser würdigen Dame. Das Krebsgeschwür ihrer ohnmächtigen Wut eiterte noch immer. Am liebsten hätte sie die Untat ihrer Nichte gedruckt im Kirchspielblatt gelesen. Es war für das zerstörte alte Mädchen ein wahrer Schmerz, daß sie die Geschichte nicht aller Welt mitteilen konnte. Die Selbstsucht! Die Selbstsucht! Die Selbstsucht!
Dann überreichte der Pfarrer seiner Tochter eine kleine Rechnungsaufstellung: Das Geld, das sie ihm schuldete, zuzüglich Zinsen, war gegen ihr kleines Taschengeld aufgerechnet. Aber er hatte ihr eine Guinee gutgeschrieben: das war der Betrag, den er selbst für seine Mitschuld zu zahlen hatte.
»Als Vater der Verbrecherin«, sagte er wohlgelaunt, »werde ich zu einer Geldstrafe von einer Guinee verurteilt. Und damit wasche ich mir nun die Asche wieder aus dem Haar.«
In Gelddingen war er immer großzügig. Aber es war ihm zuzutrauen, daß er sich überhaupt für hochherzig glaubte halten zu dürfen, wenn er freigebig mit Geld war. Während ihm in Wahrheit das Geld und sogar seine Großmut nur ein Mittel war, sie unter seiner Fuchtel zu halten.
Aber er ließ die Sache völlig fallen. Er war, wenn man aus seiner Miene schließen durfte, damals eher belustigt als beunruhigt. Er hielt sich damals noch für sicher.
Tante Cissie dagegen wurde mit ihrer krampfigen Wut nicht so leicht fertig. Eines Abends war Yvette ziemlich früh und in elender Stimmung zu Bett gegangen und lag wach, eine kranke, schmerzende Schwäche in allen Gliedern, ein Gefühl von Dumpfheit und Besudeltsein. Lucille hatte eine Abendeinladung. Plötzlich öffnete sich leise die Tür; da stand Tante Cissie und schob ihr graugrünes Gesicht durch den Türspalt. Yvette fuhr entsetzt auf.
»Lügnerin! Diebin! Selbstsüchtiges kleines Biest!« zischte das wahnsinnige Gesicht, das zu Tante Cissie gehörte.»Du kleine Heuchlerin! Du Lügnerin! Du selbstsüchtiges Biest! Du gieriges kleines Biest!«
Die graugrüne Maske und die wahnwitzigen Worte flammten von einem so schrankenlosen und unpersönlichen Haß, daß Yvette den Mund auftat, um vor wahnsinniger Angst zu schreien. Aber Tante Cissie machte die Tür ebenso plötzlich wieder zu, wie sie sie geöffnet hatte, und verschwand. Yvette sprang aus dem Bett und drehte den Schlüssel um. Dann kroch sie wieder unter die Decke, halb von Sinnen vor Angst vor diesem widernatürlichen und schmutzigen Haß, halb betäubt von dem lähmenden Gefühl verletzten Stolzes. Und mitten in alledem stieg, wie eine Blase, eine kitzelnde wahnsinnige Lachlust auf. Das alles war von einer so hundsgemeinen Lächerlichkeit!
Yvette fühlte sich durch Tante Cissies Benehmen gar nicht einmal so sehr getroffen. Das alles war doch eigentlich ein bißchen überspannt. Und doch war sie getroffen – in ihren Gliedern, in ihrem Körper, in ihrem Geschlecht; ja, getroffen. Getroffen, betäubt und halb zerstört, nun ihre Nerven zitterten und schrillten. Und da sie noch so jung war, vermochte sie nicht zu begreifen, was vorging.
Da lag sie nun und wünschte, sie wäre eine Zigeunerin. Das hieß: in einem Lager leben, in einem Wohnwagen, nie ein Haus betreten, nichts vom Vorhandensein eines Kirchspiels wissen, nie eine Kirche auch nur ansehen. Ihr Herz wurde hart vor Widerwillen gegen das Pfarrhaus. Sie haßte diese Häuser mit ihren eingebauten ›gesundheitlichen Einrichtungen‹, ihren Badezimmern und ihrer unübertrefflichen Widerlichkeit. Sie haßte das Pfarrhaus und alles, was darin war. Wie ekelerregend war dieses ganze stockige, kanalisierte Dahinleben, in dem die Kanalisation nie erwähnt wurde, in dem man aber ihren Geruch aus den Tiefen des Hauses bis zu allen zweibeinigen Bewohnern, von der Mater bis zu den Dienstboten zu spüren meinte! Mochten die Zigeuner keine Badezimmer haben – sie hatten wenigstens keine Kanalisation. Bei ihnen gab es frische Luft. Am Pfarrhaus gab es niemals frische Luft. Und in den Seelen der Menschen stockte die Luft, bis sie stank.
Haß entbrannte in ihrem Herzen, indessen sie mit tauben Gliedern dalag. Und sie dachte an die Worte der Zigeunerin: »Ich sehe einen Mann mit schwarzem Haar, der nie gewohnt hat in einem Hause. Er liebt Sie. Die anderen Leute treten mit Füßen auf Ihr Herz. Sie werden treten mit Füßen auf Ihr Herz, bis Sie glauben, es ist tot. Aber der Mann mit schwarzem Haar wird wieder anblasen den letzten Funken, bis er Feuer ist – gutes Feuer. Sie werden sehen, was für gutes Feuer.«
Noch während die Frau redete, fühlte Yvette, daß da irgendwo eine verborgene Absicht lauerte. Aber sie machte sich nichts daraus. Mit dem kalten, schneidenden Haß eines Kindes haßte sie das Pfarrhaus mit allem, was darin war, haßte die ganze Fäulnis gestockten Lebens. Sie liebte das große, schwarzhaarige, wolfhafte Zigeunerweib mit den großen goldenen Ohrringen, dem hellroten Tuch über dem welligen schwarzen Haar, dem enganliegenden Mieder aus braunem Samt, dem grünen fächerartig sich ausbreitenden Rock. Sie liebte ihre braunen, starken, unbarmherzigen Hände, die sich so fest, Wolfsklauen gleich, in Yvettes weiche Handfläche gepreßt hatten. Sie liebte die Zigeunerin. Sie liebte ihre Gefährlichkeit und ihre im geheimen bereite Furchtlosigkeit. Sie liebte ihre im verborgenen lauernde, rücksichtslos fordernde Geschlechtskraft, die nach landläufigen Begriffen unsittlich war, aber ihren ganz eigenen harten trotzigen Stolz hatte. Keine Macht der Welt würde je diese Frau bezähmen. Sie würde das Pfarrhaus und seine Sittlichkeitsbegriffe maßlos verachten. Sie würde Großmuttchen mit einer Hand erdrosseln. Und mit derselben Verachtung, die sie für Rover, den fetten alten sabbernden Neufundländer hätte, würde sie auch auf Papa und Onkel Fred als Männer herabsehen. Eine große bittere Verachtung würde sie in ihrer weiblichen Kraft für solche Haushunde haben, die sich Männer nannten.
Und dann der Zigeuner – Yvette erschauerte plötzlich, als hätte sie den Blick seiner großen kühnen Augen mit seiner unverhüllten Begierde gespürt. Diese völlig unverhüllte Begierde lähmte sie so, daß sie flach in den Kissen lag, als hätte ein Betäubungsmittel sie aufgelöst und ganz verwandelt.
Sie hat niemals Irgendwem gestanden, daß zwei Pfund aus der unseligen ›Fensterstiftung‹ in die Tasche der Zigeunerin gewandert waren. »Wenn Papa und Tante Cissie das erst wüßten–!« dachte Yvette und reckte sich lustvoll in den Kissen. Der Gedanke an den Zigeuner hatte das Leben in ihren Gliedern aus der Starre erlöst und in ihrem Herzen den Haß gegen das Pfarrhaus Gestalt werden lassen: so daß sie nun Kraft in sich spürte statt Ohnmacht. Als Lucille heimkam und von Tante Cissies dramatischer Einlage in der Schlafzimmertür erfuhr, war sie empört. »Ach, hol sie der Henker!« rief sie. »Jetzt könnte sie doch endlich mal damit aufhören! Ich denke, wir haben nun allmählich genug davon gehört! Guter Gott, man sollte tatsächlich glauben, Tante Cissie wäre ein weißgewaschenes Engelchen! Papa hat die Geschichte begraben, und wenn sie überhaupt Irgendwen angeht, dann geht sie doch wohl schließlich ihn an! Soll Tante Cissie doch den Schnabel halten!«
Gerade dies aber war die Ursache, die Tante Cissies Galle in giftigem Fluß erhielt: daß der Pfarrer die Geschichte begraben hatte und die ungreifbar schweifende und achtlose Yvette wieder so behandelte, als wäre sie ein mit besonderen Vorrechten ausgestattetes Wesen. Die Tatsache, daß Yvette wirklich die Gefühle Anderer meistens gar nicht bemerkte und sich, da sie sie nicht bemerkte, auch nicht darum kümmern konnte, trieb Tante Cissie fast zur Raserei. Sie sah nicht ein, weshalb dieses junge Geschöpf, Tochter einer verworfenen Mutter, auch noch Vorrechte genießen sollte und das Vorhandensein anderer Leute einfach übersehen durfte, selbst wenn sie ihm unmittelbar unter der Nase lebten.
Lucille war damals sehr reizbar. Man hatte den Eindruck, daß ihre Nerven richtig ein bißchen aus dem Gleichgewicht gerieten, sobald sie das Pfarrhaus betrat. Die arme Lucille; sie war so gewissenhaft und nahm jede Kleinigkeit so schwer! Sie bürdete sich sämtliche besonderen Scherereien auf, sie sorgte für Ärzte, Arzneien, Dienstboten und alles, was es sonst so gab. Sie schuftete pflichtgetreu jeden Tag in der Stadt ihre Arbeitsstunden herunter und arbeitete von zehn bis fünf in einem Zimmer bei künstlichem Licht. Und dann kam sie heim – nur um sich die Nerven durch Großmuttchens fürchterliche und beharrliche Wißbegier und schmarotzerhafte Altersgewohnheiten beinahe bis zum Wahnsinn zerfetzen zu lassen.
Der Sturm um die ›Fensterstiftung‹ hatte offenbar ausgetobt, aber es blieb eine dumpfe Spannung in der Luft des Hauses. Das schlechte Wetter dauerte an. Lucille blieb an ihrem freien Nachmittag zu Hause, aber sie hatte nicht viel davon. Der Pfarrer war in seinem Studierzimmer, Großmuttchen schlief auf dem Sofa. Die Schwestern schneiderten gemeinsam ein Kleid für Yvette.
Es war ein Kleid aus französischem Seidensamt, und man sah schon, daß es sehr hübsch werden würde. Auf Lucilles Verlangen mußte Yvette es noch einmal anproben: denn Lucille konnte sich über den Sitz unter den Armen durchaus noch nicht beruhigen.
»Immer diese Aufregung!« rief Yvette und reckte ihre langen schlanken kindhaften Arme, die bei Kälte dazu neigten, bläulich anzulaufen. »Sei doch nicht so gräßlich püttjerig, Lucille! Es sitzt doch ausgezeichnet.«
»Na, wenn das der ganze Dank dafür ist, daß ich meinen freien Nachmittag hier bei der Schneiderei für dich versitze, dann könnte ich ebensogut was für mich selber tun.«
»Du weißt ganz genau, daß ich dich nicht darum gebeten habe! Aber du mußt ja immer und überall die Aufsicht führen, sonst hältst du's nicht aus«, sagte Yvette in ihrer aufreizend freundlichen Art, hob die nackten Ellbogen und besah sich über die Schulter hinweg im Stehspiegel.
»Das stimmt! Gebeten hast du mich nie!« sagte Lucille heftig. »Als ob ich nicht ganz genau wüßte, was dahintersteckt, wenn du mit der Stöhnerei und dem Gezappel anfängst!« »Ich –?« sagte Yvette mit gedankenloser Verwunderung. »Wieso? Wann hab ich denn gestöhnt und gezappelt?«
»Du weißt ganz genau, daß du's getan hast.«
»Tatsächlich –? Nein, ich weiß es wirklich nicht! Wann war denn das?« Yvette verstand es, ihren sanften, ziellos abschweifenden Fragen einen Klang zu geben, der regelrecht aufreizend wirkte.
»Also ich mache nicht einen einzigen Stich mehr an deinem Kleid, wenn du nicht stillstehst und aufhörst«, sagte Lucille; ihre Stimme klang jetzt tief, und man spürte die schwellende Erregung.
»Hör mal, du bist doch eigentlich ganz schrecklich nörglerisch und empfindlich, Lucille«, sagte Yvette und trat von einem Fuß auf den anderen, als würde ihr der Boden zu heiß.
»Schluß jetzt, Yvette!« schrie Lucille, und ihre Augen schossen plötzlich wilde Blitze. »Sofort Schluß, sag ich dir! Ich möchte wirklich mal wissen, wer sich eigentlich deine scheußlichen und rücksichtslosen Launen gefallen lassen soll!«
»Ich habe an mir noch nichts von Launen bemerkt«, sagte Yvette, indessen sie sich langsam dem halbfertigen Kleide entwand und wieder in ihr altes Kleid schlüpfte.
Dann setzte sie sich an den Tisch und begann im trüben Nachmittagslicht an dem blauen Stoff zu nähen; ihr Gesicht sah, wie immer nach solchen Auseinandersetzungen, ein bißchen trotzig aus. Blaue Stoffschnitzel lagen überall im Zimmer umher, die Schere war zu Boden gefallen, der Inhalt des Nähkorbes war über den ganzen Tisch verstreut, und ein zweiter Spiegel stand, bedrohlich nahe am Abgrund, auf dem Klavier.
Großmuttchen hatte auf dem breiten, weichen Sofa in jenem Halbschlummer gelegen, den man ›Drusseln‹ nennt. Jetzt richtete sie sich auf und rückte ihr Häubchen zurecht.
»Dabei soll man nun in Frieden ein bißchen schlafen können«, sagte sie und betastete langsam ihr dünnes, weißes Haar, um sich zu überzeugen, ob es in Ordnung war. Sie hatte unbestimmte Geräusche gehört.
Tante Cissie kam herein und suchte in einem Beutel nach Schokolade.
»In meinem Leben hab ich nicht so eine Wirtschaft gesehen!« sagte sie. »Es wäre ganz angebracht, wenn du hier mal ein bißchen aufräumen würdest, Yvette.«
»Wird gemacht«, sagte Yvette. »In einer Minute.«
»Was so viel heißt wie: überhaupt nicht«, höhnte Tante Cissie, um plötzlich mit einem Satz heranzuschießen und die Schere vom Boden aufzunehmen.
Ein paar Sekunden herrschte Schweigen; Lucille, die jetzt in einem Buche las, schob langsam die Hände ins Haar. »Ich fände es angebracht, wenn du aufräumen würdest, Yvette«, sagte Tante Cissie beharrlich.
»Ich sage doch: ja. Vor dem Tee«, antwortete Yvette; sie erhob sich wieder, zog das blaue Kleid über den Kopf und steckte die langen nackten Arme durch die ärmellosen Achsellöcher. Dann stellte sie sich zwischen die beiden Spiegel, um sich abermals zu betrachten.
Dabei stieß sie gegen den zweiten Spiegel, den sie achtlos auf das Klavier gestellt hatte; er fiel klirrend zu Boden. Glücklicherweise zerbrach er nicht. Aber es gab für alle einen bösen Schreck.
»Sie hat den Spiegel kaputt gemacht!« schrie Tante Cissie.
»Spiegel kaputt gemacht? Welchen Spiegel? Wer hat ihn kaputt gemacht?« tönte Großmuttchens scharfe Stimme.
»Gar nichts hab ich kaputt gemacht«, tönte Yvettes gelassene Stimme. »Er ist ja heil geblieben.«
»Stell ihn lieber nicht wieder da oben hin«, sagte Lucille.
Yvette, mit einem kleinen ungeduldigen Achselzucken über so viel aufgeregtes Getue, versuchte den Spiegel an einem anderen Platze unterzubringen. Aber es gelang ihr nicht.
»Wenn man ein Feuer in seinem eigenen Zimmer hätte,« sagte sie verdrießlich, »dann brauchten sich nicht immer so viele Leute aufzuregen, wenn man mal was nähen will.«
»Mit was für einem Spiegel ziehst du da umher?« fragte Großmuttchen.
»Mit einem von unseren eigenen, die wir aus dem Vikarshause mitgebracht haben«, sagte Yvette grob.
»Dann mach ihn, bitte, nicht hier im Hause kaputt, ganz gleich, woher er stammt«, sagte Großmuttchen.
Es bestand eine Art von Familienacht über die Gegenstände die ›sie, die einst Cythia war‹ besessen hatte. Sie wurden zumeist in die Küche und in die Schlafzimmer der Dienstboten abgeschoben.
»Oh« sagte Yvette, »ich bin nicht abergläubisch, weder mit Spiegeln noch mit sonst was.«
»Das wundert mich nicht«, sagte Großmuttchen. »Wer sich nicht für seine eigenen Handlungen verantwortlich fühlt, dem ist es meistens gleichgültig, was geschieht.«
»Na,« sagte Yvette, »kaputt gemacht oder nicht – schließlich war es doch wohl mein Spiegel, nicht? So viel sag ich nur.«
»Und ich«, sagte Großmuttchen, »sage nur so viel, daß hier im Hause überhaupt keine Spiegel kaputt gemacht werden sollen, so lange ichs verhindern kann; ganz gleich, wem sie gehören oder gehört haben. Cissie, sitzt meine Haube grade?«
Tante Cissie ging hin und rückte der alten Dame das Häubchen zurecht. Yvette trällerte laut und aufreizend eine unmelodische Melodie.
»Und nun räumst du wohl endlich auf, was, Yvette?« sagte Tante Cissie.
»Verflixt nochmal!« schrie Yvette ärgerlich. »Es ist einfach scheußlich, sich immer mit Leuten herumärgern zu müssen, die einem fortwährend mit Kleinkram schikanieren.«
»Darf ich fragen, von was für ›Leuten‹ du redest?« fragte Großmuttchen in unheildrohendem Ton.
Ein neuer Streit lag in der Luft. Lucille hob den Kopf und sah Yvette an, mit einem sonderbaren Blick. ›Sie, die einst Cynthia war‹ erwachte im Blut der Schwestern.
»Natürlich darfst du fragen! Du weißt ganz genau, daß ich die Leute in diesem verdammten Hause meine«, sagte die rasende Yvette.
»Wir,« sagte Großmuttchen, »wir können wenigstens von uns sagen, daß wir nicht aus einer halb verkommenen Familie stammen.«
Es gab eine kurze elektrisch geladene Pause. Dann sprang Lucille von ihrem niedrigen Sitz auf, funkensprühend vor Wut.
»Du hältst den Mund!« schrie sie. Der Schlag fuhr mit voller Wucht auf die etwas zerfranste Majestät der alten Dame nieder.
Großmuttchens Busen begann heftig zu wogen – wer weiß, was für Erregungen darin tobten. Diesmal gab es ein eisiges Schweigen, wie nach einem Donnerschlag.
Dann sprang Tante Cissie, leichenfahl, eine Furie, auf Lucille zu und stieß sie vor sich her.
»Geh auf dein Zimmer!« schrie sie heiser. »Geh auf dein Zimmer!«
Und sie knuffte die bleiche Lucille, deren Augen Feuer sprühten, aus dem Zimmer, Lucille ließ es ohne Widerrede geschehen. Tante Cissies Stimme gellte:
»Du bleibst auf deinem Zimmer, bis du um Verzeihung gebeten hast! – bis du die Mater um Verzeihung gebeten hast!«
»Ich bitte nicht um Verzeihung«, tönte Lucilles klare Stimme aus dem Treppenhaus, indessen Tante Cissie sie noch immer vor sich herknuffte.
Und Tante Cissie trieb sie mit noch wilderer Kraft nach oben.
Yvette stand hochaufgeschossen und nachdenklich im Wohnzimmer, mit der Miene gekränkter Würde, aber, wie es ihre seltsame Art war, zugleich nachdenklich. Sie trug noch immer das halbfertige Kleid, aus dem die nackten Arme hervorsahen. Und auch sie war halb betäubt vor Staunen über Lucilles Angriff auf die Majestät des Alters. Aber sie war auch voll kalter Empörung über die Art, wie die Mater das mütterliche Blut in ihren Adern beschimpft hatte.
»Ich habe natürlich Niemanden beleidigen wollen«, sagte Großmuttchen.
»Nein –?« sagte Yvette kühl.
»Natürlich nicht. Ich habe nur sagen wollen: man braucht noch nicht heruntergekommen zu sein, wenn man glaubt, daß ein zerbrochener Spiegel Unglück bedeutet.«
Yvette traute kaum ihren Ohren. Hatte sie recht gehört? War es möglich? Oder hatte Großmuttchen ihr ehrwürdiges Alter durch eine nackte Lüge geschändet?
Yvette wußte, daß die alte Dame kaltblütig eine glatte Lüge aussprach. Aber sie wußte auch, daß Großmuttchen die eigene Behauptung in dem Augenblick, da sie gesagt war, auch schon glaubte.
Der Pfarrer hatte erst einmal gewartet, bis die Gemüter sich ein bißchen beruhigt haben würden. Jetzt erschien er.
»Was ist denn los?« fragte er vorsichtig und munteren Tones.
»Ach, nichts!« sagte Yvette unlustig. »Großmuttchen sagte was, und da hat Lucille ihr gesagt, sie soll den Mund halten. Und dann hat Tante Cissie sie nach oben in ihr Zimmer geschubst. Tant de bruit pour une Omelette!
Allerdings ist Lucille diesmal doch wohl ein bißchen zu weit gegangen, glaub ich.«
Die alte Dame hatte nur zum Teil verstehen können, was Yvette sagte.
»Lucille muß wirklich lernen, ihre Nerven zu beherrschen«, ließ sie sich vernehmen. »Der Spiegel fiel hin, und darüber ärgerte ich mich. Das sagte ich Yvette, und da sagte sie was von Aberglauben und von den Leuten in diesem verdammten Hause. Ich meinte, die Leute hier im Hause wären noch nicht heruntergekommen, bloß weil es ihnen nicht einerlei ist, wenn ein Spiegel kaputt geht. Na, und da sprang Lucille mir ins Gesicht und sagte, ich soll den Mund halten. Es ist wirklich eine Schande, wie die Kinder ihren Nerven die Zügel schießen lassen. Ich weiß natürlich, daß es nur die Nerven sind.«
Inzwischen war Tante Cissie hereingekommen. Zunächst war sogar sie stumm. Dann aber kam sie zu der Ansicht, daß Großmuttchens Darstellung stimmte.
»Ich habe ihr gesagt, daß sie nicht eher wieder herunterkommen darf, als bis sie die Mater um Verzeihung bittet«, sagte sie.
»Ich bezweifle, daß sie um Verzeihung bittet«, meinte Yvette kühl und hochmütig und streckte die nackten Arme in die Luft.
»Das soll sie auch gar nicht«, sagte die alte Dame. »Es sind ja nur die Nerven. Aber was soll nur aus den Kindern werden, wenn sie es in ihren jungen Jahren schon so mit den Nerven haben! Ich glaube, Lucille muß Vibrofat nehmen. – Und nun will Arthur gewiß gern seinen Tee haben, Cissie.«
Yvette fegte ihre Näharbeit zusammen, um nach oben zu gehen. Dabei trällerte sie wieder ihre Melodie, ziemlich schrill und unmelodisch. Aber im geheimen bebte sie vor Wut.
»Schon wieder eine Festfahne!« sagte der Pfarrer heiter.
»Schon wieder eine Festfahne!« wiederholte sie friedfertig und schlenderte nach oben, ihr Alltagskleid über dem Arm. Sie wollte Lucille trösten und sie fragen, wie das blaue Kleid jetzt saß.
Auf dem ersten Treppenabsatz blieb sie, wie sie es fast immer tat, stehen, um durch das Fenster zur Landstraße und zur Brücke hinüberzusehen. Es ging ihr wie Tennysons Lady von Shalott – ihr war immer zumute, als müßte Jemand am Ufer daherkommen und ›trali-trala‹ singen – oder etwas ähnlich Gescheites.